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Wie wir bisher gesehen haben, dreht sich so vieles und philosophisch Bedeutsames um die Relation zwischen Allgemeinem und Einzelnem. Stets bewegen wir uns in einem Gewimmel von Informationen, Interessen und Instrumenten und hegen doch die Vision von etwas Allgemeinem und permanent Überdauerndem.

Es verdankt sich tatsächlich alles Allgemeine, Umfassende und Bewegende dem Einzelnen, dem eher kontingenten Ereignis. Es entspringt der bewussten Wahrnehmung einer besonderen Konstellation und der dadurch hervorgerufenen oder stimulierten Aktivität und dem Einfall. Demselben muss dann das ganze Universum günstig sein, damit er in eine allgemein wahrnehmbare Form münden kann, als Grundlage einer Erkenntnis- oder Wahrheitssuche. Jede mathematische oder wissenschaftliche Theorie hat ihren Ursprung in einer persönlichen Geschichte und jeder formale Beweis beginnt mit einem Gedankenexperiment. Und hätte A.R. Wallace den Wettlauf um die Publikation des Evolutionsgedankens gegen Darwin gewonnen, »dann hätten wir heute eine vollkommen andere Evolutionstheorie« (G. Bateson, Geist und Natur, Frankfurt 1984, S. 57 f.). Wiederum wäre hier Bateson selbst an seine eigene Charakterisierung der Evolution als sich entwickelnder Kontext zu erinnern, und daher ist seine Behauptung einer »vollkommen anderen Evolutionstheorie« mit einer Prise Salz zu nehmen.

Man sieht, dass selbst der Instrumentalismus der positiven Wissenschaften stets hin und her schwankt zwischen der Sehnsucht nach einer allgemeinen Idee oder Wahrheit einerseits und sehr spezifischen Interessen aller Art andererseits. Von Euklid bis zur modernen Mathematik ist beispielsweise darüber gestritten worden, ob es bei der mathematischen Tätigkeit um das Problemlösen gehe oder ob nicht die umfassende, allgemeine Theorie das Ziel wäre (vgl. Proclus’ Kommentar zu Euklid; vgl. auch T. Gowers, »Two Cultures in Mathematics«, in: V. I. Arnold, et al (eds), Mathematics: Frontiers and Perspectives, AMS Publ 2000.).

Die Moderne ist, wie Peter Gay ausführlich dargestellt hat, durch eine »expressive Wendung nach innen« vieler ihrer Talente und kreativen Geister gekennzeichnet (P. Gay, Die Moderne, Frankfurt, 2008; vgl. in demselben Sinn auch N. Wiener, »Pure and applied mathematics«, in: P. Henle a. o. (Eds.), Structure, method and meaning, New York 1951). Daher gibt es auch in der Philosophie die Zweiteilung in »Aufklärer« einerseits und »Romantiker« und »Artisten« andererseits. Richard Rorty hat die analytischen Philosophen halb verächtlich als »Realisten und Aufklärer« bezeichnet und sich zu den Artisten geflüchtet (Kapitel VIII.).

Jeder Mensch benötigt zugegebenermaßen ein Projekt im Leben, und er hofft, dass dasselbe ihn aus den engen Fesseln seiner Zufälligkeit und Partikularität befreit. Und wenn er ein Schriftsteller, Künstler oder Wissenschaftler ist, dann wird er das Werk (die Theorie, den Roman, das Bild, etc.) wahrscheinlich eher als Mittel der eigenen Perfektion denn als Instrument der Belehrung anderer verstehen. Der Mensch steckt fest zwischen Symbol und Gegenstand.

Die Konsequenz des Handelns und der Versuch, konsistent zu sein, arbeiten jedoch gegen die kontextuellen Bedingungen, so dass das Ganze auch implodieren kann oder, weit genug getrieben, auch implodieren muss. Die Sprachbeherrschung und schriftstellerische Meisterschaft von Franz Kafka, beispielsweise, ist so überwältigend, dass man ihm auch seine Verwandlung in ein Insekt, in ein »Ungeziefer«, wie er selbst schreibt, aufs Wort glaubt (vgl. F. Kafka, Die Verwandlung, 1915). Und dennoch besteht die permanente Möglichkeit, dass Kunst oder Wissenschaft zur bloßen l’art pour l’art zusammenschrumpft.

Ein amerikanischer Kritiker hat einmal behauptet: »Joyce and Proust work from detail to generality, Kafka works from generality to detail«. So etwas ist sicher unwahr, denn für einen Schriftsteller sind Form, Stil und Atmosphäre der Sprache alles. Selbst bei der alltäglichen Kommunikation gilt es stilistische Kontexte zu sehen bzw. zu konstruieren. Wenn beispielsweise Herr A. eine Reise macht, auf der ihm alle möglichen Widrigkeiten begegnen und er nur knapp dem Tod entrinnt und wenn er dann seinen Freunden davon in einem Brief berichtet und diese meinen, er solle sich bitte schön nicht dauernd beklagen, könnte er versucht sein zu antworten: »Meine Herren, sie haben offenbar den Unterschied zwischen den gewöhnlichen Klagen und der Poesie nicht begriffen«. Dieser Unterschied hatte einst das aufstrebende, aber kulturell vom Adel abhängige Bürgertum bewegt. In Molieres Theaterstück »Der Bürger als Edelmann« sagt Monsieur Jourdain:

»Quand je dis : Nicole, apportez mai mes pantoufles, et me donnez mon bonnet de nuit, c’est de la prose?

