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Kapitel 10

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An diesem Morgen war Ray Berson schweißgebadet aufgewacht. Verwirrt blickte sich Hankys Großvater in seinem Schlafzimmer um. Es war alles an seinem Platz, so wie immer. Und trotzdem, etwas stimmte heute nicht. Bilder aus seinem Traum — heute hatte er seit langem wieder einmal geträumt —, tauchten fragmentartig vor seinem geistigen Auge auf und verschwanden auch gleich wieder.

Er hatte von Hanky geträumt, und von schrecklichen Dingen. Er spürte, dass Gefahr drohte, für seinen Enkel und für andere Menschen. Und da war noch etwas anderes. Er dachte auf einmal an seinen verstorbenen Schwager. Er sah die Bilder von damals so genau vor sich, als hätte er alles gerade eben erlebt und nicht vor so vielen Jahren. Er sah seinen Schwager blutüberströmt am Boden liegen, die Kehle zerfetzt und der Berglöwe über ihm. Er hörte auch alle Geräusche. Vom tiefen Knurren der Bestie bis zum Blubbern des Bluts, das aus dem Hals seines Schwagers sprudelte.

Da schob sich ein Bild vor sein geistiges Auge, das ihm noch heute einen Schauer über den Rücken jagte: die unglaublich bösen Augen der Bestie. Er sah sich die Flinte an die Schulter reißen und sofort schießen.

Die Bilder lösten sich auf, und Ray merkte, dass sein Körper von starkem Zittern förmlich geschüttelt wurde. Er hatte die ganzen Jahre dieses Erlebnis verdrängt. Er hatte tatsächlich vergessen. Nein! Nicht ganz! Er hatte dieses Erlebnis, das schlimmste seines Lebens, tief in sich vergraben und eine hohe Schutzmauer um dieses Grab errichtet. Doch nun war diese Mauer eingebrochen. Warum? Er grübelte vor sich hin und versuchte, die schwindenden Bilder seines Traums zurückzuholen.

Er stand auf, schlurfte in die Küche und setzte Kaffee auf. Danach ging er ins Badezimmer und wusch sich mit kaltem Wasser. Er blickte in den Spiegel, in sein von Falten und einem langen Leben gezeichnetes Gesicht. Aber er sah durch sein Spiegelbild hindurch und erblickte das Gesicht seines Enkels. Hanky lachte diesmal nicht. Er blickte sehr ernst. Er sah aus wie ein Erwachsener.

Als der Laster etwa zweieinhalb Stunden gefahren war, wurde Hanky auf der Ladefläche unruhig. Er spürte, dass in der Nähe etwas passiert war. Er hatte dieses Gefühl schon einmal kurz nach der Abfahrt gespürt, als der Lastwagen die Stelle passierte, an der Mike Clark, der Fuhrunternehmer, ermordet worden war.

Doch hier war es irgendwie anders. Hanky spürte, dass er hier gebraucht wurde und auch Hilfe finden konnte. Er lehnte sich hinten aus dem Lastwagen, und als dieser an einer Anhöhe langsamer wurde, sprang Hanky beherzt ab. Er geriet leicht ins Straucheln, fiel dann trotz aller Ruderbewegungen seiner Arme auf die Straße und schlug sich die Knie auf. Geistesgegenwärtig humpelte er schnell zum nahen Straßengraben und ließ sich ins hohe Gras fallen.

Der Lastwagen rumpelte davon und war schon bald über den nächsten Hügel verschwunden. Hanky setzte sich auf und überlegte, was er wohl hier wollte. Nach einer Weile stand er auf und rieb sich noch einmal seine schmerzenden Kniescheiben. Dann ging er langsam los und schaute sich suchend um. Es dauerte gar nicht lange, bis er am Straßenrand niedergedrücktes Gras fand. Dort musste ein Wagen durchgefahren sein. Hanky wusste aber aufwundersame Weise, dass diese Spur für ihn keine Bedeutung hatte, und so übersah er das Auto von Walt Kessler, das weiter unten am Baum stand.

