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Kapitel 3

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Er brüllte, für menschliche Ohren unhörbar, und raste vor Zorn in seinem dunklen Gefängnis. Erst hatte er geglaubt, er hätte Glück, als er fühlte, das sich da ein vermeintliches Opfer näherte. Er hatte gerufen und gelockt. Noch nie war ein Opfer seinem Rufen entkommen. Noch nie hatte sich einer widersetzt. Doch dieser da hatte sich gewehrt. Er wollte in das Gehirn des Opfers eindringen, fand darin aber eine totale Unordnung und kein verwertbares Muster. Mit einem Male spürte er eine bekannte, verhasste Präsenz in den Schwingungen des Opfers. Er spürte die Präsenz seines letzten Gegners. Dieser hatte ihn damals überrumpelt. Doch irgendetwas stimmte nicht mit diesem Schwingungsmuster. Es konnte nicht derselbe sein. Andere Schwingungen waren zu hören, unbekannte. Das verwirrte ihn für einen Augenblick. In diesem Moment hatte er seinen geistigen Griff gelockert, und sein Opfer war davongestürmt. Nun war es weg, unerreichbar, und es würde bestimmt nicht mehr zurückkommen. Das hieß: weiter warten. Bestimmt würde er eines dieser stupiden Tiere übernehmen müssen. Das war zwar nicht besonders angenehm, aber manchmal, wenn er auf der Jagd war, bediente er sich dieser Kreaturen.

So wie damals, als er in der Gestalt eines Berglöwen diesen dummen Menschen getötet hatte. Der Kerl war durch den Wald gestapft, um eine Abkürzung zu seiner Wohnung zu nehmen. Das Ding hatte die Gedanken des Mannes gelesen. Der Mann war leicht zu töten gewesen. Doch nachdem das Ding im Körper des Pumas seine Wut und Mordgier ausgetobt hatte, kam ein anderer Mann durch den Wald und direkt auf ihn zu.

Das Pumading duckte sich, um den Mann anzuspringen, doch der richtete plötzlich ein Gewehr auf ihn und schoss, ehe das Ding flüchten konnte. Der halbe Kopf des Pumas flog auseinander, und das Tier blieb mit seinem unsichtbaren Gast unbeweglich liegen. Was dann weiter geschehen war, wusste das Ding nicht, und es war so geschwächt, dass es bald darauf einschlief. Eins hatte es sich aber gemerkt: die geistige Präsenz, die mentalen Schwingungen des Mannes.

Der alte Mann saß an seinem Lieblingsplatz auf der Holzveranda seines ebenfalls in die Jahre gekommenen Hauses. Er hatte auf die Bank, die an der Hauswand stand, ein Kissen gelegt, da ihm das Sitzen in letzter Zeit immer wieder Rückenschmerzen bereitete. Aber er war gerne hier draußen. Er genoss die frische Luft und den Blick über die Wiesen bis hin zum nahen Wald. Er lauschte mit Vergnügen den Vögeln und dem Rascheln der Blätter im Herbst.

Fast jeden Tag verbrachte er im Freien, wenn es das Wetter erlaubte. Es wurde ihm hier nie langweilig, da er ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte. In den letzten Jahren kamen immer mehr Erinnerungen aus seinen Kinder- und Jugendjahren wie alte Freunde zu ihm zurück. Er mochte das, und es erstaunte ihn manchmal sehr, an welche Kleinigkeiten er sich da erinnern konnte.

Er konnte fast den Kuchen riechen, den seine Mutter immer sonntags auf den Tisch gebracht hatte. An seine Schulzeit mochte er sich nicht erinnern, da er damals sehr ungern in die Schule gegangen war. An seine Kinderfreunde aber dachte er sehr oft. Was hatten sie zusammen doch für verrückte Streiche ausgeheckt, und wenn er daran dachte, musste er manchmal richtig lachen. Wenn ihn dabei jemand beobachtet hätte, wie er da saß, ganz alleine, und sich ausschüttete vor Lachen, dann würde dieser heimliche Beobachter bestimmt am Verstand des Alten gezweifelt haben.

