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Systemische Familien-/Kommunikationstherapie als methodische Grundlage Sozialer Arbeit

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Die Familientherapie, die in den 1950er Jahren vor allem in den USA entstanden ist, hat insbesondere zwei Wurzeln: zum einen die Sozialarbeit und zum anderen die Schizophrenieforschung; »Beides sind Bereiche, die die Erfahrung vermitteln, dass das menschliche Individuum nicht ›kleinste therapiefähige Einheit‹ ist« (Simon 1983, S. 349 f.). Genau dies ist auch der Grundgedanke der Familientherapie: Menschliches Verhalten ist abhängig vom System (Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft etc.), in dem es gezeigt wird, sodass man menschliches Verhalten nur verstehen und Menschen nur zur Veränderung anregen kann, wenn man das jeweils verhaltensrelevante System betrachtet bzw. behandelt (z. B. die gesamte Familie).

Die verschiedenen Schulen der Familientherapie (die von der Psychoanalyse kommende Familientherapie [z. B. H. Stierlin]; die strukturelle Familientherapie [z. B. S. Minuchin]; die Kurztherapie bzw. systemische Familientherapie [z. B. Mailänder Schule: M. Selvini Palazzoli; Mental Research Institute Palo Alto: P. Watzlawick] sowie die entwicklungs- bzw. erfahrungsorientierte Familientherapie [z. B. V. Satir]) entstanden aus der Erfahrung, dass psychologische Therapien mit einzelnen Personen häufig erfolglos blieben – besonders bei schwer wiegenden psychiatrischen Symptomen und Multiproblemfällen. Es zeigte sich, dass es nicht ausreicht, sich therapeutisch oder beraterisch auf die Psyche der jeweils zu therapierenden Personen zu beziehen, weil ihr (symptomatisches) Verhalten abhängiger erschien von den familiären Beziehungen, in denen die Personen lebten, als man gemeinhin (etwa im psychoanalytischen Denken) annahm.

Die systemische Familientherapie begreift daher Verhalten von Menschen als eine Funktion bzw. als eine abhängige Variable von (zwischenmenschlichen) Systemen. Individuelles Verhalten ist nur sinnvoll verstehbar, wenn es in seinem jeweils relevanten systemischen Kontext betrachtet wird. Jedes soziale Verhalten von Menschen ist ein auf andere Menschen bezogenes Verhalten. Somit ist es wichtig, die Bedeutung und die Kommunikationsregeln der relevanten zwischenmenschlichen Beziehungen (der Systeme) zu kennen, wenn man Verhalten verstehen bzw. verändern will. Insbesondere die Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung von Verhalten erscheinen in diesem Zusammenhang abhängig von den Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung der Kommunikationsregeln von Beziehungen.

Schon die ersten von dem Anthropologen Gregory Bateson (s. 1981) durchgeführten kommunikationstheoretischen Studien in den 1950er Jahren offenbarten, dass der Sinn menschlichen Verhaltens, der im interaktiven Kontext immer kommunizierend wirkt (»Man kann nicht nicht kommunizieren«; s. u.), nur verstanden werden kann, wenn Verhalten in seinem (kommunikativen) sozialen Kontext gesehen wird. Am Beispiel des Verhaltens von als schizophren diagnostizierten Familienmitgliedern wurde deutlich, dass Schizophrenie nicht nur das Symptom eines Patienten ist. Vielmehr entdeckten Bateson und seine MitarbeiterInnen, dass schizophrenes Verhalten Resultat einer (paradoxen) Kommunikation in einem bestimmten sozialen Kontext ist (s. dazu auch Watzlawick u. a. 1969, S. 171 ff.). Schizophrene Verhaltensmuster erscheinen demnach als die einzig mögliche Reaktion auf einen absurden zwischenmenschlichen Kontext.

