Читать книгу Hanky und der Tausendschläfer - Marvin Roth - Страница 15

Kapitel 9

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Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als Hanky aufstand. Er hatte nicht geschlafen diese Nacht, aber er fühlte sich trotzdem erfrischt und ausgeruht. Er zog seine üblichen Sachen an und betrachtete sich im Spiegel. Was er da sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Er sah aus wie ein Mann in einem Kinderkostüm. Für jetzt würde es gehen müssen, jedenfalls bis er aus seinem Heimatdorf hinaus war. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, immer so herumgelaufen zu sein. Sobald er in die nächste Stadt kam, würde er sein Aussehen verändern. So war er zu auffällig. So würden sie ihn schnell finden. Sie, das waren seine Eltern, die Polizei und eventuell auch die Zeitungen, die nach ihm suchen würden. Suchen nach einem behinderten jungen Mann, der sich nicht zurechtfand.

Doch das kam später. Für den Augenblick war er richtig gekleidet. In einem kleinen Regal mit seinen »Schätzen« stand auch eine alte Zigarrenkiste. Diese holte er hervor und klappte sie auf. Darin waren seine ganzen Ersparnisse. Es war nicht viel. Ab und zu hatte er dem einen oder anderen Bauern geholfen, Heu abzuladen, oder andere einfache Arbeiten verrichtet. Dafür hatte er dann ein bisschen Geld bekommen. Er hatte das Geld nie gebraucht und deshalb in der Zigarrenkiste aufbewahrt.

Hanky schüttete alles auf sein Bett und begann zu zählen. Diesmal konnte er zählen. Es machte Spaß zu zählen. Fünfundvierzig Dollar und zweiundsiebzig Cent. Zufrieden lächelnd steckte er seine Barschaft in die Hosentasche. Danach ließ er sich auf die Knie nieder und suchte unter dem Bett nach seinem Rucksack. Nach einer Weile zog er ihn hervor und ging zu seinem Wäscheschrank. Er packte etwas Unterwäsche, Socken und einen dickeren Pullover ein. Im Bad steckte er noch ein Stück Seife und die Zahnbürste in den Rucksack. Sein Blick fiel auf den Kamm, der auf dem Rand des Waschbeckens lag. Den Kamm hatte er nie benutzt, obwohl ihn seine Mutter immer wieder ermahnt hatte, sich zu kämmen. Mit einem Achselzucken packte er ihn ebenfalls ein. Er schaute sich noch einmal um und verließ dann das Bad. Leise ging er die Treppe nach unten. Aus dem Schlafzimmer seiner Eltern hörte er das leise Schnarchen seines Vaters. Zum Glück schliefen seine Eltern noch. Wenn sie aufwachten, würden sie Hanky nicht vermissen, da er meistens schon sehr früh zu seinem Großvater unterwegs war. In der Küche steckte er sich noch zwei Äpfel, ein Stück Wurst und ein halbes Brot in den Rucksack. Er trat durch die Hintertür ins Freie und realisierte in diesem Moment, dass er seine Kindheit hier zurücklassen würde. Das Gefühl, etwas Wertvolles verloren zu haben, drohte ihn zu überwältigen. So stand Hanky einen Moment, die Schultern gebeugt vor Kummer, im Garten seiner Eltern. Dann straffte er sich, richtete sich fast trotzig auf und schob den schmerzenden Gedanken entschlossen beiseite.

Zunächst dachte er noch daran, sein Fahrrad mitzunehmen, entschied sich aber dann doch dagegen, da dieses

Vehikel zu bunt war und jedem aufmerksamen Beobachter im Gedächtnis bleiben musste. Erst einmal würde er laufen und dann schauen, wie es weiterging.

Plötzlich war der Motor ausgegangen. Erst hatte die Maschine angefangen zu stottern, dann erstarb sie mit einem letzten, lauten »BLOM«. Das Ding schaute sich hilflos um und versuchte, in den Erinnerungen seines Opfers einen Hinweis zu finden, was mit dem Fahrzeug los war. Nach einer Weile fand es heraus, dass der Wagen wohl keinen Treibstoff mehr hatte. Was sollte es nun tun ? Als Erstes musste das nutzlose Auto von der Straße verschwinden. Das Ding bewegte seinen Gastkörper zum Aussteigen. Das, was von Walt Kessler noch übrig war, versuchte sich dem Ding zu widersetzen. Sein Körper taumelte wie betrunken herum, und seine Augen hatten einen panischen, irren Ausdruck. Mit aller Gewalt schleuderte das Ding Walt in den letzten Winkel seines Bewusstseins und übernahm den Wirtskörper entgül-tig. Bisher hatte das Ding geglaubt, das Bewusstsein von Walt zerstört zu haben. Aber anscheinend war das Bewusstsein nur in eine Art Ohnmacht gefallen. Nach einer kleinen Weile richtete sich Walts Körper gerade auf und ging mit ungelenken, staksigen Schritten um den Wagen herum. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen das Fahrzeug und schob es langsam über die Straßenbegrenzung. Dahinter war ein kleiner Abhang, der spärlich mit Büschen bewachsen war. Das Auto rollte den Abhang hinunter, erst langsam und dann immer schneller, um schließlich fast achtzig Meter weiter an einem Baum zum Stehen zu kommen.

