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5. Massenmord an den polnischen Juden

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Neben den bisher dargestellten Einsätzen waren Verbände der Waffen-SS im besetzten Polen an umfangreichen Mordaktionen beteiligt. Die in dem fünfzehn Kilometer nördlich von Lodsch gelegenen Ort Lucmierz stationierte 9. SS-(Ersatz-)Schwadron führte über einen Zeitraum von Herbst 1939 bis zu ihrer Verlegung im Februar 1941 vor Ort kontinuierlich Massenerschießungen aus. Bereits am 25. September war die Einheit, zu dieser Zeit noch unter der Bezeichnung 4. Schwadron, in der Gegend eingetroffen und hatte auf Befehl der Ordnungspolizei begonnen, die umliegenden Wälder zu durchsuchen.100 Daneben fiel der Schwadron bald eine zusätzliche Aufgabe zu. In einem Tätigkeitsbericht vom November 1939 ist vermerkt, daß zum Aufgabengebiet der 4. Schwadron in Lucmierz auch die „Durchführung der in regelmäßigen Abständen vom Gericht in Lodsch verhängten Exekutionen“ gehöre. In anderen Berichten wurde außerdem festgehalten, der Verband habe „Sonderaufträge im Zusammenhang mit der Gestapo laufend erledigt“.101

Opfer der angedeuteten Massentötungen waren Juden und christliche Polen aus Lodsch, die Gestapo oder Ordnungspolizei nach Lucmierz transportierten, wo sie von Angehörigen der SS-Einheit erschossen wurden. Im Zuge der staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen die Kommandeure der Einheit beschrieb der ehemalige SS-Reiter Rudolf L. ausführlich eine solche Erschießung. Er schilderte, wie er mit einer Gruppe SS-Männer morgens die Unterkunft verließ und in den Wald marschierte, bis der Trupp zu einer bereits ausgehobenen Grube gelangte. Nach kurzer Zeit traf ein Lastwagen ein, von dessen Ladefläche etwa dreißig männliche Juden zur Grube getrieben wurden. Der Zeuge, der die Juden anhand der auf der Kleidung angebrachten Davidsterne eindeutig zuordnen konnte, gab an, lediglich zur Bewachung eingeteilt gewesen zu sein, während die jüdischen Männer von den zum Erschießungskommando eingeteilten SS-Soldaten am Rand der Grube ermordet wurden.102 Bereits in den ersten Wochen muß die Schwadron auf diese Weise eine Vielzahl von Erschießungen vorgenommen haben. Heinz F., der ab Januar 1940 in Lucmierz stationiert war, entdeckte bei Spaziergängen im Wald in der Nähe der Unterkunft sechs oder sieben etwa zehn mal vier Meter große Hügel. Auf Nachfragen informierten ‚Kameraden‘ den SS-Mann über die bereits stattgefundenen Erschießungen: „Wie ich weiter erfuhr“, so F., „handelte es sich um Massengräber, wo vor meinem Eintreffen Polen und Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt erschossen worden waren. Die Opfer sollen von der Polizei dorthin gebracht und von den Angehörigen der SS-Kavallerie, die in Lucmierz stationiert waren, erschossen worden sein.“103

Bestätigt wurden die Angaben durch eine Vielzahl von Schilderungen polnischer Zeugen, die in den sechziger Jahren von Untersuchungskommissionen in Polen befragt wurden. Demnach fuhren ab etwa Oktober 1939 häufig aus Richtung Lodsch kommende Lastwagen mit heruntergelassenen Planen in den Lucmierzer Forst. Bei Erscheinen der Lkw gingen bewaffnete Trupps der Schwadron in wechselnder Größe von etwa zehn bis dreißig SS-Männern aus ihren Unterkünften in den Wald. Kurz darauf seien in dem abgesperrten Gebiet dann immer Schüsse zu hören gewesen.104 Der Pole Jan J., der selbst deutsch sprach, hörte im Anschluß an eine im Oktober 1939 vorgenommene Erschießung, wie die Deutschen sich darüber unterhielten, daß gerade vierzig Juden getötet worden seien. Eine umfangreiche Exekution muß sich am 11. November 1939 abgespielt haben; an diesem Tag waren die Opfer in insgesamt siebzehn Autos in den Wald transportiert worden.105 Im Anschluß an die Erschießungsaktionen beobachteten polnische Zeugen des öfteren, wie die SS-Männer bei ihrer Rückkehr aus dem Wald Kleidungsstücke, Pelze und Stiefel in die Quartiere schleppten.106 Die Habseligkeiten der Ermordeten, die sich die einzelnen Angehörigen nicht selbst aneigneten, wurden in einem eigens errichteten Depot gesammelt.107 Grundsätzlich wurde aus den Mordaktionen gar kein großes Geheimnis gemacht; die im entfernten Warschau stationierten SS-Reiter sprachen ausführlich über die Erschießungen im Lucmierzer Wald.108 Allerdings sind nur von ganz wenigen der ermordeten Juden die Namen bekannt. Aus der dürftigen Überlieferung läßt sich jedoch schließen, daß viele prominente jüdische Persönlichkeiten aus Lodsch in Lucmierz erschossen wurden. Nach der Definition der Deutschen repräsentierten sie die „jüdische Intelligenz“. Shimon Gluck, der auch unter dem Namen Stefan Barylski publizierte, war einer von ihnen. Er wurde 1897 in Lodsch geboren und arbeitete dort bis zur Einnahme der Stadt durch die Deutschen als Journalist. Von den SS-Reitern wurde er 1940 in Lucmierz erschossen.109

