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THE END IS NEAR

»Hört auf, medizinische Handschuhe in der Öffentlichkeit zu tragen. Das ist eine hygienische Sauerei großen Ausmaßes.«

(Dr. Marc Hanefeld, Allgemeinmediziner, via Twitter – 05.04.2020)

Michael saß am Küchentisch und mümmelte lustlos sein Müsli in sich hinein. Die Augenringe hingen ihm bis in die Kniekehlen, aber immerhin hatte er ein probates Mittel gegen das Musikfestival vor seiner Balkontür gefunden: Die Bluetooth-Ohrstöpsel waren mit seiner Anlage verbunden, die ihm eine Best-of-Zusammenstellung der New Yorker Extreme Death Metaller Cannibal Corpse auf die Trommelfelle hämmerte. Genau das, wonach Michaels geschundene Seele jetzt verlangte! Chris Barnes grunzrülpste sich die ultrabrutalen Lyrics von Hammer Smashed Face aus dem Leib, Drummer Paul Mazurkiewicz rumpelte einen Veitstanzrhythmus, der Bass von Alex Webster bebte in Erdkerntiefe, Bob Rusay und Jack Owen definierten auf ihren Gitarren das Wort Spieltempo neu.

Wie in Zeitlupe führte Michael den Löffel mit der breiigen Milch-Haferflocken-Masse vor den Mund. Öffnete ihn. Schob den Löffel hinein. Zog den leeren Löffel wieder heraus. Kaute. Schluckte schwer. Die Kontraktion des Musculus hyoglossus quälte die zähe Pampe die Speiseröhre hinunter. Parallel dazu explodierten die Stromgitarren in ein wahnwitziges Soloduell. Michael ließ den Löffel zurück in die noch halb gefüllte Schüssel sinken. Langsam füllte sich das Besteck und beschritt den Weg Schüssel-Mund-Schüssel ein weiteres Mal.

Kaffee. Geistesabwesend goss sich Michael die fünfte Portion Filtergebräu in die Tasse mit dem Aufdruck »Rocking Radio – das Beste für Deutschland in Sachen Rock«. Sie war ihm an seinem ersten Arbeitstag als Begrüßungsgeschenk überreicht worden.

Nachdem er sie ausgeschlürft hatte, stellte er sie gemeinsam mit der nicht zur Gänze geleerten Müslischale in die Spüle, die bereits mit anderem schmutzigen Geschirr überfüllt war, gähnte und wankte ins Bad. So richtig wollte das Koffein seine Wirkung nicht entfalten. Noch immer die Stöpsel in den Ohren, wusch er sich den Schlaf aus den Augen. Es war Zeit! Zeit, seinen Vorrat an Toilettenpapier aufzufüllen. Er tauschte den speckigen Bademantel gegen alltagstaugliche Klamotten, darunter ein frisches Band-Shirt. Der Schriftzug »Arch Enemy« der schwedisch-US-amerikanischkanadischen Melodic Death Metal-Formation prangte über dem Skelettreiter mit der Sense, und der Rückenaufdruck verkündete: »My Apocalypse Is Near«. Michael nahm die Ohrhörer heraus, brach Cannibal Corpses Icepick Lobotomy ab und trennte das Handy vom Ladekabel.

Corpse … Die Ereignisse des frühen Morgens drängten sich in seine Erinnerung. Mal schauen, was Tom auf seine Newsmeldung geantwortet hatte. Doch da war keine Nachricht seines Chefs. Sicher war in der Redaktion wieder die Hölle los. Dafür zeigte sein Messengerdienst neunundfünfzig neue Meldungen in einem Gruppenchat an.

»Unfassbar, was der sich herausnimmt! [Zorn-Emoticon]«

»Echt ey! [Kotz-Emoticon] Wen isch dem seine Frese blicken tu will isch einschlagen digga [Axt-Symbol]«

»Meine kleine Freja-Sophie hat eine halbe Stunde lang nicht aufgehört zu weinen [Rotz-und-Wasser-heul-Emoticon]«

»Voll das asoziale Arschloch [Flammen-Symbol]«

Irgendwie beschlich Michael das dumpfe Gefühl, dass es sich in dieser Diskussionsrunde der Gruppe »Nachbarn – einer für alle, alle für einen« um ihn drehte …

»Ach Leute was regt ihr euch so auf? Mich hat er heute nicht überrascht. Der Ritter war doch nie anders. [Glotzböbbel-Emoticon]«

Ja. Es drehte sich definitiv um ihn.

