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I.10

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Aus der Aufklärung und dem Empirismus sind zwei unterschiedliche philosophische Strömungen hervorgegangen. Einmal die analytische Philosophie seit Bolzano und zum anderen die Romantik und die neuen Kulturwissenschaften. Beide unterscheiden sich in ihren Sprachkonzepten und Theorien, aber auch in ihren Einstellungen zum körperlichen Leben und zu den Emotionen. Bei Kritikern der Aufklärung, wie Rousseau oder Herder und Humboldt usw., erfüllten die Emotionen eine wichtige Rolle, und zwar als Ausgangspunkt der Beziehungen des Menschen zu seinem Körper und zu seiner Geschichte, wie Frederic Nef schreibt (F. Nef, Le Langage, un approche philosophique, Paris 1993, Teil 2).

Möglicherweise ist es also angemessen, sich an die Physik, als unsere erste Wissenschaft, und an unser körperliches Dasein überhaupt zu erinnern. Zwar entstehen Wissenschaft und Kunst erst, wenn der unvermittelte und unaufhörliche Druck, das tägliche Lebens zu erhalten, nachlässt, aber zugleich wäre unser Leben ohne unseren Körper, ohne die Kontinuität der körperlichen Welt, ohne die Tiere und Pflanzen ohne jeden Inhalt. Der Geist erhält ebenso viel von der körperlichen Welt, wie er dorthin zurückgibt. Ohne den körperlichen Kontext erfassen die Fakten oder Informationen unsere Emotionen und unseren Handlungswillen nicht (A. Damasio, DescartesIrrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 1997). Emotionalität ist ansteckend, aber »blind«, wie schon Descartes sagte. Und Erkenntnis muss sich häufig gegen das intuitiv Erlebte und Erfahrene durchsetzen. Andererseits sind unsere Intuitionen die Basis dafür, dass wir überhaupt zu denken und zu handeln beginnen.

Die Natur ist allerdings indifferent gegenüber unseren Emotionen und Bedürfnissen. Natur gibt es auch auf dem Mond. Für die wilden Tiere sind andere Lebewesen Feinde oder Beute oder sie sind ihnen gleichgültig. Auch die jahrhundertealten, verschlungenen Baumstämme bedeuten nichts, und ebenso wenig die Eleganz der Bewegungen der Tiere, der Leoparden und Hirsche. Und es scheint uns Menschen angemessener, die Natur zu gestalten als bloß in sie einzutauchen, das Leben am Rande der Stadt, im Wald und in der Natur zu beobachten und seine Gesetze zu ergründen, anstatt seine Gefühle dort wiederfinden zu wollen, Parks und Plantagen anzulegen, anstatt in der Wildnis zu hausen. Dennoch gibt uns das Dasein aller anderen Lebewesen die Grundlage auch unserer Gefühle, da wir ja von dorther kommen. Und der Mensch wird so zu einem sehr komplexen Universum: ein etwas zu hoher Blutdruck, ein Mausebiss in den großen Zeh, eine zündende Idee, ein ansteckender Hass, ein Geschmack, ein Gefühl, jedes kann alles auslösen.

Wenn man das ununterbrochene monotone Rauschen des tropischen Meeres und den Anschlag der Wellen am Strand hört und bedenkt, dass bereits Christopher Columbus das exakt gleiche Geräusch im Ohr gehabt hat und dass Leibniz daraus eine gegen den Cartesischen Dualismus von Körper und Geist gerichtete Philosophie der Kontinuität abgeleitet hat (vgl. Monadologie), und wenn man sich an Marcel Prousts in Tee getauchtes Madeleine-Törtchen erinnert, welches die Vergangenheit lebendig machte und so eindrücklich jene Philosophie der Kontinuität exemplifizierte, dann fühlt man den Zusammenhang und die Kontinuität des Lebens und der Geschichte am eigenen Leib und es zeigt sich hier vielleicht eine Unzulänglichkeit in der üblichen Art der Wissenschaften, die Natur nur als Objekt und nicht als auch selbst aktiv und bewegt zu verstehen.

Die Natur kennt keine Zeit. Es ist augenblicklich beinahe Herbst, die Landschaft nun fast langweilig, sehr ausgeräumt, aber beruhigend, Bauernland eben. Von der Zeit braucht hier nicht geredet zu werden – vielleicht von der Arbeitszeit, der Essenszeit, der Jahreszeit, Sterbenszeit, alles nur Teile in einem kontinuierlichen, weiten Raum. In der Biologie wird die je besondere Zeit einer Spezies durch eine bestimmte Frequenz gemessen, bei der eine flackernde Lichtquelle als konstanter und kontinuierlicher Lichtstrom empfunden wird (critical flickering frequency). Und ist nicht dieser Herbst, beispielsweise, derselbe wie der letzte und dieser Geschmack derselbe wie ein vergangener (früher hatte jeder Wochentag sein bestimmtes Mittagsgericht)? Marcel Proust hat fast 8000 Seiten lang darüber reflektiert:

»Sobald ich den Geschmack«, schreibt Proust, »jener Madeleine wiedererkannt hatte, die meine Tante mir, in Lindenblütentee getaucht, zu verabreichen pflegte, trat … ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten, auf aus einer Tasse Tee«. Die Zeit steht still und die Distanz der Geschichte ist verschwunden und das Leben gewonnen. Die Welt wird zum Kontinuum. Eigentlich geht es nicht um die Natur an sich, sondern um das Verhältnis von Natur und Kultur. Dennoch sollte deutlich sein, dass Historiographie und Evolutionstheorie uns ein je anderes Bild vom Verhältnis von Natur und Kultur zeichnen würden und die Entwicklung sich in viele Ebenen aufspaltet.