Im hintersten Winkel seines Bewusstseins musste Walt Kessler mit anschauen, wie sein Wagen den Hügel hinabrollte. Er fühlte, dass er, sein Geist, am Absterben war. Das Wesen in seinem Körper war zu stark. Ärger und Zorn erfüllten ihn. Nein, niemand sollte seinen Körper benutzen. Er fühlte sich vergewaltigt und beschmutzt.

Er musste etwas unternehmen, solange er noch die Kraft dafür aufbrachte. Was konnte er nur tun? Auf geistiger Ebene konnte er das Ding in seinem Gehirn nicht besiegen. Er musste sich eine List einfallen lassen. Walt wusste, dass er sterben würde. Ein letzter Kampf. Eine letzte Aufgabe, die er meistern musste. Er dachte nach, während das Ding seinen Körper lenkte und der Straße folgte, die in nicht allzu langer Zeit in die nächste Stadt führen würde.

»Ich muss das Ding ablenken und verwirren, damit es nicht in meinen Gedanken sucht«, dachte er.

Walt versuchte bestimmte Regionen seines Körpers zu steuern. Erst nach einer Weile gelangen seine Versuche. Er schickte einen Befehl zu seinem rechten Zeigefinger und bewegte ihn ganz leicht vor und zurück. Der Finger gehorchte seinem Befehl, und als einige Minuten verstrichen waren, wusste er, dass das Ding es nicht bemerkt hatte.

Gähnend steuerte Pater Frank Marcus seinen Dienstwagen, wenn man es höflich ausdrücken wollte — nämlich einen siebenundachtziger Lincoln Towncar, der an allen Ecken klapperte —, über die Landstraße in Richtung Madison.

In dieser größeren Kleinstadt, wie er immer lächelnd bemerkte, lag seine Kirche, und es war seine Gemeinde, die er zu betreuen hatte. Der Bischof war weit weg, und nur alle drei Monate fuhr er zu ihm und erstattete Bericht. So sah es Pater Marcus — wie ihn seine Schäfchen nannten.

Dem Pater war es zuwider, Rechenschaft über seine Arbeit abzulegen. Er hatte nun schon einige Jährchen auf dem Buckel und wusste, wie man eine Gemeinde zu führen hatte. Der Bischofwar ein eitler und überheblicher Mann, und Pater Marcus konnte ihn nicht leiden.

Nun hatte er wieder drei Monate Ruhe und versuchte den Besuch zu vergessen. Fast mitten in der Nacht war er aufgebrochen, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Der neue Tag erwachte, und die Landschaft glänzte im frischen Morgentau. Die Straße führte leicht bergab durch eine kleine Senke mit Grasland und Obstbäumen, um sich anschließend leicht kurvig über den nächsten Hügel zu winden.

Im morgendlichen Zwielicht nahm der Pater auf einmal unten in der Senke eine Bewegung wahr.

Fahrig fuhr er sich über die Brille und schaute dann noch angestrengter nach vorne. Tatsächlich, da lief jemand die Straße entlang. Die Gestalt wankte oder hinkte, und jetzt fiel sie sogar zu Boden. Dann wandte sie den Kopf und schaute in seine Richtung.

Das Ding grübelte gerade darüber, wie es am schnellsten einen neuen Wirtskörper finden konnte, als das rechte Bein völlig steif wurde. Es versuchte weiterzugehen und wusste nicht, warum der Körper so reagierte. Es wankte hin und her, und schon wurde auch das andere Bein steif. Der Körper Walt Kesslers geriet aus dem Gleichgewicht und fiel nach vorne. Instinktiv zuckten die Arme nach vorne, um den unvermeidlichen Sturz zu bremsen. Im Fallen spürte das Ding einen Menschen näher kommen, noch bevor er den Wagen hörte. Sein Wirtskörper schlug hart auf den Asphalt, und das Wesen drehte den Kopf. Der näher kommende Wagen bremste ab und kam nur wenige Meter vor Walt Kessler zum Stehen. Die Tür ging auf, und ein älterer Priester — das Wesen wusste, was ein Priester war —, stieg aus. Sofort verließ das Wesen den Körper Walt Kesslers und überfiel den Geist von Pater Marcus.