»Warum wohnt der [dreimal Kackhaufen-Symbol] eigentlich noch hier?«

Und Tom meinte, er, Michael, hätte eine nicht gesellschaftsfähige Ausdrucksweise .

Im Schnellverfahren scrollte er über die nächsten wenig charmanten Posts hinweg – bis:

»Aber sein Hintern ist schon ganz schön knackig [Herzaugen-Emoticon]«

Den Shitstorm, der im Folgenden über Simone Somins hereinbrach, tat sich Michael nicht mehr an. Er packte das Smartphone in seine Lederjacke und trat ins Treppenhaus. Von unten hörte er eine gut gelaunte Stimme vor sich hin singen, irgendetwas über Berg’sche Gefühle, die zu schweigen hätten. Kein Zweifel: Marion Salominovic kam ihm entgegen. Und eine Begegnung war unausweichlich.

»Lalalala, summsummsumm – oh … du!«, unterbrach Marion ihre ganz eigene Interpretation der Schlager-Edelschnulze. Sie verharrte auf dem Podest zwischen den beiden Stockwerken und sah zu Michael herauf, der ebenfalls stehen geblieben war. Ihre Miene verdüsterte sich. »Michael, weißt du eigentlich, wie arrogant und selbstbezogen du bist?!«

Der Angesprochene antwortete nicht. Er hielt die Frage ohnehin für eine rein rhetorische.

»Kommst du eigentlich auch mal aus deiner Blase raus, du Arsch, und merkst, wie es anderen Menschen geht!?«

Michael setzte zu einer halblauten Gegenstrategie an. »Deine Tochter, Marion. Sag doch nicht solche Worte vor ihr.«

»Oh doch, sie soll ruhig wissen, wie man Menschen«, sie legte alle Verachtung in dieses eine Wort, »wie dich nennt.«

Marions Fünfjährige drängte sich schüchtern an das Bein ihrer Mutter. Diese kam jetzt erst so recht in Fahrt. »Es ist für alle schwer, nicht nur für einen nichtsnutzigen Langschläfer, der meint, mit seinem Teufelskrach die Welt noch schlechter machen zu müssen, als sie es ohnehin schon ist! Von Musik kann bei diesem Geschrei ja keine Rede sein.«

Michael wollte etwas entgegnen, als schon die nächste Schimpftirade über ihn herniederging. »Siehst du nicht, wie wichtig unser gemeinsames Musizieren für uns alle ist? Gerade für die Älteren! Die sind ganz allein, bekommen schon seit Wochen keinen Besuch mehr, und selbst können sie ja nicht raus. Hast du nur den Hauch einer Ahnung, wie sehr sie ihre Kinder und Enkel vermissen?«

Wieder hätte Michael ganz gern etwas erwidert, doch er kam nach wie vor nicht zu Wort – und das wollte etwas heißen!

»Auch meiner Carolin tut es gut, einmal vor die Tür zu kommen, und wenn es nur die Balkontür ist. Sie darf ja nicht mehr mit ihren Freundinnen aus dem Kindergarten spielen. Und dann kommst du daher und verlangst, dass sie sich nicht mit ihrer kleinen Plastiktrommel austoben darf! Oder wie sollen wir deine Eskapade da vorhin verstehen? «

Wieder wartete sie keine Antwort ab, sondern schoss gleich die nächsten Fragen hinterher. »Bei uns geht mal ein Ton daneben? Der Rhythmus ist mal nicht im Takt? Wen verdammt noch mal interessiert’s?!? Außer so einen miesepetrigen Eremiten wie dich, der anderen ihre einzige Freude madig machen muss. Lass dir etwas gesagt sein, Herr Ritter«, sie kniff die Augen zum vernichtenden Endschlag zusammen und zog die Lippen kraus, »deine immerwährende Negativität kotzt uns alle an.«

Das saß. Doch das konnte sich Michael nicht anmerken lassen. Stoisch entgegnete er: »Bist du fertig, oder kommt noch was?«

»Und ob da noch was kommt«, donnerte ihm Marion entgegen. »Lass uns gefälligst vorbei! Siehst du nicht, dass das schwer ist?!?«

