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Jahrgangsmischung in der Bundesrepublik Deutschland

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Die Entwicklung der Schule in der Bundesrepublik verlief nach dem Zweiten Weltkrieg zur Neugestaltung in der DDR eher konträr, da das dreigliedrige Schulsystem aus der Weimarer Republik mit der obligatorischen Grundschule als Teil der Volksschule wiederaufgebaut wurde (vgl. Pape 2016, 127). Auch wurde programmatisch an die Konzeption der Grundschule der Weimarer Republik angeknüpft. Die Grundschule wurde als Lebensstätte und als Schonraum des Kindes betrachtet, in dem es »behutsam unterstützt, wachsen und reifen« (Götz & Sandfuchs 2014, 40) sollte. Die Dauer der Grundschulzeit belief sich auf vier Jahre mit Ausnahme von Berlin, wo sich die Grundschuldauer auf sechs Jahre erstreckte. Großen Einfluss auf den Wiederaufbau des Volksschulwesens hatten insbesondere die Kirchen, die von politischer Seite unterstützt wurden (vgl. ebd., 128). Konfessionelle Schulen wurden wieder eingerichtet, da ihnen zugeschrieben wurde, dass »nur eine christliche Erziehung in der Einheit des Bekenntnisses von Kirche, Elternhaus und Schule die wahren sittlichen Werte vermitteln könne« (Furck 1998, 283, zit. n. Pape 2016, 128). Mit Bezug auf die Erfahrungen der »alles vereinnahmenden zentralistischen Schulpolitik im Dritten Reich« (Rodehüser 1987, 438) sollte die Entwicklung faschistischer oder kommunistischer Systeme unterbunden werden. Mit den konfessionellen Volksschulen wurde eine »starke Schulzersplitterung« befördert, die mit sich brachte, dass »oftmals zwei verschiedene, meist nicht oder nur wenig gegliederte Schulen nebeneinander bestehen« (Müller 1956, 73).

So blieb die Problematik der Bildungsversorgung insbesondere auf dem Land weiterhin bestehen. Außer der schon beschriebenen fehlenden Qualifikation der Lehrkräfte und den schwierigen materiellen Bedingungen wurde das Problem des jahrgangsübergreifenden Unterrichtens darin gesehen, dass sich die Lehrperson nicht nur einem Jahrgang widmen konnte, sondern »von Jahrgang zu Jahrgang eilen« musste, während die Kinder zu viel Zeit für die Stillarbeit hatten. Diese umfasste etwa zwei Drittel der gesamten Unterrichtszeit (vgl. Bühnemann 1950). Eine individuelle Begleitung und Unterstützung für einzelne Grundschulkinder waren nur schwer zu realisieren (vgl. Götz 2017, 15).

Zur Begründung einer altersmäßigen Einteilung wurden reifungstheoretische Überlegungen herangezogen, die davon ausgehen, dass die individuelle Entwicklung nach inneren Gesetzmäßigkeiten verläuft, wie der Psychiater und Pädagoge Erich Stern (1889–1959) im Jahr 1951 formulierte: »Entwicklung ist die unter der Einwirkung äußerer Faktoren erfolgende Entwicklung der Anlagen, wobei die Entfaltung nach einer in den Anlagen selbst liegenden Gesetzmäßigkeit erfolgt und den äußeren Faktoren mehr die Bedeutung der Auslösung zukommt« (Stern 1951, 41, zit. n. Krettenauer 2014, 4). Aus dieser Perspektive könnten Umweltgegebenheiten Entwicklung(en) anstoßen, ihren Verlauf aber nicht beeinflussen (vgl. ebd.).

Auch die Theorie der kognitiven Entwicklung gewann zunehmend an Bedeutung. Nach Jean Piaget (1896–1980), dem Hauptvertreter der kognitiven Entwicklungspsychologie, schreitet die geistige Entwicklung in Stadien voran, wobei jede Phase auf der vorhergehenden aufbaut und selbst wiederum Voraussetzung für die nächsthöhere ist. So baut beispielsweise die formal-operationale Phase (im Alter ab elf Jahren), die durch den Erwerb des logischen Denkens gekennzeichnet ist, auf die konkret-operationale Phase (im Alter zwischen sieben und elf Jahren) auf. In dieser Phase beginnen die Kinder, logisches Denken in konkreten Situationen anzuwenden (vgl. Piaget & Inhelder 1972). Die einzelnen Stufen können aus Handlungen und Denkleistungen erschlossen werden (Piaget 1959/1973). Auf Grundlage dieser Annahmen zeigte sich eine Einteilung in altershomogene Klassen als eine geeignete organisatorische Praxis, die das Voranschreiten von »Entwicklungsgleichen« (Diehm 2004, 538) befördern konnte. Darüber hinaus bot die Gleichsetzung von Alter und (Lern-)Entwicklung die Möglichkeit, »die Leistungen der Schüler untereinander zu vergleichen und durch Selektion immer erneut leistungshomogene Gruppen herzustellen« (ebd.).

