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Kapitel 2

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Unter dem Humus war es warm und feucht. Hier war noch nichts vom Herbst und dem nahenden Winter zu bemerken. Es wäre ihm auch egal gewesen. Er spürte nichts davon. Er verspürte nur zwei Gefühle: Hunger und Rachsucht. Das war bei ihm gleichzusetzen mit purer Mordlust. Aber er musste warten. Das wenige Blut, das vermischt mit der Feuchtigkeit des Bodens zu ihm heruntergedrungen war, reichte gerade aus, um ihn zu wecken. Nun musste er warten. Warten auf einen Transportkörper. Warten auf ein ausreichend großes Tier, auf das er überwechseln konnte. Obwohl er ungeduldig war, wusste er, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er aus seiner Gefangenschaft befreit war. Der Ärger kehrte langsam zurück. Der Ärger, damals überrumpelt worden zu sein. Sein Gastkörper war erschossen worden und gestorben, bevor er in einen anderen Körper schlüpfen konnte. Das hatte ihn betäubt, und bevor er sichs versah, war er im Waldboden verscharrt worden. Das Sterben des Wirtskörpers hatte ihn so geschwächt, dass er ausruhen musste. Schließlich war er so schwach geworden, dass er eingeschlafen war. Er hatte lange geschlafen, wie schon so oft. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie oft. Immer wieder hatte sich das Schicksal gegen ihn gewandt. Aber immer wieder hatte er es geschafft, zurückzukommen. Und jedes Mal hatte er sich gerächt. Grausam gerächt. Die Menschen begannen ihn als Dämon zu betrachten und erzählten sich Geschichten über seine Taten. Manchmal hatte er sich unbemerkt unter sie gemischt und hatte zugehört. Er fühlte sich den Menschen weit überlegen und betrachtete sie voller Verachtung. Doch er war etwas völlig anderes als ein Dämon.

Hanky war schon ein ganzes Stück durch den Wald gelaufen. Manchmal hatte er gesungen. Seine Lieder. Kinderlieder. Er liebte es, alleine herumzuwandern und zu singen. Die anderen schauten immer so komisch, wenn er sang. Aber hier waren keine anderen, und so konnte er aus vollem Halse und manchmal auch ganz leise singen, je nachdem, wie er sich gerade fühlte. Oft redete er auch mit sich selbst oder mit allem, was er so bei seinen Wanderungen sah. Er redete mit den Bäumen, den Vögeln, die scheinbar immer aufmerksam und interessiert auf ihn herabblickten. Ab und zu redete er auch mal mit einem Igel, die waren aber recht grimmige Burschen und schauten ihn nicht mal an, wenn er mit ihnen sprach. Der Wald war gut zu ihm und hatte ihm noch nie wehgetan. Die Tiere blieben in seiner Nähe, da er irgendetwas ausstrahlte, das man vielleicht als Gutmütigkeit und Sanftmut beschreiben konnte. Hanky hatte gerade einem Ameisenvolk zugeschaut, das in langer Kolonne über die kleine Lichtung marschierte, an deren Rand er stand.

»So viele Meisies«, murmelte er, »drei, fünf, dreizehn, acht, einundvierzig, sechs, zwei.«

Hanky hatte es nie geschafft, das Zählen zu lernen. Ihm gefiel es aber sehr, Zahlen aufzusagen. Er kannte alle Zahlen bis Hundert, aber ihm fehlte das Verständnis, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Das machte Hanky aber nichts aus, er dachte nicht einmal darüber nach. Er richtete sich wieder auf und wollte gerade weitergehen, als er eine Stimme zu hören glaubte. Etwas rief ihn. Nicht eigentlich mit Worten, sondern irgendwie in seinem Kopf, was Hanky sehr verwirrte. Unruhig schaute er sich um und trappelte nervös mit den Füßen, was er immer tat, wenn er nicht wusste, was er machen sollte. Er kratzte sich nervös am Nacken, dann hielt er sich die Ohren zu, doch das Rufen war immer noch da. Hanky tappte ein Stück auf die Lichtung hinaus, und das Rufen in seinem Kopf wurde etwas lauter.