Im Stechschritt stürmte sie ihm auf der Treppe entgegen, ihren proppevollen Einkaufskorb wie einen Schutzschild – oder eher wie einen Rammbock? – vor sich hertragend und Carolin hinter sich herziehend. Als sie auf seine Höhe kamen, drückte sich Michael an die Hauswand, während sich Marion am Geländer entlangquetschte, den Rücken so weit wie möglich nach hinten durchgebogen, das bleich gewordene Mädchen zwischen den Beinen. Bei einer Stufenbreite von achtzig Zentimetern den vorgeschriebenen Mindestabstand von eineinhalb Metern einzuhalten, hatte etwas von Ringelpietz anti Anfassen …

Michael warf dabei einen unwillkürlichen Blick auf Marions Besorgungen. Als sie an ihm vorüber war, richtete er doch noch das Wort an seine Nachbarin. »Ich bin auch auf dem Weg zum Einkaufen. Ich sehe, du hast kein Klopapier. Soll ich dir welches mitbringen?«

Marion drehte sich auf dem Absatz um und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Jetzt wohl auch noch Komiker, oder was!?«

Michael hob beschwichtigend die Hände, er hatte es tatsächlich nur gut gemeint. Doch das sah Marion schon nicht mehr. Sie war bereits die letzten Stufen zu ihrer Wohnung hochgehetzt und hatte die Wohnungstür hinter sich zugeschlagen.

Dann eben nicht, aber vielleicht hatte sie sich jetzt ja abreagiert. Michael versuchte, die unangenehme Begegnung abzuschütteln, und verließ das Haus. Er passierte gerade den Holzverschlag für die Mülltonnen, als sein Handy durch die Jackentasche vibrierte. Antwortete Tom ihm jetzt endlich bezüglich seiner Newsmeldung?

»Der Ritter ist so was von anmaßend! Bin diesem [Fluchsymbol-Emoticon] gerade im Treppenhaus begegnet. Nicht nur, dass er meint, ich wäre nicht in der Lage, für meine Familie zu sorgen – jetzt schreibt er mir auch noch vor, wie ich mit meiner Carolin zu reden habe!«

Was darauf folgte, war eine wahre Flut an Emoticons und Symbolen, die nicht näher beschrieben werden müssen. Nein, Marion hatte sich noch nicht abreagiert. Und so trat Michael aus der Gruppe »Nachbarn – alle gegen einen« aus.


Michael trat auf die Straße hinaus. Er setzte sich gerade in Richtung Park in Bewegung, da schoss ein kleiner Junge, vielleicht acht Jahre alt, an ihm vorbei und auf die Tür eines Mehrfamilienhauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu. Er konnte ihm gerade noch ausweichen, als eine mit Einkaufstüten bepackte Frau – offensichtlich die Mutter – um die Ecke gebogen kam. »Timo«, schimpfte sie dem Dreikäsehoch hinterher, »du weißt doch, dass der Papa im Homeoffice ist! Wieso musst du da jetzt klingeln und wartest nicht, bis ich mit dem Schlüssel komme!?«

»Aber, Mama, das hab ich nicht gewusst!«

»Und jetzt auch noch lügen!«

Der weitere Verlauf des Matrone-Bengel-Gesprächs wurde von der zuschlagenden Haustür verschluckt. Marion hatte recht, dachte Michael, Familien hatten es gerade echt nicht leicht. Und wie machte man einem Kind die Situation begreiflich, ohne es die eigene Verunsicherung spüren zu lassen und in Angst und Schrecken zu versetzen?

Er schaute nach oben: In einem der Fenster, das zur Wohnung dieser kleinen Familie gehören mochte, hing ein nach draußen gerichteter, offensichtlich von einem Kind gemalter Regenbogen. »Du bist nicht alleine« stand in krakeliger Wachsmalkreidenschrift darunter. Michael wusste, was das zu bedeuten hatte: Bilder dieser Art waren in vielen Wohnungen zu sehen, in denen Kinder lebten. So zeigten auch die Kleinsten untereinander Solidarität und halfen sich über die Zeit, in der sie weder Freunde noch die Kindertagesstätte beziehungsweise Grundschule besuchen durften.

