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Kapitel 5

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Das Kaninchen hatte den Waldrand erreicht. Es schaute sich suchend um. Nach kurzer Zeit hoppelte es Richtung Prisco davon.

Etwas oberhalb von Prisco lag die Farm von Jerry Prado. Jerrys Farm war ein kleiner Betrieb. Mit zwei Arbeitern bewältigte er die Feldarbeit, und seine Frau Lynn versorgte die Tiere. Heute war es ruhig auf der Farm. Die Männer waren auf dem Feld, und Lynn traf sich an diesem Nachmittag mit Freundinnen. Nur der Hund Max lag in der Herbstsonne. Er war ein freundlicher Kerl und freute sich über jeden Besuch. Fliegen schwirrten durch die Luft, und ein stetes Gegacker kam vom Hühnervolk drüben, neben dem Schuppen. Max erhob sich etwas schwerfällig, schüttelte sich kurz und lief über den Hof zu seinem Wassernapf. Als er das Wasser schlabberte, bemerkte er eine Bewegung auf der angrenzenden Wiese. Sofort hörte er mit dem Trinken auf und schaute genauer hin. Da hockte doch tatsächlich ein Kaninchen und blickte ihn unvermittelt an. Es hatte überhaupt keine Angst. Max sträubte das Fell und begann leise, kehlig zu knurren. Das musste das Kaninchen gehört haben, aber zu seiner Verwunderung saß es immer noch am gleichen Platz. Das hatte er noch nie erlebt. Selbst die aufdringlichen

Katzen der Farm flüchteten bei seinem Knurren. Er lief mit gesenktem Kopf langsam über den Hof.

In diesem Moment rumpelte der Ford des Farmers auf den Hof, dicht gefolgt von einem neuen John-Deer-Traktor mit einem vollbeladenen Hänger. Jerry stieg aus dem Wagen und dirigierte den Traktor, auf dem seine beiden Arbeiter saßen, Jack Binder und Walt Kessler.

»Bringt den Hänger in die Scheune, Jungs. Für heute ist es genug. Wir laden dann morgen ab.«

Mit diesen Worten verschwand er im Haus. Er hatte heute keine Zeit mehr für die Arbeit auf dem Hof. Er würde sich schnell waschen und dann rüber nach New Bismark fahren. Dort wollte er sich mit seinen Freunden in Betty Sues Restaurant treffen. Viele Farmer nahmen diesen Termin gerne wahr, da sie dann immer den neuesten Klatsch aus den umliegenden Gemeinden hören konnten. Lynn wollte heute nicht mit, jedenfalls noch nicht. Gegen Abend würde sie dann direkt von ihren Freundinnen aus nach New Bismark kommen. Als er gerade fertig mit dem Waschen war, blickte er rein zufällig aus dem Badezimmerfenster im ersten Stock. Dort sah er eine erstaunliche Szene.

Sein Hund Max stand zitternd und mit aufgestelltem Fell mitten im Hof und schaute zur benachbarten Wiese. Was er dort sah, konnte Jerry nicht erkennen. Von der Scheune her kam Walt Kessler mit seiner Flinte. Die hatte er immer im Kofferraum seines Wagens liegen, in der Hoffnung, ab und zu etwas Wild zu schießen. Soweit Jerry wusste, hatte Walt bisher noch nie Jagdglück gehabt. Der Hund stand immer noch am gleichen Platz und starrte Richtung Wiese. Wie ein Soldat schlich sich

Walt von hinten an. Als er neben Max angekommen war, blieb er stehen, hob die Flinte und zielte. Jetzt sah Jerry, auf was Walt da anlegte. Keine zwanzig Meter entfernt kauerte ein Kaninchen völlig ruhig im Gras und schaute in Richtung des Jägers.

»Was für ein dummes Tier«, dachte Jerry, »läuft nicht mal weg.«

Doch dann geschah etwas Eigenartiges. Walt schaute angestrengt über sein Gewehr und versuchte, genau zu zielen. Max, der Hund, blickte kurz zu ihm hoch und dann wieder zum Kaninchen. Dann fiel das Kaninchen plötzlich wie vom Schlag getroffen um, und einen Wimpernschlag später schoss Walt. Er traf das Tier voll, und es wurde von der Aufprallwucht der Kugel einige Meter in die Wiese geschleudert. Walt stand noch einen Moment völlig regungslos da, dann senkte er langsam das Gewehr, drehte sich um und ging gen Scheune davon. Beim Umdrehen berührte er mit einem Bein Max, der erschrocken zusammenfuhr und wütend die Zähne fletschte. Er schaute Walt hinterher und knurrte nun so laut, dass Jerry es bis ins Badezimmer hören konnte.

»Na so was«, murmelte Jerry, »das hab ich auch noch nicht gesehen, dass ein Kaninchen beim Anblick einer Flinte in Ohnmacht fällt. Das glauben mir die Jungs bestimmt nicht, wenn ich das erzähle.«

Er konnte sich auch keinen Reim darauf machen, warum Walt nicht seine Jagdbeute geholt hatte und einfach weggegangen war.

Walt wusste es auch nicht. Walt wusste gar nichts mehr. Eigentlich gab es Walt nicht mehr. In dem Moment, als

Walt das Kaninchen über den Lauf seines Gewehres fixierte, sprang ihn etwas an und schob seinen Geist mit Gewalt zur Seite. Für Walt versank die Welt im Dunkeln, und er konnte nichts mehr fühlen, nichts außer einer unbeschreiblichen Angst. Das Ding, das ihn angefallen hatte, unsichtbar angefallen hatte, übernahm sofort seinen Körper. Es sah seine bisherige Behausung, das Kaninchen, umfallen. Fast gleichzeitig krümmte Walt den Zeigefinger, und eine Kugel fauchte aus dem Lauf und tötete das Tier. Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde. Das Wesen, das nun Walt war, wusste nichts mit dem toten Tier anzufangen. So ging es erst mal langsam den gleichen Weg zurück, den sein Opfer kurz vorher gekommen war. Der Hund hatte das Überwechseln sofort gespürt, und als das Ding ihn zufällig berührte, war der Hund kurz davor, aus reiner Panik anzugreifen. Das Ding beachtete den Hund nicht weiter und lief los. Die wenigen Minuten, die es für den Weg zur Scheune brauchte, nutzte das Wesen, um dem Geist von Walt alle Erinnerungen zu nehmen. Danach vernichtete das Ding ihn lautlos mit einem einfachen Gedankenbefehl. An der Scheune angekommen, sah das Ding den Wagen von Walt. Aus der Scheune kam gerade Jack Binder.

»Na, Walt, wieder mal vorbeigeschossen

Er hatte nur den Knall des Schusses gehört, als er sich in der Scheune umzog. Das Ding nickte nur mit Walts Kopf und ging wortlos an Jack vorbei zu dem alten Honda Pick-up. Es stieg ein und ließ die Waffe achtlos auf den Beifahrersitz fallen. Dann drehte es den Zündschlüssel um, startete den Motor und fuhr an dem verdutzten Jack vorbei und über den Hof davon.

»Verdammt, Walt«, rief Jack hinter dem Wagen her, »du wolltest mich doch zu Hause absetzen.«

Hanky und der Tausendschläfer

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