Der Pater schrie laut auf und fasste sich an den Kopf. Ein stechender Schmerz zuckte ihm durch den Schädel, und dann war er wie benebelt. Er fühlte, wie ein anderer Geist seinen Körper übernahm.

»Mein Gott«, dachte er, »das Böse ist über mich gekommen! Der Herr stehe mir bei

»So ist es!«, hörte der Pater eine Stimme in seinem Kopf wispern, und dann drängte eine ungeheure Macht seinen Geist in den tiefsten Winkel seines Bewusstseins.

Das Ding jubelte. Immer, wenn es ein neues Opfer gefunden hatte, fühlte es sich unbesiegbar. Behaglich streckte es seine unsichtbaren Fühler im Körper des neuen Wirts aus und kontrollierte damit alle Funktionen. Nun würde es in den Wagen des Paters steigen und über den Körper von Walt fahren. Dieser Bastard hatte ihm genug Schwierigkeiten bereitet. Rache, ja Rache wollte das Ding. Es lief um den Wagen und setzte sich hinters Steuer. Der Motor sprang erst nach etlichen Versuchen an und rumpelte besorgniserregend. Das Wesen schlug die Tür zu, legte den Hebel der Gangschaltung auf D und schaute nach vorn. Doch da war kein Walt Kessler mehr. Er war weg. Das

Ding suchte sofort mit seinen geistigen Fühlern, konnte aber Walt nicht finden.

Es überlegte, ob es noch einmal aussteigen sollte, als über den Hügel ein großer Lastwagen gerollt kam. Schnell fuhr das Wesen an.

»Er ist bestimmt tot«, kam es aus dem Mund des Paters.

Keine Minute später passierte der Lincoln des Paters den LKW.

Aus dem Straßengraben, im hohen Gras liegend, schaute Walt Kessler unendlich müden Augen dem davonfahrenden Wagen nach. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, bevor er vor Erschöpfung in tiefen Schlaf fiel.

Als Hanky etwa zehn Minuten gelaufen war und das Dorf schon fast hinter sich gelassen hatte, fielen ihm zwei Dinge auf. Seine Beine hatten ihn automatisch in diese Richtung gelenkt, so als wüssten sie, wohin sie Hanky tragen sollten. Und zweitens war das nicht der Weg zu seinem Großvater.

Hanky überlegte hin und her, ob er nicht umkehren und erst einmal mit seinem Großvater sprechen sollte. Aber irgendetwas sagte ihm, dass er keine Zeit zu verlieren habe. So blieb er auf der Straße und beschleunigte sogar noch seine Schritte.

Vor einem Haus am Ortsrand von Frisco stand ein großer Truck. Der Motor lief schon, als der Fahrer aus seinem Führerhaus sprang und zum Haus lief. Anscheinend wohnte der Mann dort und wollte vor seiner Fahrt noch schnell etwas aus dem Haus holen.

»Der hat wohl was vergessen!«, murmelte Hanky vor sich hin.

Hanky kannte den Mann vom Sehen und wusste, dass er mit seiner Familie seit etwa zwei Jahren in dem kleinen Haus wohnte. Er war nicht oft zu Hause, da er gerne weite Touren annahm. Das brachte mehr Geld. Hanky war schon fast bei dem LKW angekommen, als er eine Idee hatte. Der Aufleger des Lastwagens war nach oben mit einer Plane bespannt. An der Rückseite war diese mit einer durchsichtigen Plastikschnur verschlossen. Aber nicht ganz. Unten an der Plane war ein Stück offen geblieben. Hanky brauchte nur die Schnur aus drei oder vier Ösen zu ziehen, was er dann auch tat, und schon war da eine Lücke, durch die er schlüpfen konnte. Hanky zwängte sich hindurch, so schnell er konnte. Kaum im Innern angekommen, hörte er schon schnelle Schritte vom Haus her. Darauf folgte das Geräusch einer zuschlagenden Tür und das aufheulende Brummen des starken Motors. Rumpelnd setzte sich das Fahrzeug in Bewegung.

Hanky und der Tausendschläfer

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