Michael lächelte. Und dieses Lächeln verzog sich zu einem kleinen Grinsen, als er nun an seine eigene Mutter denken musste. Wie sehr lag sie ihm stets damit in den Ohren, es sei doch endlich an der Zeit, dass er sich eine anständige Frau suchte und ihr liebreizende Enkelchen schenkte. Was Michael betraf: Kinder empfand er in erster Linie als nervenreizend. Und mit unanständigen Frauen hatte man eine deutlich bessere Zeit. Gut, Letzteres fiel erst mal genauso flach wie Kino- und Kneipenbesuche. Aber es erleichterte ihn doch, in dieser angespannten Situation nicht auch noch die Verantwortung für eine Familie zu tragen. Er kam ja auch alleine ganz gut klar in seinen fünfundfünfzig Quadratmetern. Aber wenn er an die vielen Großfamilien in ihren kleinen Stadtwohnungen ohne Garten dachte, wurde ihm ganz anders.

Inzwischen war Michael im Park angekommen, hielt kurz inne und ließ den Blick über die Grünflächen und die Hauptstraßen schweifen, die sie umgaben. Es war alles so surreal! Hier, wo sonst das Leben pulsierte, herrschte Stille. Die Cafés, der kleine Buchladen, das Berufsbekleidungsfachgeschäft und die Spielhalle – alle geschlossen. An jeder Eingangstür hing ein Schild, das auf die Zeit nach dem Lockdown vertröstete, in unterschiedlichen Wortlauten wie: »Zum Schutz unserer Gäste und Mitarbeiter haben wir geschlossen. Wir sind hoffentlich bald wieder für euch da.«

Gern hätte sich Michael dieser unwirklichen Atmosphäre, dieser globalisierten Welt im Stillstand, ein wenig hingegeben, doch er versagte es sich, die Faszination zu genießen. Dafür standen zu viele Existenzen auf dem Spiel. Man wusste bereits, dass es nicht für alle Inhaber und ihre Geschäfte eine Zukunft geben würde. Wenn Einkünfte wegfielen, die Fixkosten aber unverändert blieben, waren selbst gesunde Unternehmen schnell am Limit. Nur wenige Vermieter waren bereit, ihre finanziellen Ansprüche zu stunden, zu senken oder für eine gewisse Zeit ganz auszusetzen. Global Player wie adidas oder die Modekette H&M gingen gleich in die Offensive und prellten ihre Pächter um die Filialmieten. Was hätten diese auch tun sollen? Sie rausschmeißen? Viel Erfolg bei der Nachmietersuche!

Wie in jeder Krise traf es die Kleinen als Erste und besonders hart. Die ersten Corona-Insolvenzverfahren liefen bereits, den großspurigen Regierungsversprechen von »unbürokratischen Soforthilfen« zum Trotz. So schluckte Michael schwer, als er an der kleinen Schneiderei von Frau Samara vorbeikam. Bei der kompakten, etwas kauzigen, aber unheimlich herzlichen Frau aus Bulgarien ließ er im Bedarfsfall seine Klamotten richten. »Geschlosen. Bleiben Sie gesunt« stand im Schaufenster. Die weißen Gardinen dahinter waren zugezogen.

Doch nicht über alle Branchen hatte die Regierung den kollektiven Lockdown verhängt. Lebensmittelläden, Drogerien, Apotheken und To-go-Geschäfte, also Anbieter von Waren für den alltäglichen Grundbedarf und die medizinische Versorgung, hielt sie offen. In manchen Bundesländern überlegte sie sogar, die Öffnungszeiten auszuweiten, um den Kundenansturm zu entzerren. Auch Postämter und Lieferdienste galten als systemrelevant und halfen mit, die Republik am Laufen zu halten.

»He, pass doch auf, Mann!!!«

Ein Jogger turnte haarscharf in dem Moment an Michael vorbei, als dieser sich wieder in Bewegung setzte. So haarscharf, dass er den Atem des sich so unsportlich verhaltenden Sportlers im Nacken spüren konnte. Die Ausgangsbeschränkungen sahen ausdrücklich Ausnahmen für den Weg zum Supermarkt und zurück vor, erlaubten aber auch Spaziergänge und sportliche Aktivitäten im Freien, sofern man diese maximal zu zweit ausübte und nicht für längere Zeit an einem Ort verweilte, beispielsweise auf einer Parkbank. Und selbstverständlich galt es, den Mindestabstand zu allen anderen auf der Straße einzuhalten, verdammt!

