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2. Berufsgruppen und soziale Schicht

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Eine Untersuchung der sozialen Schichtzugehörigkeit und der Berufsausbildung soll Erkenntnisse über die Sozialisation von Mannschaftsdienstgraden und Unterführern der SS-Brigaden erbringen. Im Gegensatz zu den Aussagen bei der Altersstruktur der 1. Brigade bleiben die Vernehmungsprotokolle in dieser Beziehung jedoch wesentlich unpräziser. Zwar gaben die ehemaligen Einheitsangehörigen bei ihren Vernehmungen fast grundsätzlich Auskunft über den aktuell ausgeübten Beruf; Fragen nach dem erlernten Beruf, dem Schulabschluß oder gar dem Beruf der Eltern wurden dagegen ungleich seltener gestellt. Hinsichtlich ihres erlernten Berufs wurden überhaupt nur 13,5 Prozent der vernommenen Einheitsangehörigen der 1. SS-Brigade befragt; 231 Männer machten verwertbare Angaben über ihre berufliche Tätigkeit vor Eintritt in die Waffen-SS. Darüber hinaus gaben gerade 70 frühere SS-Soldaten Auskunft über ihre Schulbildung. Den Beruf des Vaters, der allgemein als eigentlicher Gradmesser für die Bestimmung der sozialen Schicht herangezogen wird, erfragten die Ermittlungsbehörden nur in Einzelfällen. Eine statistische Auswertung in dieser Hinsicht schied damit von vornherein aus.

Nichtsdestotrotz erschien eine Untersuchung der vorliegenden Aussagen hinsichtlich der Faktoren Schulbildung und Berufswahl lohnenswert, da sich mit den gewonnenen Erkenntnissen zumindest Tendenzen andeuten würden. Im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt oder zu den vorliegenden Angaben anderer militärischer Verbände könnten sich Übereinstimmungen oder Differenzen aufzeigen. Neben der Untersuchungsgruppe ehemaliger Angehöriger der 1. SS-Brigade konnten zum Vergleich zusätzlich zwei Schwadronen der SS-Kavallerie herangezogen werden. Von der 1. Schwadron des Reiterregiments 2 existiert eine Besetzungsliste von Ende April 1941, in der die Berufe von sämtlichen 206 Unterführern und Mannschaftsangehörigen vermerkt sind. Eine ähnliche Liste, datierend vom 31. Dezember 1941, ist außerdem von der 2. Schwadron desselben Regiments erhalten geblieben. In dieser Aufstellung sind die Berufe von insgesamt 188 Unterführern und Männern erfaßt.16

Sowohl bei der Auswertung der Vernehmungsprotokolle der 1. SS-Brigade als auch bei den Besetzungslisten des Kavallerieregiments zeigte sich als erschwerender Faktor, daß die Berufsangaben im Hinblick auf ihre Zuordnungsfähigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht mitunter keineswegs eindeutig ausfielen. So ist bei der allerdings nur selten gewählten Berufsbezeichnung eines „Kaufmanns“ längst nicht sicher, ob es sich bei dem betreffenden SS-Mann tatsächlich um einen selbständigen Händler mit eigenem Geschäft oder eher um einen einfachen kaufmännischen Angestellten handelte. Ähnlich verhält es sich mit der Berufsangabe des „Landwirts“. Zwar wurde in den Schwadronslisten und den Vernehmungsprotokollen meist zwischen Landarbeitern und Landwirten unterschieden, ob allerdings die recht häufige Angabe der Berufsbezeichnung des Landwirts in jedem Fall einem Selbständigen mit eigenem Vieh oder Ländereien entspricht, ließ sich nicht immer eindeutig verifizieren. Darüber hinaus existiert in der Berufsbezeichnung potentiell noch die recht große Spanne zwischen einem Kleinpächter und einem Großbauern, der allerdings nur mit geringer Wahrscheinlichkeit unter den Mannschaftsangehörigen der SS-Brigaden zu vermuten wäre. Schließlich war auch bei der Berufsbezeichnung des Arbeiters mehrfach nicht zu entscheiden, ob es sich um einen ausgebildeten Facharbeiter oder um einen ungelernten Hilfsarbeiter handelte. Vor dem Hintergrund der angedeuteten Schwierigkeiten wurden die Berufsbilder anhand ihrer Schichtzugehörigkeit klassifiziert und mit Angaben zum Bevölkerungsdurchschnitt im Deutschen Reich während des Sommers 1933 in Beziehung gesetzt.17 Daraus ergibt sich hinsichtlich der sozialen Schichtung von Unterführern und Mannschaften der verschiedenen Verbände der Waffen-SS ein recht eindeutiges Bild.


Tabelle 3: Soziale Schichtzugehörigkeit von Angehörigen der 1. SS-Brigade und der SS-Kavallerie

Gegenüber dem Durchschnitt der deutschen Gesellschaft im Sommer 1933 bestand bei der Verteilung der Berufsgruppen der SS-Männer eine verringerte Präsenz in der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. Außerdem zeigt sich ein deutlich verringertes Vorkommen in den qualifizierten Sektoren der unteren Mittelschicht, also sowohl bei den Beamten als auch bei den selbständigen Kaufleuten und Handwerksmeistern. Zudem fehlt der hohe Anteil klassisch proletarischer Schichten bei der Waffen-SS völlig. Waren die ungelernten Industriearbeiter unter der deutschen Bevölkerung mit 37,3 Prozent vertreten, wiesen die verschiedenen SS-Einheiten in diesem Sektor nur einen Anteil von 4,3 bis 4,8 Prozent auf. Bei den qualifizierten Handwerkern und industriellen Facharbeitern der Unterschicht war das Verhältnis umgekehrt. Der Bevölkerungsdurchschnitt belief sich in diesem Arbeitssektor auf 17,3 Prozent; dagegen lag der Anteil der SS-Truppen zwischen 26,2 und 44,5 Prozent.

