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TAGE WIE DIESER

»Ich hab Wäsche gewaschen. Sonst hab ich heut nichts Interessantes gemacht.«

(Zoë Schafft, Medizinische Fachangestellte, in Selbstisolation – 24.03.2020)

Flööööt-Trööööööt-Törööölööööööt!

Michael schreckte aus dem Schlaf hoch.

Fiiiiep-Huuuuuuup-Dengelenggggg!

Der Funkwecker zeigte 10.24 Uhr an.

»Nein, nein, bitte nicht schon wieder«, stöhnte Michael auf. »Seid doch bitte still! Einmal ist das ja ganz lustig, aber jeden verdammten Tag … Das hält doch der härteste Kerl nicht aus!«

Sein Aufschrei verhallte ungehört. Dafür vernahm er durchs geschlossene Fenster umso eindringlicher schiefe Flöten, blecherne Trompeten, kratzende Fiedeln, taktbefreite Schellenringe und was sonst noch in normalen Zeiten in den Rumpelkammern der Republik vor sich hin verstaubte. Und dann kam Gesang.

» Nein, da bin ich nicht dabei! Nein, das ist nicht prima! Verrecke, Colonia!«, fluchte Michael verzweifelt gegen das Hinterhofbalkonkonzert an. »Diese verfickten Höhner haben uns den ganzen Dreck doch eingebrockt!«

Tatsächlich hatte die erste deutsche Stadt mit explosionsartig auftretenden Corona-Fällen in Nordrhein-Westfalen gelegen. Das Bundesland hatte Ende Februar sämtliche Großveranstaltungen in den Karnevalshochburgen stattfinden lassen. Dies der Kölner Spaßmusikgruppe Die Höhner anzukreiden, griff genauso zu kurz, wie die Entscheidung der Landesregierung vorzuwerfen, aber das war Michael egal. Er wollte, nein, musste schlafen! Er hatte eine anstrengende Fünf-Stunden-Livesendung hinter und die nächste Nachtschicht vor sich. Von dem aufreibenden Fund des kopflosen Toten und der nicht allzu erfreulichen Begegnung mit den Ordnungshütern ganz zu schweigen.

Wenige Minuten nach seinem Notruf war eine Streife gekommen und hatte seine Aussage nebst Personalien aufgenommen. Im Gegenzug hatte er versucht, einen O-Ton für die nächsten Nachrichten zu bekommen. Doch als er dem wortführenden Polizisten sein Handy mit der gestarteten Aufnahme-App entgegenhalten wollte, schaute der ihn nur mit strengem Blick an. Auch die Beamtin, die ihn begleitete, war wenig auskunftsfreudig. Weitere Fotos des Geköpften zu schießen, wurde ihm ebenfalls unmöglich gemacht: Zusätzliche Beamte spannten weiträumig mannshohe Planen als provisorischen Sichtschutz und versagten Michael jeglichen Zugang. Verdammt, war er nun die Presse oder nicht!?

Langsam wurde es hell, und die ersten Spaziergänger tauchten mit ihren Hunden im Park auf. Sie drängten sich um die Absperrung und erschwerten es Michael dadurch zusätzlich, brauchbares Bildmaterial zu ergattern. Diese Aasgeier! War diesen Gaffern denn nicht bewusst, dass die Ausgangsbeschränkungen verboten, sich an einem Ort stehend oder sitzend aufzuhalten? Falls ja, war es ihnen gleichgültig, und die Beamten, zu denen sich inzwischen die Kollegen von der Spurensicherung gesellt hatten sowie ein stattlich gebauter Kriminaler mit Sonnenbrille, der augenscheinlich das Kommando übernommen hatte, waren mit Wichtigerem beschäftigt, als den Erlass durchzusetzen.

Schließlich war es neun Uhr dreißig, als Michael völlig entkräftet in seiner kleinen Zweizimmerwohnung ankam. Er schaffte es noch, sich all seiner Klamotten zu entledigen und sie in den Wäschekorb zu stopfen. Nur das geliebte Metallica-Vintage-Shirt hängte er mit spitzen Fingern auf einen Bügel. Das Leibchen der Prozedur einer Maschinenwäsche auszusetzen, stand außer Frage: Mit den Tourdaten von 1984 war es eine Rarität und ging bei Internetauktionen zu horrenden Preisen über den virtuellen Ladentisch! Auch wenn er selbst die Tour nicht besucht hatte – dafür war er mit seinen vienddreißig Jahren viel zu jung –, hielt er es in besonderen Ehren. Kurz vor neun schließlich war Michael auf die Ausziehcouch gefallen und hatte an nichts mehr gedacht.

