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4. Judentum und Christentum

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Bis hierher wurde die Herleitung des Begriffes der Menschenwürde vornehmlich philosophisch dargestellt. Dabei zeigte sich aber, dass im Hintergrund auch die Vorstellungen des Judentums von der Gottebenbildlichkeit des Menschen sowie der christlichen Auffassung von der Gleichheit aller Menschen eine Rolle spielten. Auch das christliche Gebot von der Nächsten- und Feindesliebe kommt im Kant’schen Begriff von der Achtung des Menschen um seiner selbst willen zum Ausdruck.

Im Folgenden soll nun dieser Hintergrund des Judentums noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, um dann überzuleiten zu den zentralen Aussagen des Christentums. Denn das Christentum ist ohne das Judentum nicht verstehbar. Etwa 1500 Jahre vor Christi Geburt findet ein interessanter Umbruch in der Weltgeschichte statt. Aus einem Vielgötterglauben, der auch in Israel herrschte, entwickelt sich langsam ein Ein-Gott-Glauben. Schon im Hinduismus und später in der griechischen Philosophie gab es einen solchen Vielgötterhimmel, von dem Feuerbach vermutlich sagen würde, dass diese Götter Projektionen des Menschen seien. So zeigt es sich auch in der Erfahrung des Volkes Israel. Sie spüren, dass die vielen Götter, die es auch in ihrer damaligen Glaubenswelt gab, eigentlich keine Kraft und Macht haben. Jetzt aber erfahren sie etwas ganz anderes, nämlich das machtvolle Wirken des einen Gottes, den sie Jahwe nennen. Sein Name darf nicht ausgesprochen werden und sie dürfen sich kein Bild von ihm machen. Aber er erweist sich als ein wirkmächtiger Gott. Er kann etwas. Er befreit das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens. Mit starker Hand führt er das Volk aus der Unterdrückung Ägyptens heraus in die Freiheit.

So erlebt das Volk das mächtige Wirken Jahwes. Diese Erfahrungen werden aufgeschrieben in den Texten der fünf Bücher Mose und anderer Schriften. Diese Schriften, die über einen Zeitraum von achthundert Jahren entstanden sind, nennen die Christen das „Alte Testament“. Für viele Juden ist diese Bezeichnung nicht zutreffend, da es für sie kein „Neues Testament“ gibt. Sie warten bis heute auf das Kommen des Messias. Wenn er noch nicht da war, gibt es auch kein „Neues Testament“. Denn dort sind die Berichte über Jesus Christus, von dem die Christen glauben, dass er der Messias sei, aufgeschrieben.

Das Volk Israel erfährt also seinen Gott als jemanden, der zum Volk spricht und an ihm handelt. Er zeigt sich dem Moses in der Wüste. Moses sieht einen Dornbusch brennen, der nicht verbrennt. Er weiß nicht, was das bedeutet. Dann hört er eine Stimme, die spricht: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (Ex 3,6), und dann später: „Ich habe die Klage meines Volkes gehört, ich will sie der Hand der Ägypter entreißen“ (Ex 3,8). Auf die Frage des Mose, wie er denn heiße, sagt er: „Ich bin der Ich-bin-da“ (Ex 3,14). Hier beginnt die sogenannte Selbstoffenbarung Gottes. Gott sagt etwas über sich selbst aus, frei interpretiert: Ja, es gibt mich. Ich bin da, ich bin für euch da (Ex 3,14). Er bestätigt, dass die Suche des Menschen nach dem letzten Grund allen Seins nicht sinnlos ist. Die Selbstoffenbarung Jahwes beginnt mit einer philosophischen Antwort auf die Frage des Menschen nach seiner Existenz. Er ist da, er tritt aus seiner Verborgenheit ans Licht, er spricht und handelt befreiend am Volk. So beginnt die Befreiungsgeschichte des Volkes Israel.

Für den Menschen bedeutet das, dass seine Suche nach dem ganz Anderen und Absoluten nicht ins Leere läuft. Anders gesagt: Das Absolute erweist sich als ein personales Gegenüber, dem der Mensch vertrauen kann. Allerdings „gibt“ es diesen Gott nicht so, wie es Menschen und Dinge gibt. Jahwe ist der „ganz Andere“ und der ferne Gott, von dem der Mensch sich kein Bild machen soll und dessen Name niemand aussprechen darf. „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht“,17 hat Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) formuliert. Gott ist anders, er erscheint indirekt in dieser Welt, niemand hat Gott je gesehen, seine Macht ist groß. Wer Gott sieht, stirbt, heißt es im Alten Testament. „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20).