Während bei beiden Kavallerieschwadronen die Verteilung der Berufsgruppen weitgehend übereinstimmend verläuft, liegt der markanteste Unterschied im Vergleich zwischen den Reitern und der Infanteriebrigade in einem stark divergierenden Verhältnis zwischen unterer Mittelschicht und Unterschicht. Bewegt sich das Verhältnis von 39 zu 59 Prozent bei der 1. SS-Brigade noch recht nahe am Bevölkerungsdurchschnitt, ist die Relation bei den Reiterschwadronen faktisch auf den Kopf gestellt. Dieser Unterschied liegt in der gegenläufigen Präsenz von Handwerk und Landwirtschaft begründet. Der Anteil der landwirtschaftlich Beschäftigten lag bei den Kavallerieeinheiten mehr als zehn Prozent höher als in der Infanteriebrigade; dafür waren die SS-Infanteristen weit stärker im Handwerk vertreten. Die Erklärung für diesen Sachverhalt dürfte in dem Umstand zu finden sein, daß Männer für die Kavallerieeinheiten bevorzugt aus dem landwirtschaftlichen Bereich rekrutiert wurden, wo die meisten Landwirte reiten konnten, während derartige Kenntnisse unter den Handwerkern vergleichsweise selten gewesen sein dürften.

Gerade der hohe Anteil an Rekruten aus der Landwirtschaft stellte die Totenkopfstandarten anfangs vor etliche Probleme. Ein Großteil der älteren Rekruten wurde wegen ihrer Erfahrung während der Saat- und Erntezeit dringend zu Hause auf Hof und Feld benötigt. Himmler sah sich daher bereits im Februar 1940 zu der Anordnung gezwungen, in derartigen Fällen während der Frühjahrsbestellung einen vier- bis fünfwöchigen Urlaub zu gewähren.18 Zur Ernte im Sommer 1940 wurde etlichen Reitern beider Totenkopfstandarten erneut ein mehrwöchiger Urlaub gewährt.19 Die Teileinheiten der SS-Kavallerie meldeten im Frühjahr und im Herbst 1940 entsprechend, daß sich ein Großteil der Einheitsangehörigen auf Ernteurlaub befinden würde. Aus dem Grund muß die Einsatzfähigkeit beider SS-Standarten in dieser Phase stark herabgesetzt gewesen sein.20

In der Tendenz wird der vorliegende Befund zur Berufsverteilung zusätzlich durch die Angaben zur Schulbildung bestätigt. Von den befragten Angehörigen der 1. SS-Brigade konnten mit 68,6 Prozent mehr als zwei Drittel nur einen Volksschulabschluß vorweisen. 17,1 Prozent hatten die Schule mit der Mittlere Reife abgeschlossen und 14,2 Prozent der Befragten gaben an, eine Oberschule besucht und schließlich das Abitur bestanden zu haben.21 Die weit überdurchschnittliche Konzentration der SS-Männer im Angestellten- und Landwirtschaftssektor der unteren Mittelschicht sowie unter den qualifizierten Arbeitern der Unterschicht findet sich in dieser Form bei den bislang analysierten Vergleichsgruppen der Ordnungspolizei und des Heeres nicht wieder. Angestellte waren im Reserve-Polizeibataillon 101 überdurchschnittlich hoch vertreten; dafür fiel bei den Hamburger Polizisten der landwirtschaftliche Sektor völlig aus. Zudem wies das Polizeibataillon ganz im Gegensatz zur Waffen-SS eine überdurchschnittliche Präsenz von Beamten, Kaufleuten und Selbständigen auf, während Facharbeiter nur unterdurchschnittlich vertreten waren.22 Zwischen der 253. Infanteriedivision des Heeres und der 1. SS-Brigade sind gewisse Ähnlichkeiten bei der Verteilung mancher Berufsgruppen zu beobachten. Beide Verbände wiesen in der Unterschicht das Vorhandensein eines über 40-prozentigen Anteils an qualifizierten Arbeitern und Handwerkern auf. Daneben liegt jedoch sowohl der Anteil unqualifizierter Industriearbeiter als auch der Prozentsatz an Angestellten und Beamten beim Heeresverband deutlich höher, während der Anteil der Landwirte bedeutend niedriger als bei der SS ist.23 Die soziale Zusammensetzung des untersuchten SS-Personals wies damit eine sehr spezifische, eher marginalisierte, aber eben nicht durch das Industrieproletariat geprägte Struktur auf. Zumindest bezüglich der überdurchschnittlich hoch vertretenen Landwirte, Handwerker und Facharbeiter wies die soziale Zusammensetzung in der Tendenz Ähnlichkeiten zur NSDAP-Mitgliederschaft vor 1933 auf.24

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