So ging er weiter und vertraute auf sein Gefühl, das ihm bestimmt sagen würde, wann er gefunden hatte, was er unbewusst suchte. Mit einem Mal fiel ihm sein Großvater ein. Der würde sich bestimmt große Sorgen machen, wenn er erfuhr, dass Hanky verschwunden war. Er ging noch einige Schritte weiter und blieb dann auf einmal wie angewurzelt stehen. Aus dem Gras im Straßengraben ragte ein Bein.

Walt Kessler spürte ein heftiges Rütteln. Nur langsam löste sich sein Geist aus der wohltuenden Ohnmacht. Widerwillig stellte er fest, dass dieses Rütteln nicht aufhörte. Nun kam auch noch eine Stimme hinzu, die irgendetwas rief. Er konnte zunächst die Worte nicht verstehen. Aber die Stimme hörte nicht auf zu rufen. Walts Geist klärte sich, und er tauchte immer weiter auf, wie ein Taucher aus dem Meer. Nach einiger Zeit, Stunden, Minuten, Walt wusste es nicht, verstand er die Worte. Die Stimme rief: »Mister Kessler — Auuuufwaaachen — Haaallooo, Mister Kessler — können Sie mich hören? Mister Kessler — bitte machen Sie die Augen auf — Halloooo, Mister Kessler ...«

Walt kannte diese Stimme von irgendwoher. Wer war das, der ihn da rief? Wenn seine Augen doch nur nicht so schwer wären. Doch die Stimme gab nicht auf, und auch das Rütteln spürte er immer noch. Mit großer Willensanstrengung öffnete Walt schließlich die Augen und sah erst verschwommen und dann immer klarer jemanden vor sich. Ungläubig und verwirrt schaute er in das runde Gesicht von Hanky.

Ray Berson hatte sich auf den Weg zu seinen Kindern gemacht. Er lief erst etwas steifbeinig und dann immer lockerer über die Wiesen hinunter in Richtung Prisco. Es war immer noch früh, und es drangen kaum Geräusche der Zivilisation an seine Ohren. Dafür hörte er all die Stimmen der Natur, die er so liebte. Die auch Hanky so liebte. Das leise Zirpen der Insekten, das Rauschen des Windes in Büschen und Gräsern, das Zwitschern eines Vogels am Waldesrand. Ray wollte erst einmal nachschauen, ob Hanky nicht doch zu Hause war und er einfach nur schlecht geträumt hatte. Doch tief in seinem Inneren wusste Ray, dass es nicht so war.

Wenig später erreichte er das Haus seiner Kinder und ging leise durch die Hintertür ins Haus. Alles war noch ruhig. Leise drangen Schlafgeräusche aus dem Elternschlafzimmer. Ray ging vorsichtig die Treppe nach oben und blieb vor der Tür zu Hankys Zimmer stehen. Er öffnete die Tür und sah hinein. Doch da war niemand. Hanky war fort. Ray stand etwas ratlos da und überlegte, was er nun tun sollte, als sein Blick auf die alte Zigarrenkiste am Fußende des Betts fiel. Das war Hankys Schatzkiste, und sie stand offen. Ray ging zum Bett, nahm die Kiste und schaute hinein. Die Kiste war leer. All die kleinen Schätze, bunte Glasmurmeln, ein Bild von einem Hund, das Hanky einmal in einer Zeitschrift gefunden hatte, ein Stück seltsam geformtes Holz, das Hanky aus dem Wald mitgebracht hatte, lagen verstreut auf dem Laken herum. Doch es fehlte das Geld, das sich Hanky über die Jahre gespart hatte. Es war nicht viel, gewiss, doch der Junge hatte nie Geld gebraucht und wusste auch nicht, wie man etwas kaufen konnte. Doch nun war das Geld nicht mehr da. Mit Hanky musste etwas passiert sein. Er musste sich verändert haben. Er musste fortgegangen sein und dabei das Geld mit sich genommen haben. Wo war er nur hingegangen? Wo war Hanky?

Hanky und der Tausendschläfer

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