In der Gegend von Chelm im Distrikt Lublin organisierte die dort stationierte 5. Schwadron der 1. SS-Reiterstandarte im Dezember 1939 sowie im Januar 1940 Massenerschießungen von polnischen Juden. Die Massaker standen im Zusammenhang mit den chaotischen Versuchen zur Schaffung eines „Judenreservats“. Am 1. Dezember 1939, genau zu der Zeit, als die Deportationen in den Distrikt einsetzten, übertrug das örtliche Grenzpolizeikommissariat der Sicherheitspolizei der Schwadron die Bewachung eines Transports von mehr als 1000 Juden. Es war geplant, die Menschen über die russische Grenze abzuschieben.110 Über den Einsatz seiner Männer berichtete SS-Obersturmführer Reichenwallner, der Schwadronskommandeur: „Die 5. Schwadron hat am 1. 12. 39 in Cholm 1018 übernommen, welche in einem Fußmarsch von dem Kreise Cholm nach dem Kreise Sokal transportiert werden sollten. Die 54 km lange Strecke wurde zu Fuß zurückgelegt und [schließlich] konnte[n] um 21.30 Uhr 578 Juden der Schutzpolizei in Brubieszow [Hrubieszow] übergeben werden. Auf der Flucht wurden 440 Juden erschossen.“111

Die Schwadron hatte die Bewachung der über 1000 jüdischen Männer am Morgen des 1. Dezember übernommen. Anschließend trieb das Begleitkommando der SS-Reiter die Menschen in einem Fußmarsch in das über 50 Kilometer entfernte Hrubieszow. Jüdischen Überlebenden ist dieser Tag als „Todesmarsch“ in Erinnerung. Die Bezeichnung deutet an, mit welcher Brutalität die deutsche Eskorte vorging. Noch in Chelm begannen Quälereien und Mißhandlungen durch die SS-Reiter. Auf dem Marsch erschossen die Deutschen ältere und schwache Männer, die dem Marschtempo nicht folgen konnten. Das gleiche Schicksal ereilte diejenigen, die versuchten, sich angesichts des mörderischen Vorgehens besonders zu beeilen. Laufend kam es zu weiteren Übergriffen; Menschen wurden abseits der Straße ins Gelände geführt und erschossen oder einfach auf offener Straße willkürlich ermordet. Nach dem Durchmarsch des Zuges war die Straße zwischen Chelm und Hrubieszow mit Hunderten von toten Körpern gesäumt. Gegen halb zehn Uhr nachts erreichten die Juden völlig traumatisiert Hrubieszow. Dort wurden die 578 Überlebenden vom SS-Begleitkommando der Schutzpolizei übergeben. Zusammen mit etwa 1000 Juden aus Hrubieszow trieb die Polizei die Männer am nächsten Morgen an die wenige Kilometer entfernte Demarkationslinie. Dort scheiterte jedoch der geplante Abschiebeversuch. Nach langen Stunden des Wartens in der winterlichen Kälte verweigerten die sowjetischen Grenzsoldaten den Juden den Übertritt.112 Daß sich der Massenmord der SS-Reiter an den Chelmer Juden am Vortag in aller Öffentlichkeit abgespielt haben mußte, belegt auch eine Meldung der Täter, die wenige Tage später berichteten, die Bevölkerung sei „nach dem letzten Judentransport […] ziemlich eingeschüchtert“.113