In den 1960er Jahren wurde die Reformbedürftigkeit der jahrgangsheterogen gegliederten Grund- und Volksschulen stärker in den Blick genommen. Unter dem Schlagwort »Die deutsche Bildungskatastrophe« (Picht 1964) wurden die Defizite des westdeutschen Schulwesens wie Bildungsungleichheiten und mangelnde Wissenschaftsorientierung herausgestellt. Die jahrgangsheterogene Landschule wurde aufgelöst zugunsten von vollausgebauten Volksschulen. Auch die »Konfession als schulorganisatorisches Gliederungsprinzip« (Götz 2019, 39) verlor an Bedeutung, sodass nun größtenteils Kinder verschiedener Bekenntnisse und in industriellen Zentren auch Kinder unterschiedlicher Herkunft (sogenannte Gastarbeiterkinder) gemeinsam dieselbe Grundschule am Wohnort besuchten (vgl. ebd.).

Die Grundschule wurde durch einen bildungspolitischen Beschluss (Hamburger Abkommen) im Jahr 1964 zur eigenständigen Schulart. Mit ihrer Eigenständigkeit als voll ausgebaute Schule gewann sie an Bedeutung. Dies betraf einerseits die Ausbildung und Stellung der Lehrkräfte sowie eigene Lehrpläne, andererseits aber auch die Funktion der Grundschule als Ausleseinstanz bzw. »den Rang einer zentralen Dirigierinstanz« (ebd., 40) für weiterführende Schulen, was bis heute der Fall ist.

Resümierend lässt sich feststellen, dass jahrgangsübergreifender Unterricht mit mangelnder Qualität verbunden bzw. als problembehaftet und weniger als Chance für das Lernen der Kinder im Sinne reformpädagogischer Begründungen betrachtet wurde. Lediglich in Einzelschulen, die auf einem reformpädagogisch geprägten Konzept beruhen wie beispielsweise die Glockseeschule, die Reformschule Kassel, die Bielefelder Laborschule oder die Jenaplan-Schule in Jena wird jahrgangsübergreifender Unterricht bereits langjährig realisiert. Diese Schulen werden aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung und wissenschaftlichen Begleitung in Kapitel 3.4 noch näher beleuchtet ( Kap. 3.4).

Trotz mehrheitlicher Bildung von Jahrgangsklassen wurde jedoch auch Kritik geübt. Als prominenter Vertreter gilt Karlheinz Ingenkamp, der sich in seiner Habilitationsschrift »Zur Problematik der Jahrgangsklasse« von 1969 kritisch mit Fragen des Jahrgangsklassensystems auseinandersetzt und auf Basis empirisch abgesicherter Ergebnisse diskutiert (vgl. Ingenkamp 1969). Die Kritikpunkte besitzen nach wie vor Gültigkeit und werden im Folgenden skizziert:

• An der Bildung von Altersjahrgängen bei der Einschulung ist zu bemängeln, dass Lebensalter und Entwicklungsstand gleichgesetzt werden, was vor allem auf verwaltungstechnische Gesichtspunkte zurückzuführen und pädagogisch nicht begründbar ist (vgl. ebd., 30 und 281f.).

• Als problematisch wird die Gleichsetzung von Lebensalter und psychischer Entwicklung betrachtet. Damit wird ein synchroner Entwicklungsverlauf der Kinder angenommen, das heißt, dass alle Schülerinnen und Schüler prinzipiell »alle Lernziele in gleichem Tempo erreichen könnten« (ebd., 273).

• Bedenklich ist die Annahme, dass ein gleichmäßiger Lernfortschritt in allen Fächern erfolgt, was sich insbesondere im Problem des Sitzenbleibens zeigt, da das Schulsystem keine Teilwiederholung gestattet (vgl. ebd., 35).

• In diesem Zusammenhang ist die Konzeption des gleichen Leistungsniveaus und der Vergleichbarkeit der Zensuren kritisch zu überdenken (vgl. ebd., 36).

• Ein ebenso wichtiger Kritikpunkt bezieht sich auf die Argumentation der »Klassengemeinschaft« bzw. den »Gemeinschaftsgeist«, mit dem das Jahrgangsklassensystem gerechtfertigt wird und dessen Ideologisierung zu hinterfragen ist (vgl. ebd., 40).

Aus den Kritikpunkten geht hervor, dass Argumente für die Jahrgangsklasse realiter weniger pädagogisch, sondern vielmehr organisatorisch gerechtfertigt wurden.

Jahrgangsübergreifender Unterricht

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