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2. Die Zwei-Naturen-Lehre Jesu

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Das Phänomen, dass das Göttliche ganz menschlich ist, wird ausgesagt in der Lehre von den zwei Naturen Jesu. In ihm sind die „göttliche Natur“ und die „menschliche Natur“ als eine Einheit gegeben. Er ist beides: ganz Gott und ganz Mensch. Er ist eine Einheit in Verschiedenheit. Man darf die beiden Naturen nicht vermischen, aber auch nicht voneinander trennen: Sie liegen unvermischt und ungetrennt vor. Wenn gesagt wird, Jesus Christus war ganz Mensch, dann heißt das, dass er alle Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens durchlebt hat. Man könnte auch sagen: Wer wissen will, wie das menschliche Leben geht, soll auf ihn schauen. Er ist ganz Mensch, er ist der Mensch. Und er ist gerade deswegen ganz Mensch, weil er ganz in seinem göttlichen Vater verankert ist. Er ist es so sehr, dass er sagen kann: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30).

So kann man sagen: Wer wissen will, wer Gott ist und welche Eigenschaften er hat, soll auf Jesus Christus schauen. Er ist ganz Mensch, in dem Maße er ganz bei Gott ist. Er ist die Einheit des göttlichen Wesens in der Verschiedenheit der menschlichen und göttlichen Naturen. So ist es auch in jedem Menschen: Göttliches und Menschliches liegen als Einheit in Verschiedenheit vor, aber nicht in dieser Vollständigkeit und Reinheit. Das menschliche Leben ist fragmentarisch und unvollkommen.

Wenn in Jesus zwei Naturen da sind, dann hat er auch zwei Willen: einen göttlichen und einen menschlichen. Der göttliche Wille des Vaters in ihm trifft auf seinen menschlichen Willen. Die Aufgabe Jesu ist es, den Willen des Vaters je neu zu erfüllen. „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat“ (Joh 4,34). Das heißt für ihn, dass es in ihm menschliche und göttliche Strebungen gibt, menschliche und göttliche Antriebe. Die beiden Willen sind nicht immer kongruent und ringen miteinander. Das Angleichen des menschlichen Willens an den göttlichen geht nicht ohne inneren Kampf ab. Dieser findet seinen „Höhepunkt“ in der Szene am Ölberg, wo Jesus Angst bekommt vor dem auf ihn zukommenden Leiden: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber“ (Mt 26,39).

Das Menschliche in ihm bäumt sich auf, sich dem Bösen zu stellen, ungerecht verurteilt, angespuckt und verhöhnt zu werden. Er will nicht wie ein Verbrecher am Kreuz sterben. Das ist verständlich. Letztlich willigt er doch in den Willen des Vaters ein: „Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt 26,39). Es geht um einen dramatischen Kampf zwischen menschlichem und göttlichem Wollen. Der Gehorsam dem Vater gegenüber und das Durchhalten der Liebe und der Wahrheit ist ihm wichtiger als die Leidfreiheit. Wegen dieses Dramas nennt der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar (1905 – 1988) seine Ethik „Theodramatik“.

Dies heißt gerade nicht, dass der göttliche Vater ein brutaler Schlächter ist, der seinen Sohn dahinschlachten lässt. Es bedeutet, dass Jesus die Botschaft des Vaters von der Liebe, der Wahrheit und der Barmherzigkeit bis zum Ende durchhalten will. Er will vor dem Bösen nicht zurückweichen. Denn gerade durch die Lehre vom Wahren, Guten und Barmherzigen wird auch das Falsche, Böse und Unbarmherzige aufgedeckt. Aber er weicht der daraus entstehenden Brutalität nicht aus. Er ist der gute Hirte, der nicht flieht, wenn Gefahr droht (Joh 10,11 – 13). Man kann sich auf ihn verlassen. Durch dieses Aufdecken, aber auch durch seine Sündenvergebungen, seine Krankenheilungen am Sabbat und seine Anmaßung der Gottessohnschaft hat er seine Gegner provoziert. Für all das wird er umgebracht und stirbt am Kreuz.

Jesus Christus hat in sich die Zerrissenheit zwischen göttlichem und menschlichem Willen überwunden. Er ist letztlich ganz im Frieden mit dem Vater, ganz eins mit ihm. Der Mensch kann diese Zerrissenheit nie ganz überwinden. Es wohnen in ihm „zwei Seelen“, zwei Willen. Aber er kann sich immer mehr an den binden, der die innere Zerrissenheit in sich überwunden hat. Der Einzelne kann der Person Jesu immer mehr nachfolgen und ihm ähnlicher werden. So kann er schrittweise die Gebrochenheit und innere Zerrissenheit überwinden.

Hieß es noch in der griechischen Philosophie, dass der Mensch dem guten Geist folgen soll, damit sein Leben glückt und gelingt, soll er jetzt dem göttlichen Geist folgen und die innere Gespaltenheit überwinden, damit sein Leben zur Fülle kommt (Joh 10,10). Darin besteht christliche Spiritualität, dass der Mensch immer kongruenter mit dem göttlichen Willen wird. Er soll dies nicht tun, um einer fremden Macht zu folgen, sondern um jenem Geist zu entsprechen, der den Menschen durchs Leben führen kann und ihn zu seinem tiefsten Wesen, seiner inneren Einheit und zu innerem Frieden hin befreit.

So kann die Lehre von der Zwei-Naturen-Lehre Jesu noch einmal folgendermaßen zusammengefasst werden: Jesus Christus zeigt dem Menschen, wie das Leben gemeint ist. Insofern ist er ganz Mensch. Wer wissen will, wie menschliches Leben geht, soll auf ihn schauen: „Ich bin … das Leben“ (Joh 14,6). Er ist „der Weg und die Wahrheit“ (Joh 14,6). „Seht, da ist der Mensch!“ (Joh 19,5). Jesus Christus bringt die Botschaft von seinem Vater auf den Punkt; er verkörpert sie, er ist sie. Da er eins ist mit dem göttlichen Willen und auf den Vater hin transparent ist, kann man sagen, dass er ganz Gott ist. Gott kommt in ihm ganz zur Geltung, er ist Gott selbst. Auf den Punkt gebracht: Wer wissen will, wer Gott ist, soll auf ihn schauen, und wer wissen will, wie menschliches Leben geht, ebenfalls.

Christ sein – was ist das?

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