Maitre de philosophie: Oui, Monsieur.

Monsieur Jourdain: Il y a plus de quarante ans que je dis de la prose sans que je n’en susse rien …«

Der Kontext der Sprache versieht, wie gesagt, selbst Franz Kafkas Bericht über seine Verwandlung in ein Insekt mit Glaubwürdigkeit, denn jedermann fühlt die Notwendigkeit, die dahintersteckt und die nicht mehr dieselbe ist, welche Monsieur Jourdain bewegt hatte.

»… unbegreiflich, dass es jedem fast, der schreiben kann, möglich ist im Schmerz den Schmerz zu objektivieren«, so Kafka 1917 in seinem Tagebuch. Einige Jahre später notiert er: »Alles erscheint mir als Konstruktion«. Und an seine Verlobte schreibt er: »Ich bin vollständig aus Literatur gemacht, ich bin nichts sonst und kann sonst nichts sein«. Franz Kafka hat sich selbst in Sprache verwandelt, in eine von emotionalem Leben getränkte Sprache, und hat sich dabei aus der Enge seines provinziellen Daseins und seiner leicht verschrobenen Existenz schreibend befreit. Letztlich kann auch Wahnsinn glaubhaft sein (vgl. S. Žižek, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt 2001, S. 50 ff.).

Selbst die reine, klare Sprache verliert irgendwann den Kontakt zur Welt. Alles Denken ist an Kontexte gebunden, an deren Etablierung und Entwicklung. Aber der kreative Instrumentalismus ins Extrem getrieben zerstört seinen Kontext und die Interpretation, wird zufällig oder kontingent. Man endet dann entweder in Chaos und Wahnsinn oder in einer Welt ohne Bedeutungen und ohne Sprache, in einer Welt der bloßen Dinge und inkonsistenten Zeichen. Auch Kreativität kann asozial und sogar selbstzerstörerisch sein.

Es erscheint beinahe paradox zu sagen, dass es keine Erkenntnistheorie gäbe, keine Philosophie, die das Individuum und sein Verhältnis zur objektiven Wirklichkeit beträfe, wo sich doch in unserer Gesellschaft scheinbar alles dauernd um den Einzelnen dreht. Das Paradoxon löst sich jedoch auf, wenn man den absoluten Relativismus wahrnimmt, der alle philosophischen Diskussionen um das Subjekt durchzieht und der nur die Kehrseite des Objektivismus ist, mit dem die Theorien der Physiker und Logiker verkündet werden. Dem isolierten Individuum korrespondiert das isolierte Faktum.

Und wenn das einzelne Individuum den absoluten Bezugspunkt abgibt, dann ist einfach alles möglich. Mr. Jekyll und Dr. Hyde finden heute in den verschiedenen Serien und Tele-Novelas unendlich vielfältige Ausprägungen. Die im Augenblick berühmteste ist wohl Vince Gilligans Breaking Bad. Gilligan wollte nach eigenem Bekunden eine Serie schreiben, in der der Protagonist zum Antagonisten wird. Und die Anlässe für diese Transformationen, nicht nur der Hauptperson, sondern für die gegenseitigen Beziehungen aller Protagonisten, sind vollkommen nichtig und belanglos. Es fehlt gewissermaßen der Gedanke an das Subjekt, als etwas auch Objektives, oder anders, an das Einzelne und Besondere als ein Allgemeines und an das Allgemeine als ein Individuelles. Was die Erkenntnis angeht, hat Karl Marx das Problem einmal auf den folgenden Nenner gebracht: »Es ist gesagt worden und mag gesagt werden, dass das Schöne und Große eben in diesem naturwüchsigen, vom Wissen und Wollen der Individuen unabhängigen, und gerade ihre wechselseitige Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit gegeneinander voraussetzenden Zusammenhang […] beruht. Und sicher ist dieser sachliche Zusammenhang ihrer Zusammenhangslosigkeit vorzuziehen oder einem auf enge Natur und Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse gegründeten nur lokalen Zusammenhang. Es ist ebenso sicher, dass die Individuen sich ihre eignen gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht unterordnen können, bevor sie dieselben geschaffen haben.

Aber es ist abgeschmackt, jenen nur sachlichen Zusammenhang als den naturwüchsigen, von der Natur der Individualität (im Gegensatz zum reflektierten Wissen und Wollen) unzertrennlichen und ihr immanenten, aufzufassen. Er ist ihr Produkt. Er ist ein historisches Produkt. Er gehört einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung an. Die Fremdartigkeit und Selbständigkeit, worin er noch gegen sie existiert, beweist nur, dass sie noch in der Schöpfung der Bedingungen ihres sozialen Lebens begriffen sind, statt von diesen Bedingungen aus es begonnen zu haben. […] Auf früheren Stufen der Entwicklung erscheint das einzelne Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener vollen Entleerung stehenbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen, und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten. (Als Beispiel kann hier genommen werden das Verhältnis des Einzelnen zur Wissenschaft.)« (K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Das Kapitel vom Geld, MEW 42, S. 90 ff.).

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