Einmal mehr trauerte Michael seinem ausgefallenen Winterurlaub hinterher, denn irgendwie war Draußensein gerade wie Skifahren: Den wenigen Passanten, denen man begegnete, wich man in großem Bogen aus, nahm Rücksicht auf Langsamere vor einem und zuckte jedes Mal reflexartig zusammen, wenn irgendwo hinter einem jemand hustete – wie bei diesen Snowboardern, die über die Eisflächen krachten und bei denen man schon im Voraus spürte, wie sie einem in die Knochen bretterten. Und wie auf der Piste waren die Leute auch auf der Straße vermummt. Doch hier sollten die Gesichtsmasken nicht gegen Wind und Frost schützen, sondern gegen ein hundertsechzig Nanometer kleines Virus, das meist eine glimpflich verlaufende, grippeähnliche Atemwegserkrankung auslöste, im schlimmsten Falle jedoch den Tod bringen konnte.

Michael wurde es immer ein wenig mulmig zumute, wenn ihm ein Maskenträger entgegenkam. Klar, man kannte diese Bilder, vor allem aus den Industriemetropolen Asiens, wo der Smog das Tageslicht verdunkelte und den Menschen noch immer die Sars-Pandemie von 2002/2003 in den Knochen steckte. Auch er hatte die Touristen aus Fernost immer belächelt, die in ganzen Busladungen in die hiesigen Altstädte gekarrt wurden und zu deren Reisegrundausstattung neben Fotoapparaten und Sonnenschirmen auch stets ein Atemschutz zu gehören schien. Jetzt waren es seine Mitbürger, seine Hörer, die ihm diesen Anblick boten.

Er selbst trug keine Maske. Selbst wenn er sich von der grassierenden Hysterie anstecken ließe, es gab ohnehin kaum mehr FFP2-Atemmasken zu erstehen – weltweit! Entsprechend waren die Preise für diesen schnabelartigen Einmalartikel innerhalb weniger Tage von wenigen Cent auf das Dreitausendfache angestiegen. Ja, nicht nur die Anzahl der Infizierten wuchs exponentiell. Die Polizei verzeichnete einen exorbitanten Anstieg an Einbrüchen in Praxen und Kliniken, bei denen Masken und weitere Schutzkleidung palettenweise geraubt wurden, Desinfektionsmittel sowieso. Entsprechend waren selbst Einrichtungen im Medizin- und Pflegebereich vielerorts auf Produkte vom Schwarzmarkt angewiesen. Nicht selten handelte es sich dabei um minderwertige Produktfälschungen, die umgehend vernichtet werden mussten. Michael war schon gespannt, wann auch seine Landesregierung ungeachtet der Verhältnisse eine allgemeine Atemwegsschutzpflicht erlassen würde. In einigen Regionen gab es sie bereits.

Der Discounter war zwischenzeitlich in Sichtweite gekommen – und der vollbesetzte Großparkplatz davor ebenso. Michael schüttelte den Kopf. Ja, ja, jeder, der nicht im Heimbüro festsaß, ging auf die Jagd. Durch die Schaufensterscheibe erkannte er im Inneren des Ladens Kunden, die sich in ihrem Ringen um die Artikel des alltäglichen Grundbedarfs die Einkaufswagen in die Hacken fuhren, wenn sie sich aus diesen nicht gerade gegenseitig Nudelpackungen und Konservendosen herausnahmen.

Michael war echauffiert. »Wie schnell die Menschheit doch degeneriert«, sagte er laut und schüttelte den Kopf angesichts eines Mannes, der wild gestikulierend und mit hochrotem Kopf auf eine völlig überforderte Kassiererin einbrüllte.

Dann doch lieber zu Rewedeka! Dieser Supermarkt lag nur drei Straßen weiter, und die Filiale hatte Sicherheitskräfte im Einsatz. Ihre Bediensteten mochten es ihr danken!

Tatsächlich stand dort vor der Eingangstür ein in Schwarz gekleideter, muskelbepackter Hüne mit Knopf im Ohr und blickdichter Sonnenbrille über dem zugekniffenen Mund. Pflichtbewusst ließ er die Kunden nur einzeln eintreten.