Das jedoch schien seinen Nachbarn gleichgültig zu sein. Sie applaudierten sich gegenseitig, lachten und droschen auf selbst gebastelte Rhythmusinstrumente ein. Irgendwo setzte eine verstimmte Akustikgitarre ein.

»Jodel-Jodel-Jodel-Jodelyeeee«, klang es dazu aus Dutzenden – oder Tausenden? – von Kehlen. Michael presste sich das Kissen auf die Ohren. Vergebens. Gegen die Stimmbandakrobatik von Marion Salominovic von oben hatten drei Kubikmeter zusammengepresste Gänsedaunen keine Chance. Über den gejodelten Nachbarschaftschor legte sie die erste Strophe eines alpenländischen Gassenhauers in österreichischem Dialekt – oder zumindest das, was sie dafür hielt. Wie auf zahlreichen Straßenfesten bewies Marion auch jetzt: Sie kannte nicht nur jeden Hit der letzten zwanzig bis drölfzig Jahre – sie kannte auch jeden Text. Alle anderen kannten immerhin den Volks-Rock’n’Roll-Jodelrefrain:

»Jodel-Jodel-Jodel-Jodelyeeee!«

»Aufhören!!! Ich habe mir doch nicht meinen wohlverdienten Skiurlaub verbieten lassen, dass ihr mich jetzt doch mit Après-Ski-Mucke foltert!«

Scheinbar doch. Und hackte da jetzt wirklich jemand auf die Tasten eines Akkordeons ein!?! Die Quetschkommode gab den Leuten Anlass, den Titel ein zweites Mal zu schmettern – und anschließend ein drittes Mal. Wieder applaudierte sich die Menge selbst, bereit, sich nun einem weiteren Stück Musik zuzuwenden. Na ja, wenigstens konnte es nicht noch schlimmer kommen.

Doch. Es konnte. Besonders inbrünstig stimmte Marion den nächsten Allerweltshit an.

»O-ho, O-hoooooooooo«, setzten alle, die den Song kannten, im Chor mit ein – und jeder kannte Atemlos von Schlagerchanteuse Helene Fischer.

»Ja, ihr ohohohot mich auch.« Michael kam langsam, aber sicher der Verzweiflung nahe. »Nicht genug, dass wir den Italienern ihre ganzen Nudeln wegfressen, jetzt müssen wir auch noch ihre Balkonarienidee schänden!!!«

Italien hatte es zu Beginn der Pandemie besonders hart getroffen, entsprechend hatte das Land als Erstes in Europa eine Ausgangssperre verhängt. In der Folge waren Anfang März 2020 Onlinevideos viral gegangen, die Italiener auf ihren Balkonen zeigten, wie sie gemeinsam musizierten. Nicht nur das Corona-Virus, auch diese Praxis hatte den Weg nach Deutschland gefunden – und genau in Michaels Hinterhof.

Als nun die unterschiedlichsten Tonlagen zum wiederholten schiefen Male Fischers Refrain zelebrierten, hatte Michael genug. Verzweifelte Zeiten verlangten nach verzweifelten Maßnahmen!

Er sprang aus der Kissen- und Bettdeckenburg heraus, die er vergebens um seine Gehörgänge aufgetürmt hatte, hetzte atemlos ins Arbeitszimmer, riss die Stereoanlage vom Regal, schloss den Strom in der zum Wohn-/Schlafzimmer hin offenen Küche an, enterte so splitterfasernackt, wie er war, den anliegenden kleinen Balkon und brüllte:

»Spürt, was mit euch macht!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!«

Die Boxen richtete er in den Innenhof, drehte den Lautstärkeregler auf zehn – und drückte mit einem aufkeimenden Gefühl der Genugtuung auf die Taste des Verderbens: Play!

Augenblicklich donnerte die kalifornische Thrash Metal-Institution Slayer in Orkanstärke in den Hinterhof. Michael headbangte wie ein Derwisch, riss die Arme mit ausgestreckten Zeige- und kleinen Fingern nach oben, sprang auf den knapp drei Quadratmetern herum wie Rumpelstilzchen auf Speed und grölte den Text mit. Der war bei ihm noch weniger zu verstehen als bei Slayer-Frontschreihals Tom Araya. Buhrufe drangen zu ihm herüber, was ihn jedoch nur dazu animierte, die Lautstärke noch eine Stufe höher zu drehen. Er selbst legte ebenfalls eine Schippe drauf und packte die Luftgitarre aus: Kerry King hatte gerade zu seinem Trommelfell zerschneidenden Gitarrensolo angesetzt. Michael Metal Mike Ritter ließ seinen Kopf in schwindelerregendem Tempo um die Halswirbel kreisen, die Fliehkräfte zogen seine Haare einem wirbelnden Wischmopp gleich im Uhrzeigersinn durch die Luft – und Klein-Metal-Mike sechzig Zentimeter weiter unten propellerte in die entggengesetzte Richtung.