Möglicherweise war der Mensch erst in dieser weltgeschichtlichen Zeit in der Lage, überhaupt mit diesem mächtigen Gott in eine personale Beziehung zu treten. Er musste sich erst auf diese Begegnung hin entwickeln. Aber sehen durfte er ihn nicht. Offensichtlich ist die Macht Gottes, der diesen riesigen Kosmos geschaffen hat, zu groß, als dass der Mensch seine Nähe aushalten könnte. Hier spürt man, welche kosmischen Dimensionen im Spiel sind. Der griechische Begriff Ho Antropos für „Mensch“ deutet in eine ähnliche Richtung. Frei übersetzt bedeutet er: Der Mensch ist das Wesen, das schaut und staunt. Er steht aufrecht, schaut in den Himmel, sieht die Sterne und staunt über die Größe des Kosmos. Immanuel Kant hat es in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ sinngemäß so ausgedrückt: Was mich am meisten mit Ehrfurcht erfüllt, ist der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Diese gewaltige und zugleich stille Kraft des Kosmos deutet auf den Gott hin, der sich dem Menschen zuwendet. Dies geschieht zunächst aus der Ferne. Niemand hat Gott je gesehen, der Mensch soll sich kein Bild von ihm machen und nicht in seine kleine menschliche Vorstellungswelt pressen. Gott ist anders und größer. Das gilt bis heute.

Das Alte Testament ist ein Erfahrungsbericht von Menschen, die das Wirken Gottes im konkreten Leben erlebt haben. Es ist auch ein Bericht über die Vorstellung des Menschen von der Erschaffung der Welt, von der Entstehung des Menschen und seinem Abfall von Gott. Menschen berichten, inspiriert vom göttlichen Geist, wie sie glauben, dass Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen hat und aus dem Chaos Ordnung werden ließ. Tohuwabohu ist das hebräische Wort für Chaos. Aus dem Chaos wird Kosmos.

Der göttliche Geist schafft die Welt so, dass Ordnung herrscht im gesamten Weltall, in der Natur, im Menschen. Der Mensch kann diese Ordnung schrittweise entziffern lernen. Er findet Naturgesetze und kann mithilfe der Kosmologie, der Naturwissenschaften und vielen anderen Zugängen immer besser verstehen, wie der Kosmos, die Natur, die Lebewesen, die Menschen „funktionieren“. Naturwissenschaftlich gesprochen meint diese Ordnung keine starre Ordnung einer mechanischen Maschine, sondern die dynamische Ordnung des Lebendigen, das auch das Chaos und den Zufall kennt. Es braucht die Ordnung der Planetenbahnen und jene des Organismus, aber auch die Flexibilität des Zufalls. Ohne Ordnung gäbe es keinen Zufall. Wenn alles Zufall wäre, gäbe es den Zufall nicht und die Welt würde kollabieren. Ordnung und Zufall gehören zusammen, sie ermöglichen „Freiheitsgrade“.

Auf der Seite der Theologie geht es um die Reflexion der Selbstoffenbarung des Schöpfergottes, der die Welt – womöglich mit dem Urknall – ins Sein gebracht hat. Es geht um die Beschreibung seines befreienden Handelns und um die Übergabe der Zehn Gebote. Sie sind dazu da, dem Menschen zu helfen, seine erlangte Freiheit nicht wieder zu verlieren. Der Normenkatalog der Zehn Gebote dient der Freiheit. In der Präambel zu den Zehn Geboten heißt es: „Ich bin Jahwe, Dein Gott, der Dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20,2). Schon im Volk Israel wird klar, dass das Volk Gefahr läuft, aus der Freiheit wieder in die alte Knechtschaft und Unfreiheit zurückzufallen. Diese Unfreiheit des Menschen hatte in der Paradiesgeschichte mit der Abwendung des Menschen von Gott begonnen. Vertreibung aus dem Paradies, Brudermord, Gewalt, Sintflut waren die Folgen dieser Abkoppelung. Jetzt wird von Gott her ein neuer Anfang gemacht zur äußeren Befreiung des Volkes. Dieses befreiende Handeln Gottes wird fortgesetzt und vertieft im Neuen Testament mit der inneren Befreiung jedes einzelnen Menschen.

Die Normen der Zehn Gebote dienen der Freiheit, so wie die Tugenden des Aristoteles dem Glück dienten. Beide Zugänge werden im Neuen Testament vertieft: die aristotelischen Tugenden hin zu den christlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe und die äußere Freiheit hin zur Befreiung des inneren Menschen, der zu sich selbst befreit werden soll. Die Normen des Gesetzes werden zur „Norm“ der Liebe, in der alles zusammengefasst ist.

Im Fortgang des Buches wird nicht einfach erklärt, was die Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe bedeuten, sondern es werden in einem ersten Schritt die allgemeinen Glaubensinhalte in ihren wesentlichen Punkten dargestellt, um von dort aus zum persönlichen Glaubensvollzug überzugehen. Der inhaltlich bestimmbare und persönlich zu lebende Glauben führt als Hoffnung über den Tod hinaus und offenbart in allem die göttliche und menschliche Liebe. Es geht um die gegenseitige Durchdringung der drei Tugenden.

Christ sein – was ist das?

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