»Bitte haben Sie Verständnis:

Nicht mehr als 10 Personen gleichzeitig im Laden.«

Das stand auf einem Schild neben dem Eingang. Davor hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Jeder, der sich nicht daran hielt, wurde augenblicklich von Security Man, wie Michael diesen Superhelden des Alltags scherzhaft nannte, auf den Anderthalb-Meter-Sicherheitsabstand aufmerksam gemacht. Als wären die auf dem Gehsteig angebrachten Kreidemarkierungen nicht eindeutig genug! Michael stellte sich brav hinten an.

»Wissen Sie, ob die Postannahmestelle da drinnen offen hat?«, fragte ihn eine Rentnerin mit Rollator, die in der Reihe vor ihm stand.

»Mit Sicherheit«, sprach er der Frau Mut zu.

»Aber ob sie noch Briefmarken haben? «

»Das kann ich Ihnen nicht mit Sicherheit sagen. Aber ich gehe davon aus. Briefmarken sind zum Hinternabwischen doch ein wenig klein.«

Damit hatte er sie eigentlich zum Lachen bringen wollen, sie jedoch blickte nur verwirrt durch ihre dicken Brillengläser. »Wissen Sie, ich muss unbedingt diesen Brief an meine Cousine Erna in Bielefeld schicken, sie hat es doch so mit dem Ischiasnerv und –«

»Bielefeld, sagten Sie? Dann brauchen Sie sich gar keine Gedanken zu machen.«

»Nein?«

»Nein. Bielefeld existiert nämlich nicht.«

Die Rentnerin sah ihn entsetzt an.

»Aber haben Sie denn nicht gehört?«, tönte es da fünf, sechs Personen hinter ihnen. »Bielefeld existiert wieder! Haben sie erst kürzlich bewiesen.«

Egal, wie schlau man daherredete – es gab immer einen noch größeren Schlaumeier. Der machte das Fragezeichen über dem Kopf der armen Dame aber auch nicht kleiner.

»Hören Sie nicht auf die beiden, gute Frau.« Ein Mann weiter vorn in der Schlange schaltete sich ein. »Und machen Sie sich keine Sorgen: Meine Tochter war heute Vormittag hier und meinte, es wäre eine ganze Lieferung frischer Briefmarkenrollen eingetroffen.«

»Oh, das beruhigt mich jetzt aber ungemein, lieber Herr.« Die Angesprochene drehte sich wieder nach vorn. »Erna hat doch auch bald Geburtstag, da wird sie sich über einen Brief von ihrer Cousine freuen.«

»Das wird sie ganz sicherlich«, pflichtete der Mann ihr bei.

»Das ist ja gerade alles nicht so einfach, wissen Sie, und …«

Michael hörte nicht weiter zu. Er konnte aber nicht umhin, fasziniert festzustellen, wie kommunikativ und auskunftsfreudig die Menschen geworden waren. Das kannte er von seinen Landsleuten sonst gar nicht!

Schließlich war Michael als Erster vor Security Man angelangt. Als eine junge Frau den Laden zur anderen Tür verließ, ließ ihn der Hüne eintreten. Michael ging achtlos an den aufgereihten Einkaufswagen vorbei. Er war ja nur wegen eines einzigen Produkts hier. Am entsprechenden Regal empfing ihn gähnende Leere statt säuberlich aufgerolltem, kuschelweichem Dreilagigem im Zehnerpack. Und ein ausgedruckter Zettel, der mit Klebestreifen befestigt war:

»Sehr geehrte Kunden,

aufgrund der hohen Nachfrage verkaufen wir pro Einkauf maximal zwei Packungen Toilettenpapier.

Damit möglichst viele Haushalte versorgt werden können.

Wir bitten um Ihr Verständnis,

Ihre Filialleitung.«

Wohl jene Filialleitung hatte mit rotem Filzstift darunter ergänzt:

»Ja, Klopapier ist alle!

Nein, wir bekommen heute keines mehr rein!«

»Ja, leck mich doch am Arsch!«, fluchte Michael durch die Reihen. Mehrere andere Kunden schauten von den haltbaren Fertiggerichten, die sie in den Händen hielten, auf. »Hättet ihr dieses Scheißschild nicht draußen aufhängen können!?!«

»Bitte bleiben Sie doch ruhig …«

Michael fuhr erschrocken herum. Dabei fegte er mit dem rechten Arm versehentlich mehrere Konservengläser vom Regal, die laut klirrend am Boden zerschellten und ihren Inhalt auf die Steinfliesen ergossen. Mit der rechten Hand kam er dem Gesicht der zierlichen Verkäuferin, die beschwichtigend herbeigeeilt war und sich nun mit Schrecken vor ihm wegduckte, gefährlich nahe.