Wenige Wochen nach dem ersten Massaker wurde die 5. Schwadron am Abend des 12. Januar 1940 erneut vom Kommandeur des Grenzpolizeikommissariats telefonisch gebeten, in der kommenden Nacht die Bewachung eines Transports von 600 Juden zu übernehmen. Die Menschen seien soeben in einem aus Lublin kommenden Eisenbahnzug im Kreisgebiet eingetroffen. Ein von einem Unterführer befehligtes Kommando von 20 Männern der 5. Schwadron übernahm kurz darauf die angeforderte Bewachung. In dem Eisenbahnzug herrschten nach tagelanger Reise katastrophale Bedingungen. Unter den deportierten Juden war die Ruhr ausgebrochen, in den Waggons lagen bereits ungefähr vierzig Tote. Die Umstände meldeten die Bewacher am frühen Morgen umgehend an den Schwadronskommandeur. Reichenwallner erschien darauf mit dem lokalen Chef der Sicherheitspolizei und dem stellvertretenden Landrat am Bahnhof. Der kleine Kreis deutscher Besatzungsvertreter verschaffte sich einen Überblick über die Situation im Zug. Nach kurzer Beratung war man sich dann „einstimmig klar“ darüber, daß es, wie Reichenwallner formulierte, „ein Verbrechen wäre, die verseuchten und verwanzten Juden im Kreisgebiet Chelm auszusetzen. Wir haben deshalb veranlaßt, dass das Zugpersonal mit deutschen Beamten besetzt wurde und der Zug in eine Waldgegend Richtung Ruda abgeschoben wird, um dort sämtliche Insassen zu erschießen.“ Die lokal vereinbarte Mordaktion sollte von der Waffen-SS realisiert werden, was jedoch auf Komplikationen stieß, da die gesamte Schwadron nur über einen Vorrat von insgesamt 500 Schuß Munition verfügte. Für die anstehende Erschießung wurde das jedoch als zu gering erachtet. Reichenwallner startete deshalb im Kreisgebiet eine öffentliche Sammel- und Hilfsaktion zur Gewährleistung des Massenmordes. Eine erste Anfrage bei der Wehrmacht ergab, daß bei den in der Nähe stationierten Verbänden ebenfalls keine ausreichenden Munitionsreserven vorhanden seien. Die anschließend erneut erfolgte Kontaktierung des stellvertretenden Landrats verlief erfolgreicher. Dieser stellte ein Kommando von acht Gendarmen zusammen, die den SS-Reitern umgehend mit ausreichenden Munitionsvorräten zur Hilfe eilten. Dem Massaker stand nun nichts mehr im Wege. Noch am 13. Januar 1940 ermordete ein Trupp der Waffen-SS unter Mithilfe der zugeteilten Gendarmen in einem Waldgebiet außerhalb von Chelm sämtliche 600 Juden.114

Während die SS-Reiter in Lucmiercz lediglich das Personal zur Ermordung der durch die Sicherheitspolizei im voraus bestimmten Opfer gestellt hatten, beruhten die Massaker der 5. Schwadron in der Gegend von Chelm in weit größerem Maße auf Eigeninitiative der Waffen-SS. Bei der ersten Massenerschießung Anfang Dezember waren die Exzesse des Begleitkommandos ausschlaggebend für die hohe Zahl der jüdischen Opfer. Unverkennbare Eigeninitiative zeigte sich auch im zweiten Fall. Erst die gemeinsame morgendliche Inspektion des Zuges durch den Schwadronskommandeur, den Chef des Grenzpolizeikommissariats und den Vertreter der Zivilverwaltung löste die einvernehmliche Entscheidung zur Ermordung der Juden aus, deren Umsetzung die Waffen-SS gleich selbst übernahm. Der Kommandeur der Kavallerieschwadron mit seiner bereits hinlänglich bewiesenen radikal antisemitischen Einstellung wird bei der Entscheidung zur Ingangsetzung des Massakers eine wesentliche Rolle gespielt haben. Wilhelm Reichenwallner, Jahrgang 1910, war begeisterter Nationalsozialist und ein Veteran der Bewegung. Als Gefolgsmann Hitlers hatte er bereits an dessen Putschversuch am 9. November 1923 in München teilgenommen. Noch im Herbst 1940 beanspruchte er als Einheitsführer im besetzten Polen gegenüber seinem Regimentskommandeur stolz einen Sonderurlaub, um an den jährlichen Feierlichkeiten in München teilnehmen zu können.115

Genauere Angaben über die Zahl der jüdischen Opfer der untersuchten Totenkopfstandarten während der beiden ersten Jahre deutscher Besatzung in Polen sind kaum möglich. Allein die Opferzahl der geschilderten Massaker in Lucmierz und Chelm summiert sich wohl auf über 2000 Tote. Darüber hinaus sind in der Berichterstattung der SS-Kavallerie etliche weitere „Judenaktionen“ angedeutet, über deren Opferzahl jedoch keinerlei Informationen vorliegen. Sicherlich wird auch ein Teil der Toten der häufig ohne nähere Angaben gemeldeten Exekutionen Juden gewesen sein.116 Die Zahl der von ehemaligen Einheitsangehörigen bei ihren Vernehmungen angedeuteten jüdischen Opfer der 8. und 10. SS-Totenkopfstandarte bleibt ebenfalls im Dunkeln.117

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