Nach markerschütternden vier Minuten und fünfzehn Sekunden fand Raining Blood mit dem berühmten Gewitterhörspieleffekt sein Ende. Michael öffnete die Augen. Er stand aufrecht. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Er atmete tief ein und noch tiefer aus. Die frei gewordenen Endorphine ließen ihn die Schmerzen im Nacken vergessen.

Die benachbarten Balkone waren wie leer gefegt. Nur im dritten Stock ihm direkt gegenüber stand Rentner Alfons Schicker über seinen Gehstock gebeugt, den Beatmungsschlauch in der Nase, und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

Triumphal ballte Michael die Fäuste. »Mission accomplished!« Mit diesen Worten drehte er sich um hundertachtzig Grad um die eigene Achse und präsentierte Alfons sein in der Vormittagssonne leuchtendes Hinterteil.

»Und jetzt ab ins Bett!«

Er baute die Anlage wieder ab, brachte sie an ihren angestammten Platz im Arbeitszimmer zurück und nutzte die Gelegenheit, sich von seinem Blasendruck zu erleichtern. Fast schon automatisch schweifte sein Blick über den Vorrat an Toilettenpapier. Seine Kurzinventur zählte eine letzte Rolle. »Da besteht wohl Handlungsbedarf«, sprach er zu sich selbst, spülte, wusch sich ausgiebig die Hände und begab sich zurück zu seiner Schlafcouch, die ihm als Sofa und im ausgezogenen Zustand als Bett diente. Nicht, dass er es noch jeden Tag der Mühe wert fand, die Schlaffläche wieder einzufahren, geschweige denn, das Bettzeug zu verräumen. Michael ließ sich in jedem erdenklichen Sinne erleichtert in die Kissen fallen. Sanft Einschlafius, der Schutzheilige der Erschöpften und Bettlägerigen, hatte ihn wieder! Er seufzte selig, als er die Augen schloss.

Draußen zählte jemand ein: »Und jetzt alle: Tage wie diese! Äh wonn, äh tuu, äh wonn-tuu-srie-foor!«

An Tagen wie diesen wünschte sich Michael alles, nur keine Unendlichkeit. Ihm blieb nichts anderes übrig als die Kapitulation. Die Toten Hosen – das war jetzt echt zu arg.

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Corona-Newsticker:

+++ Bundesregierung untersagt Saisonarbeitern die Einreise. +++

+++ Petition gestartet: Zwei Hamburger Schüler verlangen Absage der Abiturprüfungen. +++

+++ Indien bestraft Verstöße gegen die Ausgangssperre mit einer Geldbuße oder einer Gefängnisstrafe von bis zu sechs Monaten. +++

+++ Neuer Joker bei Quizshow Wer wird Millionär? Der Grund: Die neuen Folgen werden ohne Publikum produziert. +++

+++ Die Pest von Albert Camus ist ausverkauft. +++

+++ Österreich: Versammlungen von mehr als fünf Personen sind verboten. +++

+++ Hoffnungsspender: Zahlreiche europäische Radiosender spielen zeitgleich die Mutmachhymne You’ll Never Walk Alone. +++

+++ Bundeskanzlerin Angela Merkel negativ auf Corona getestet. +++

+++ Als eines der letzten Länder in der arabischen Welt meldet auch Syrien seinen ersten Corona-Fall. +++

+++ Schweden: Ministerpräsident rechnet mit Tausenden Todesfällen. +++

+++ Wirtschaftsinstitut erwartet fallende Mietpreise. +++

+++ US-Flugzeugträger: Mehr als 500 Soldaten Corona-positiv. +++

+++ Das nordrhein-westfälische Heinsberg ist Corona-Hotspot. +++

+++ Österreich stellt das Tiroler Paznauntal unter Quarantäne. Betroffen sind die Skigebiete Galtür, Ischgl, Kappl und See. +++

+++ Welthungerhilfe warnt vor Existenzvernichtungen in Entwicklungsländern. +++

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