Michael erschrak vor sich selbst, doch er war bereits in Fahrt geraten. »Ruhig bleiben soll ich?«, fuhr er also lautstark fort. »Über eine Viertelstunde habe ich da vor der Tür gestanden und mir die Lebensgeschichten des halben Stadtteils reinpfeifen müssen!«

Das Mädchen startete einen zweiten Versuch, seinen Kunden zu besänftigen. »Ich kann Sie ja verstehen. Aber das ist doch kein Grund, sich so aufzuregen.«

Für eine Millisekunde hielt Michael inne. Sie hatte recht! Eine weitere Millisekunde später jedoch hatte sich das Teufelchen auf seiner linken Schulter gegen das Engelchen auf der rechten durchgesetzt: Hier ging es ums Prinzip, um welches auch immer! Und auf Prinzipien konnte Michael schon immer besonders gut herumreiten. Entsprechend hob er nun den Zeigefinger. »Du sagst mir nicht, wann ich mich aufzuregen habe und wann nicht!«

»Denken Sie doch an die anderen Kunden.« Das Mädchen gab noch nicht auf, allerdings mit zunehmend brüchiger Stimme.

»Das tue ich doch, verdammt! Weil ich jetzt unnütz hier drin stehe, steht sich irgend so eine andere arme Sau in der Schlange da draußen die Beine in den Bauch!«

Die Verkäuferin antwortete nicht mehr. Das übernahmen zwei kräftige, behandschuhte Hände, die Michael von hinten packten.

»He, eineinhalb Meter, eineinhalb Meter!«, schimpfte Michael vergebens gegen Security Man an, der ihn, ohne eine Miene zu verziehen, durch die Regalreihen schob. Michael sah noch, dass sie um die Kassiererinnen herum Plexiglasabschirmungen aufgebaut hatten, bevor ihn der Einbauschrank auf Beinen vor die Tür setzte – und entsprechend dem nächsten Kunden Einlass gewährte. Zwei letzte Worte hatte er noch für Michael: »Du Hausverbot. «

Die anstehende Menge spendete Applaus, und Michael zog gekränkt von dannen. Die sollten nur abwarten, so leicht gab sich ein Ritter nicht geschlagen! Und bis morgen dürfte die eine Rolle Klopapier noch reichen.

Sein Rückweg führte Michael wieder über den Volkspark. Dort traf ihn fast der Schlag:

»DAS ENDE IST NAH!«

Michael rieb sich die Augen, schaute noch einmal hin. Ja, da stand wirklich

»DAS ENDE IST NAH!«

in fetten, filzstiftgeschriebenen Großbuchstaben auf einem Pappschild. Es hing vor dem nackten Oberkörper eines unrasierten Zausels mit Atemschutz, der sich etwa hundertfünfzig Meter von ihm entfernt beim Spielplatz aufhielt. Michael klappte der Unterkiefer zur Kniekehle. Da vibrierte sein Mobiltelefon in der Jackentasche. Er löste sich vom Anblick des Mannes, der so sendungsbewusst auf einer Bierkiste stand, und entsperrte das Handydisplay: Tom, endlich!

»Komm bitte früher in den Sender. Wir haben was zu besprechen.«

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+++ Mehr als 800.000 neue Schutzmasken im bayerischen Zentrallager angekommen. +++

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+++ Russland ruft die internationale Staatengemeinschaft zu engerer Zusammenarbeit auf. +++

+++ Nach sechs Jahren fällt die schwarze Null: Nachtragshaushalt mit Neuverschuldung von rund 156 Milliarden Euro beschlossen. +++

+++ Vierzehn europäische Staaten führen Grenzkontrollen im eigentlich kontrollfreien Schengen-Raum ein. +++

+++ 44.000 Fans: Atalanta Bergamos Champions-League-Sieg am 19. Februar in Mailand Verstärker der Pandemie? +++

+++ Argentinien: Ein Busfahrer schützt die Armaturen seines Fahrzeugs mit einer Plastikfolie. +++

+++ Ausgangssperre in Italien: Polizei überwacht Bevölkerung mit Drohnen. +++

+++ Madrid: Eishalle zu Leichenhalle umfunktioniert. +++

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