Oft, sehr oft, dachte er an seine Frau und das Leben mit ihr. Wie oft hatte er ihr aus falschem Stolz oder dummer Rechthaberei wehgetan, statt sie in die Arme zu nehmen und jede Stunde mit ihr zu genießen. Vor sechs Jahren war sie gestorben, oder, wie der Pastor damals sagte: von ihm gegangen. Die Welt war für ihn seit diesem Tag dunkler geworden. Er hatte mit Gott und der Welt gehadert. Er hatte sein Schicksal verflucht. Er hatte sich verflucht, noch zu leben.

Seine Kinder heirateten und waren nach Prisco in ein hübsches kleines Haus gezogen. Sie sagten damals, er solle doch mit in den Ort ziehen. Aber er wollte in seiner gewohnten Umgebung bleiben, in seinen eigenen vier Wänden. Hier war er zu Hause und nirgendwo sonst. Als die Kinder selbst ein Baby, einen Jungen bekamen, freute er sich, damals noch zusammen mit seiner Frau, sehr. Das war nun schon fast dreißig Jahre her, und das Baby von damals war nun ein Mann.

Ja, wenn es doch nur so wäre. Wäre es doch nur ein Mann geworden. Sein Enkel war noch immer ein Kind. Er hatte sich nur körperlich entwickelt, sein Geist war nicht mitgewachsen. Trotzdem hatte der alte Mann in seinem Enkel immer etwas Besonderes gesehen.

Er sagte immer: »Der liebe Gott hat sich etwas dabei gedacht, ihn so zu machen. Ihr werdet eines Tages schon sehen ... «

Damit brach er immer diesen Satz ab und ließ den Rest offen. Er war nicht immer gläubig gewesen. Selten war er in die Kirche gegangen, eigentlich nur, wenn seine Frau es von ihm verlangte. Das hatte sich aber mit dem Tag geändert, als er seinen Schwager im Wald beerdigte. Über dieses Drama hatte er zum Glauben gefunden. Er ging zwar immer noch nicht sehr oft zur Kirche, aber er sprach mit Gott. Er redete mit ihm, erzählte ihm Geschichten, wie einem alten Freund, und das jeden Tag. Das brachte ihm innere Ruhe und Zufriedenheit.

So saß er also auch an diesem Tag wieder draußen und schaute über die Wiesen und den Wald, wie jeden Tag. Doch heute war es anders als sonst. Etwas ließ ihn frösteln, obwohl die Herbstsonne warme Strahlen auf die Veranda warf. Er hatte ein unbehagliches Gefühl, wie schon seit Tagen. Er wachte immer ermattet auf und konnte sich an keinen Traum erinnern. Normalerweise schlief er sehr gut und wachte erfrischt auf. Irgendwas lag in der Luft, irgendwas war falsch. Angestrengt spähte er zum Waldrand hinüber, doch da war nichts zu erkennen. Alles sah normal aus.

Das Ding streckte unsichtbar seine mentalen Fühler aus. Es suchte wie ein Blinder, tastete umher und horchte. Weiter und weiter suchte das Wesen. Etwa zweihundert Meter entfernt nagte ein Kaninchen an einem Grasbüschel. Seine Ohren stellten sich mit einem Mal senkrecht auf und lauschten. Das Tier hörte erst ein feines Wispern, dann einen lauten, summenden Ton, wie ihn ein Bienenschwarm erzeugte. Noch ehe das Kaninchen sich zur Flucht wenden konnte, wurde sein Geist brutal zur Seite gedrängt, und ein kaltes Glitzern war plötzlich in seinen Augen. Das Ding hatte blitzartig die Kontrolle über das Tier. Das Kaninchen bewegte sich anfangs unsicher hin und her, als wäre es betrunken. Sein Herz schlug wie wild. Einige Zeit später drehte es sich Richtung Waldrand und jagte los.

Rita Miller war inzwischen mit Hanky bei Doktor Ness angekommen. Der Doktor wartete vor der Tür, da Ben Johanson ihn schon informiert hatte. Schnell lief er die kleine Treppe vor seinem Haus hinunter und auf die kleine Gruppe zu. Rita hatte noch immer die Kinder bei sich, da Hankys Zustand es nicht erlaubte, die Kleinen erst in die Schule zu bringen. Hanky, noch immer an Ritas Hand, zitterte wie bei einem Fieberanfall.

Hanky und der Tausendschläfer

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