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Pädagogische Begründungen jahrgangsübergreifenden Unterrichts

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Die pädagogischen Begründungen für jahrgangsübergreifenden Unterricht greifen – wie schon erwähnt – reformpädagogische Argumente auf, erweitern diese bzw. schließen auch Ergebnisse der Entwicklungspsychologie und der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung ein. Daher geht die pädagogische Begründung weit darüber hinaus, Jahrgangsmischung als eine Organisationsform von Unterricht zu betrachten. Stattdessen nimmt sie Argumente wie die Entfaltung des Kindes mit seinen Lebensbedingungen in den Blick, verbunden mit einer großen Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, die sich in deren unterschiedlichsten Bedingungen des Aufwachsens zeigt. Obwohl davon ausgegangen wird, dass Heterogenität auch in jahrgangshomogenen Klassen in hohem Ausmaß zum Tragen kommt, wird pädagogisch für eine bewusste Erhöhung der Heterogenität in jahrgangsübergreifenden Klassen argumentiert. Diese zunächst befremdlich erscheinende Begründung untermauert die in Ingenkamps Untersuchung erarbeitete These, dass die Gleichsetzung von Altershomogenität und Entwicklungshomogenität empirisch nicht mehr haltbar ist (vgl. Ingenkamp 1969, 32–36) und somit Lernprozesse über Altersgrenzen hinweg vollzogen werden können.

So können sich Kinder unterschiedlichen Jahrgangs in einer Lerngruppe mit unterschiedlichem Vorwissen und verschiedenen Erfahrungen und Kenntnissen einbringen. Diese Argumentation führt mit Blick auf die heterogenen Aufwachsensbedingungen zur Möglichkeit der sozialen Verständigung zwischen Kindern, die weiter auseinanderliegende Erfahrungswelten haben (vgl. Laging 2003, 22).

Jahrgangsmischung wird als Modell in Betracht gezogen, »das der Erziehung zu toleranten, demokratischen und kooperationsfähigen Menschen mit hohen Sozialkompetenzen gerechter wird als Jahrgangsklassen« (Demmer-Diekmann 2005, 29). Dennoch ist jahrgangsübergreifender Unterricht in diesem Sinne nicht als Selbstläufer zu verstehen, sondern als Rahmen für einen pädagogisch anspruchsvoll zu gestaltenden Unterricht (vgl. ebd., 30).

Während die reformpädagogischen Sichtweisen (z. B. Montessori und Petersen) darauf abheben, dass die Älteren die Jüngeren unterstützen, wird aus heutiger Sicht Jahrgangsmischung als eine schulische Organisationsform betrachtet, in der trotz bestehender Alters- und Kompetenzunterschiede ein gleichberechtigtes Agieren aller Mitglieder einer Lerngruppe gesichert werden soll (vgl. Götz & Krenig 2014, 94). So werden beispielsweise Interaktionen, in denen Jüngere zum Erkenntnisgewinn der Älteren beitragen bzw. Ältere von jüngeren Kindern Unterstützung erfahren ebenso in Betracht gezogen wie der umgekehrte Fall.

Mit Bezug auf die Realisierung von Jahrgangsmischung werden für jahrgangsübergreifende Klassen in Anlehnung an (reform-)pädagogische Konzepte und mit Blick auf heutige Lebensbedingungen, Alltagserfahrungen und Sozialbeziehungen von Kindern aus pädagogischer Perspektive Argumente auf folgenden Ebenen konkretisiert (vgl. Kucharz & Wagener 2007; Wagener 2014):

1. Ebene der Schülerinnen und Schüler:

− Schülerinnen und Schüler haben vielfältige Möglichkeiten, miteinander zu kooperieren, indem sich ältere und jüngere Kinder gegenseitig unterstützen.

− Schülerinnen und Schüler erkennen ihren eigenen Lernfortschritt, weil sie ihr Wissen weitergeben können und dieses gleichzeitig festigen, indem sie anderen Kindern Sachverhalte erklären und neue Kenntnisse wiederholen.

− Auch leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, beispielsweise Schulanfängerinnen und -anfänger zu unterstützen. Sie werden als Hilfeleistende ernst genommen und ihr Selbstbewusstsein wird dadurch gestärkt.

− Das Zuschauen bei Älteren bewirkt Neugier auf zukünftige Themen.

− Durch Vorbilder und Nachahmung kann gelernt werden.

− Durch verschiedene Lernangebote bekommen die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Lernanreize, die ihrer Entwicklung und Lernfähigkeit entsprechen.

− Jedes Kind wechselt seine soziale Position innerhalb der Lerngruppe, weil es sowohl zu den Jüngsten als auch später zu den ältesten Kindern gehört, sodass unterschiedliche Blickwinkel eingenommen werden können.

− Stigmatisierungen durch Sitzenbleiben, aber auch feste Rollenstrukturen (z. B. »Versager«, »Klassenclown«, »Außenseiter«) können vermieden werden, weil sich jedes Jahr ein Teil der Lerngruppe verändert.

− Schulanfängerinnen und -anfänger bekommen viel Aufmerksamkeit, da sie sowohl von älteren Kindern Zuwendung bekommen als auch von der Lehrperson Aufmerksamkeit erhalten. Sie wachsen in eine bereits bestehende soziale Struktur hinein, die Sicherheit bieten kann.

− Schülerinnen und Schüler verlieren ihre Ängste vor älteren und größeren Kindern, weil sie das Lernen mit Kindern unterschiedlichen Alters als selbstverständlich erfahren.

2. Ebene der Lehrkräfte:

− Die Lehrperson wird im Unterricht bei ihrer Aufgabe als Ansprechpartnerin bzw. -partner entlastet, weil auch schulerfahrenere Kinder als solche zur Verfügung stehen. Diesen Freiraum können Lehrkräfte wiederum nutzen, einzelne Kinder zu beobachten und zu unterstützen.

− Die pädagogischen Herausforderungen und zusätzlichen Belastungen bei der Einführung der jahrgangsübergreifenden Eingangsstufe lassen sich am besten im Team bewältigen, sodass durch das Aufgeben des »Einzelkämpfertums« das Leben und Arbeiten in der Schule von Grund auf verändert wird.

− Die Rolle der Lehrkräfte verändert sich von der eher »belehrenden« Person hin zur Lernbegleiterin bzw. zum Lernbegleiter der Schülerinnen und Schüler.

Durch die pädagogischen Begründungen wird deutlich, dass mit dem jahrgangsübergreifenden Unterricht vielfältige und positiv konnotierte Erwartungen einhergehen. Inwiefern sich diese Hoffnungen in der Praxis tatsächlich alle erfüllen, ist derzeit noch nicht besonders umfänglich erforscht. Exemplarisch wird im fünften Kapitel eine Unterrichtssequenz aus einem Forschungsprojekt näher erläutert, in dem zwei Schülerinnen beim Bearbeiten in jahrgangsübergreifenden Lerntandems beobachtet wurden ( Kap. 5).

Was die Realisierung von jahrgangsübergreifendem Unterricht betrifft, so hat insbesondere die Neugestaltung der Schuleingangsphase, die von der Kultusministerkonferenz (KMK 1997) empfohlen wurde, zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Flexibilisierung der Lernzeit am Schulanfang geführt. In den einzelnen Bundesländern hatte dies unterschiedliche Konsequenzen und war zum Teil mit verschiedenen Erprobungen und der Einrichtung von jahrgangsübergreifenden Klassen verbunden.

Jahrgangsübergreifender Unterricht

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