Ohne Körper gäbe es keine Empathie, kein allgemeines Bewusstsein und keine Möglichkeit der verständigen Interpretation (vgl. Chr. Keysers, Unser empathisches Gehirn, München 2013, S. 129 ff.). Durch Empathie müssen einerseits die Zufälle, Härten und Brüche, die das Schicksal des Einzelnen ausmachen, und andererseits der globale Zusammenhang und die Kontinuität miteinander vermittelt werden. Weder eine andere Sprache, eine andere Kultur noch eine andere Epoche kann verstanden werden ohne die Kontinuität, die das gemeinsame körperliche Dasein vermittelt. Wie kann man eine Hexenverbrennung oder die Einkerkerung des Marquis de Sade in Charenton verstehen ohne eigenen Leib und ohne die Ideen zu kennen, die der Marquis so leidenschaftlich verfolgte? Der Großinquisitor konnte das Ritual der Folterung nur inszenieren, indem er den Körper vom Menschen abtrennte und dies zugleich in einem Akt der Schizophrenie vergaß, denn er benötigte die Theologie.

Wie andererseits nicht die Gefangenschaft und Partikularität sehen, in der Verbrannte und Henker sich befinden und der Betrachter, man selbst auch!? Bewusstheit ist an körperliches Dasein gebunden in einem doppelten, widersprüchlichen Sinne der Befangenheit und Befreiung zugleich. Es scheint so, dass dies die Philosophen von Descartes über Kant, Marx und den Pragmatismus vor allem bewegt hat. Ohne Fesseln, insbesondere ohne die Beschränkungen des körperlichen Daseins, kann man sich auch keine Kreativität denken. Wer Musik machen will, muss den Ton auf seinem Instrument treffen; wer zeichnen will, muss über eine bestimmte Koordination von Hand und Auge verfügen; wer Mathematiker sein will oder rechnen will, muss Muster erkennen und behalten können, usw. usf. Aber der Versuch, diese Anforderungen zu erfüllen, gibt dem Menschen auch viel zurück. Wie Woody Allen, ein begeisterter, mittelmäßiger und auf der ganzen Welt bekannter Klarinettenspieler, einmal gesagt hat: »I have to pracice every single day to be as bad as I am« (NY Times, 25. 10. 2013).

Nun fragt man sich beispielsweise, insbesondere angesichts der Turbulenzen unseres individuellen und politischen Lebens: »Kann man aus der Geschichte etwas lernen?« Man kann das sicher nicht im Sinne der klassischen Vorstellung einer »Uniformität der Natur und der Welt« (Mill). Aber man kann doch vielleicht synthetische Urteile fällen, ausgehend von einem Kontinuitätsprinzip der folgenden Art: »Erfahrungen, deren Bedingungen dieselben sind, werden dieselben allgemeinen Merkmale haben« (Peirce, Collected Papers 2.692; vgl. im selben Sinne: W.V.O. Quine, Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975, S. 160).

»All inferences from experience suppose as their foundation that the future will resemble the past«, schreibt David Hume in seiner Enquiry concerning Human Understanding. Handeln allein auf der Basis vergangener Erfahrung funktioniert selten und hängt in seiner Zuverlässigkeit stark vom Kontext ab. Es ist schließlich die ökonomische und kulturelle Dynamik gewesen, die Humes Skeptizismus Recht gegeben hat. Die Wissenschaften und Technologien dürfen in ganz unterschiedlichem Ausmaß von der Annahme ausgehen, dass die Zukunft der Vergangenheit ähneln wird. Daraus ist dann der Pragmatismus entstanden als eine der Wurzeln der analytischen Philosophie.

Von Bacon (1561–1626) und Galilei (1564–1642) bis zu Kant hat man immer wieder die Bedeutsamkeit des Experiments als einer »Folterprozedur«, die die Wirklichkeit zum Sprechen bringen sollte, hervorgehoben. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Experimente stets auch zugleich Gedankenexperimente sind, die den Begriffsapparat und die Theorien weiterentwickeln. Theorien sind, wie gesagt, eben keine mehr oder minder getreuen Bilder der Wirklichkeit, sondern ein Mittel und Instrumente zu menschlichen Zwecken und damit durch eine komplizierte Wechselwirkung von Anwendung oder Verifikation und Verallgemeinerung bestimmt. Charles Peirce hat dies Problem in der sogenannten »Pragmatischen Maxime« deutlich ausgedrückt (vgl. oben)

Einerseits verknüpft die pragmatische Maxime Bedeutung und Anwendung. Andererseits ist die Bedeutung einer Theorie sicherlich von jeder einzelnen Anwendung oder Interpretation derselben zu unterscheiden. Die Bedeutung repräsentiert gewissermaßen die Gesamtheit aller Anwendungen, der gegebenen und der nur möglichen. Diese Gesamtheit ist jedoch keine wohlbestimmte Menge (Collected Papers 5.526), und Bedeutungen sind allgemein im Sinne von mehr oder minder bestimmten Möglichkeiten des Denkens, Fühlens und Tuns. Man kann also die Bedeutung von Begriffen und die Wahrheit von Sätzen niemals durch Verifikation endgültig bestimmen, dem theoretischen Unternehmen der Wissenschaften muss daher ein eigener Platz eingeräumt werden und es muss sich als eigener Kontext entwickeln können. Begriffe oder Theorien sind von einem anderen logischen Typus als die Daten oder Anwendungen, auf denen sie beruhen.

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