Der Ausgangspunkt der familientherapieorientierten Konzepte der Sozialen Arbeit ist das Verständnis der menschlichen Interaktion als ein System (vgl. Watzlawick u. a. 1969, S. 115 ff.), das sich von einer Umwelt abgrenzt und aus »Mit-anderen-Personen-kommunizierende[n]-Personen« (ebd., S. 116) besteht. Neuere familientherapeutische bzw. systemische Konzepte betonen allerdings, dass ausschließlich Kommunikationen bzw. Verhaltsweisen (vgl. Simon 1993, S. 104) als Elemente in die Bildung eines sozialen Systems (z. B. einer Familie) eingehen.

Um in der Sozialen Arbeit die helfende Beziehung angemessen zu gestalten, erfordert die SozialarbeiterIn-KlientIn-Interaktion system- und kommunikationstheoretische Kenntnisse auf Seiten der SozialarbeiterInnen, denn soziale Beziehungen sind äußerst komplexe kommunikative Phänomene.

Für die komplexen Phänomene kommunikativer Beziehungen lassen sich nach Paul Watzlawick u. a. (1969) folgende kommunikationstheoretische Axiome nennen:

1. Man kann nicht nicht kommunizieren.

2. Jede Mitteilung hat einen Beziehungs- und einen Inhaltsaspekt.

3. Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Ereignisfolgen bestimmt.

4. Jede Kommunikation bedient sich analoger und digitaler Modalitäten.

5. Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht.

Auch für die ein soziales System konstituierenden Kommunikationsprozesse gilt wie für alle Beziehungen innerhalb einer jeden systemischen Ganzheit, dass sie »immer schon mehr und anders geartet [… sind …] als die bloße Summe der Elemente, die [etwa …] Kommunikanten in [eine …] Beziehung hereinbringen« (ebd.). Watzlawick beschreibt die Kommunikationsprozesse entsprechend der Systemtheorie, wenn er formuliert, dass »nicht nur […] eine Ursache eine Wirkung [erzeugt], sondern jede Wirkung wirkt ihrerseits ursächlich auf ihre eigene Ursache zurück. Daraus entstehen Komplexitäten, die sich jeder Reduktion auf ihre Einzelbestandteile entziehen« (ebd.).

Da Verhalten, wie das Systemdenken lehrt, nicht verstehbar scheint, wenn der soziale Kontext, in dem es auftritt, vernachlässigt wird, ist der Erfolg sozialarbeiterischer Interventionen davon abhängig, inwieweit die SozialarbeiterInnen in der Lage sind, die konkreten psychischen, gesellschaftlichen und familiären Bedingungen ihrer KlientInnen in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten einzuschätzen. Hierfür bietet die systemische Familientherapie vielfältige Erklärungsund Problembeschreibungsmöglichkeiten: z. B. das Genogramm, zirkuläres Symptomverständnis, Balance zwischen Veränderung/Wandel und Bestand/Kontinuität, Kontexterweiterung, Perspektivwechsel.

Kritik: Auch die familien- und kommunikationstherapeutischen Ansätze in der Sozialen Arbeit erfuhren unterschiedliche Kritik. Eine Kritikerin dieser Ansätze ist Silvia Staub-Bernasconi (1995, z. B. S. 232), die beispielsweise die strikte Trennung biologischer, psychischer und sozialer Systeme problematisiert, wie sie der Soziologe Niklas Luhmann (1984) vorgeschlagen hat und wie sie von einem bedeutenden Strang der Systemtherapie aufgenommen wurde (s. etwa Simon 1993). Nach Luhmanns Theorie löst sich der Mensch in das biologische und psychische System auf und gehört zur Umwelt des sozialen Systems (vgl. einführend auch Kleve 1996a). Genau diese Sichtweise kritisiert Staub-Bernasconi.

Die starke Anlehnung systemtherapeutischer Ansätze an soziologische und kybernetische Theorien könnte möglicherweise auch dazu geführt haben, dass die Dimension des Emotionalen bei der systemorientierten Sozialen Arbeit zunehmend vernachlässigt wird, was in aktuellen Diskussionen – etwa von Heinz J. Kersting (2002) z. B. in Anlehnung an Tom Levold (1997; 1998) und Rosemarie Welter-Enderlin (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 1996; 1998) – kritisiert wird.

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