Rita Miller war mit ihren Kindern am Waldrand angekommen und stand nun fast an der Stelle, an der Hanky einige Zeit zuvor das Eichhörnchen beobachtet und Ben Johanson zugewinkt hatte. Ben war fast mit dem Pflügen fertig und machte eine Pause, um sich seine Pfeife anzustecken. Er rauchte meistens im Freien, da seine Frau Julie es nicht ausstehen konnte, wenn es im Haus nach Pfeifentabak roch. So stopfte sich Ben seine Pfeife und sah der kleinen Gruppe am Waldrand zu.

Die Kinder hüpften aufgeregt hin und her, und Rita Miller zupfte den Kleinen erneut die Jacken zurecht. Danach zählte sie die paarweise aufgestellten Kinder noch einmal durch. Dann setzte sich die Gruppe in Bewegung und wollte gerade in den Wald hineingehen, als von dort ein wüstes Geschrei zu hören war. Ben setzte sich aufrecht hin, um besser sehen zu können, was da vor sich ging. Die Kinder und ihre Lehrerin blieben verdutzt stehen und horchten ebenfalls in den Wald hinein. Das Geschrei wurde immer lauter, und mit einem Male brach Hanky durch die Büsche, rannte noch ein Stück weiter und blieb dann schwer atmend in den frisch gepflügten Furchen des Feldes stehen. Er schüttelte wie benommen den schweren Kopf, als wolle er etwas aus seinem Haar verscheuchen. Dann erst sah er Rita Miller mit den Kindern. Diese scharten sich um ihre Lehrerin und schauten auf den mit Blättern und Erde verdreckten Hanky. Aus einer Schürfwunde an seinem Kopf sickerte Blut und zog eine dunkle Spur durch sein verschwitztes Gesicht.

»Nich da reingehn«, stammelte Hanky. »Böses Ding is da, nich reingehn.«

Rita Miller machte sich von den Kindern los und bedeutete ihnen, stehen zu bleiben. Danach ging sie zu Hanky, der am ganzen Leib zu zittern begonnen hatte.

»Hanky, armer Hanky«, sagte sie, »was hat dich denn nur so erschreckt

»Nich reingehn, nich reingehn«, stammelte er.

Inzwischen war Ben Johanson über das Feld gekommen und fragte: »Was ist denn hier los? Hanky, was ist denn mit dir? Du bist ja ganz verdreckt. Bist du hingefallen?«

»Nich da reingehn«, wiederholte Hanky mit nun stumpfem Blick. »Böses Ding is da.«

»Der ist ja völlig aus dem Häuschen«, sagte Ben zu Rita Miller.

»Es ist bestimmt besser, wir bringen ihn ins Dorf zu Doktor Ness«, antwortete die Lehrerin.

Sie ging zu Hanky und nahm ihn an die Hand wie einen kleinen Jungen, was in einer anderen Situation bestimmt lustig ausgesehen hätte, da Hanky fast zwei Köpfe größer war als sie. Doch selbst die Kinder hatten den Ernst der Situation bemerkt, verhielten sich ruhig und sprachen nicht. Keiner machte Witze oder hüpfte herum. Einige schauten ängstlich zum Wald, als würden auch sie spüren, das da etwas Unheimliches vor sich ging. Ben ging ein kleines Stück mit der Gruppe mit und stieg dann schließlich auf den Traktor.

»Ich werde nach Prisco vorfahren und den Doktor unterrichten«, rief er der Lehrerin zu. Danach startete er den Motor und fuhr los.

»Da kann ich den Jungs in New Bismark was erzählen«, dachte er, »und Julie auch.« Kurz darauf bog er in den Feldweg ein, der nach Prisco führte.

Hanky und der Tausendschläfer

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