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VORBEREITUNGEN

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-Wenn Du etwas nicht aus eigener Kraft schaffst, fängst Du an zu glauben-

Obwohl ich weiß was ich durchgemacht habe würde ich noch einmal losgehen…

Die Kompassnadel meines Lebens war nicht mehr genordet und die Segel meines Schiffes schienen schwach in einer lauen Brise zu flattern. Ich habe in meinem Leben bereits vieles erleben dürfen, habe Ausbildungen gemacht und mich immer wieder bewusst selber verändert. Die berufliche Grundausrichtung „Sozialfeld“ habe ich schon vor langer Zeit eingeschlagen. Dennoch trieb ich kurz vor meinem 40. Geburtstag recht unzufrieden dahin. Etwas fehlte. Unklarheit in Beruflichem und Privatem war in mir. Als Midlife Crisis hätte ich es nicht bezeichnet, da ich vor dem anstehenden runden Geburtstag keine Angst verspürte und es mir nicht wirklich schlecht ging. Und doch war da diese Unzufriedenheit in der statistischen Lebensmitte, ein Symptom für den Wunsch nach Etwas. Einer Neuausrichtung. Vielleicht einem Neuanfang?

Für einen hochsensitiven Mann wie mich war der Jakobsweg eine besondere Herausforderung. Hochsensitiv zu sein bedeutet Licht und Schatten gleichzeitig. Man nimmt an, dass 10-20% der Bevölkerung in ihrer Persönlichkeit so ausgerichtet sind. Literatur ist erst wenige Jahrzehnte verfügbar weshalb das Phänomen noch nicht flächendeckend bekannt geworden ist. Einerseits haben alle HSP (High-sensitiv-person) eine feinere, ganzheitlichere Wahrnehmung über ihre Sinne und sind auch intuitiver und medialer ausgelegt. Sie sind sehr empathisch und fallen mit einer hohen kommunikativen und vermittelnden Kompetenz auf, da sie spüren was in ihrem Gegenüber „los ist“. Es sind besonders viele hochsensitive Menschen in sozialen Berufen anzutreffen.

Durch ihre Eigenart komplexer und tiefer zu reflektieren scheinen sie allerdings auch mehr Probleme bewältigen zu müssen. Mehr Rückzug und eine stressfreie Umgebung sind für HSP besonders wichtig, da sie durch ihre Reizoffenheit bei einem zu viel an Informationen sehr deutlich zur Erschöpfung neigen. Dies führt daraufhin im Außen zu einer vehementen Abgrenzung um sich zu schützen um wieder regenerieren zu können. Da sie Lärm-, Schmerz-, und Temperaturempfindlicher sind müssen sie sich eine für sie passende Lebensumgebung schaffen.

Schmerzen und schlimme Situationen vergisst oder verdrängt der Mensch normalerweise. Wir wissen zwar, dass wir sie erlebt haben doch sie verhindern nicht, dass Frauen ein zweites Kind gebären oder wir uns noch einmal auf den Jakobsweg machen.

„Den Jakobsweg gehen“. Diesen Gedanken trage ich seit etwa 15 Jahren in mir. Zwar hab ich nie genau gewusst, was das eigentlich heißt, doch die Faszination war immer da.

Mein spirituelles Interesse, aus dem möglicherweise die Idee entstammt den Jakobsweg zu gehen, wurde bereits Ende der 1990er Jahre durch ein Seminar bei einem Mann namens Art Reade geweckt. Er, verwurzelt in einer indianischen Familie, war derjenige der mir das erste Mal Gott oder „the Boss“ wie er ihn nannte, näherbrachte.

Aus meiner Kindheit kann ich mich was Kirche und Glauben angeht nur an die Erstkommunion erinnern. Mein Bruder und ich wurden, sagen wir, sehr freilassend im christlichen Glauben erzogen. Es war bei uns kein besonderes Thema. Ab und zu war ich in der Kirche, schämte mich aber beim Mitsingen. Beim Friedensgruß wildfremden Menschen die Hand zu schütteln war mir peinlich. Ich verspürte in der Kirche keine besondere Regung in mir. Das Thema Gott und Glauben war mehr oder weniger weit von mir weg, doch nie gänzlich uninteressant. Was meine Meinung über die Kirche anging, hatte ich dieselbe wie viele andere auch. Eine Mainstream Meinung. Gebildet aus Hören-sagen und Zeitungs- und Fernsehberichten. Besonders viel Gutes war wohl nicht dabei.

Die Heavy-metal Musik die ich als Jugendlicher hörte und deren Texte und Bilder haben mich auch später, nach vielen Jahren nicht losgelassen. Obwohl die CD`s schon lange entsorgt waren, habe ich das Gespräch mit einem Priester gesucht um mich zu erkundigen ob die Beschäftigung mit dieser negativen Seite unbewusste Auswirkungen auf mich haben könnte. In dem Gespräch hat mich der Priester, mein heutiger geistlicher Begleiter und Firmpate, beruhigt. Er sagte, solange ich mich mit diesen Sachen nicht mehr beschäftige und mich auf die Seite des Lichtes stelle, sei alles gut. Das Licht vertreibt den Schatten. Es war eine Art Beichte für mich. Er gab mir den Segen und ich war froh dieses Kapitel abhaken zu können.

Aber auch nach dieser Geschichte die erst wenige Jahre zurückliegt, fand ich keinen Zugang zu einem tieferen Glauben. Obwohl ich mich schon sehr lange als suchend empfunden habe. Heute nehme ich an, dass Gott mir eine Möglichkeit eingeräumt hat doch noch einen Weg zu finden. Auf dem Jakobsweg. Meinen Weg. Dem Weg meines Lebens.

Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 2016 kam das Thema in ungewohnt starker Präsenz in mir hoch. Sachlich habe ich gelernt, dass es nicht nur einen Jakobsweg gibt sondern viele, die sich durch ganz Europa ziehen. Außerdem ist nicht der Apostel Jakobus diese Wege gegangen sondern wir gehen diesen Weg zum Grab des heiligen Jakobus in Santiago de Compostela. Wir Pilger.

Und so verdichteten sich die inneren und äußeren Anzeichen, dass es soweit war. Im Job ging es sehr mäßig, meine Paarbeziehung erlosch, ich fühlte kein Ziel mehr und war unzufrieden. Mein Leben war keine Katastrophe, doch eine innere Unruhe befiel mich. Immer mehr spürte ich, dass mich der Weg rief. Oder war es Gott der mich am Weg haben wollte? Ich spürte etwas in mir, dass schwierig zu beschreiben ist. Nachdem ich gedanklich im Kopf das Szenario durchgespielt hatte, etwa 6 Wochen unterwegs zu sein, fragte ich vorsichtig bei meinen Freunden an, was sie denn davon hielten. Zu meinem Erstaunen, waren alle von meiner Idee begeistert. In mir geriet etwas immer mehr in Fahrt. Wie etwas das endlich gelebt werden will. Das heraus will.

Dinge die sein sollen flutschen. Und es flutschte. Die äußeren Umstände, die Argumente mit denen die meisten Abwinken würden (Keine Zeit, kein Geld, Familie) waren bei mir kein Problem. Alles trichterte sich um mich herum. Ich sollte anscheinend auf den Camino Francès. Ich wurde sicherer es tun zu wollen.

Dann sagte ich es meiner Familie. Als ich es ihnen bei einem Familienfest in einem Restaurant erzählte, hatte ich Tränen der Freude und der Rührung in den Augen. Ich glaube da hatte mich der Weg bereits. Ich rechnete mit „naja, aber hast Du Dir das auch gut überlegt“? Gekommen sind nur gute, zustimmende Worte. Als hätten sie es immer gewusst, dass ich mich eines Tages auf den Weg machen würde. Sie haben gespürt, dass dies für mein Leben elementar sein könnte. Über ihre Reaktionen habe ich mich sehr gefreut. Es ist besser und angenehmer Rückenwind in den Segeln zu haben auch wenn mir klar war, dass dieser Ruf nun nicht mehr ausgeschlagen werden konnte.

So war ich also bereits am Jakobsweg angekommen ohne Hagenbrunn verlassen zu haben. Ich fokussierte mich bereits, ohne es zu wissen.

Eines der Dinge die ich aber intuitiv wusste, war: ich schreibe ein Tagebuch. Es wird einiges passieren und das sollte schriftlich festgehalten werden. Für mich, für die Nachwelt, für wen auch immer.

Komischerweise hatte ich in den folgenden Wochen bis zum Abflug immer wiederholend denselben Traum: Ich sitze in der Schule. Mal mit jüngeren Kameraden, mal mit gleichaltrigen. Doch immer war ich Schüler. Einmal sagte die Lehrerin etwas von „Disziplin“. Da mir seit langem meine Traumanalysen wichtig sind und ich weiß, dass speziell Träume die sich wiederholen etwas zum Ausdruck bringen, habe ich mir überlegt, dass ich wohl in den kommenden Wochen wieder Schüler sein werde. In der Schule des Lebens. Ein Schüler der seine Prüfungen zu machen hat und Disziplin lernen darf. Oder muss. Also schreibe ich mir diese Lektion in mein erstes kleines Heftchen. Mein Tagebuch.

Von meiner Entscheidung den Camino zu gehen bis zum Abflug waren es nur etwa vier Wochen. Da ich mich selbst eher als mittelprächtig sportlich eingeschätzt habe, konnte das nur heißen, ran ans Training! So viel bergauf gehen zu müssen ohne Kondition ließ eine gewisse Besorgnis in Erscheinung treten.

Ein freundlicher Physiotherapeut erklärte mir aufbauenderweise am Telefon, dass ich wohl die doppelte Zeit bräuchte um ordentlich frische Fasern auf die vorhandenen Muskeln zu bekommen und um meine Pumpe auf die kommende Belastung vorzubereiten. Tja, das mochte wohl stimmen aber verschieben kam nicht in Frage. Es gab nur einen Zeitslot. Die Zeitgrenze des Gehens bis in den November, wo die Temperaturen schon sehr sanken und viele Herbergen bereits geschlossen haben, war kurz. Jetzt oder nie.

Ende August wagte ich den ersten Test. Einen vorsichtigen. Zehn Kilometer mit einem Kilogramm am Rücken. Heute klingt das lächerlich, vor allem das eine Kilo, doch es zeigt meine damalige Kondition. Es war ein Anfang.

Zwischendurch fing ich an mir meine Sachen die ich fürs Gehen brauchte auf einer bekannten Plattform im Internet zu bestellen. Und das war einiges.

Ich hatte ja nichts, Wandern hatte in meinen Ohren immer einen schönen Klang, doch wirklich machen? Packlisten habe ich im Internet genügend gefunden. Der „Jetzt Bestellen“ Button im Internet glühte. Sportunterhosen und Socken aus Plastik? Na klar, was nutzt mir gemütliche Baumwolle wenn sie nicht schnell trocken wird? Schuhe hab ich unzählige in Geschäften anprobiert und wusste „die noch einzugehen wird sich kaum ausgehen“. Ich entschied mich für ein Paar, das sehr gut am Fuß saß. Drei Wochen hatte ich dieses bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit an um sie nur ja ein wenig weichzukochen.

Stöcke, Handtuch, Hosen, Schlafsack aber auch Dinge wie Flugtickets und ganz wichtig mein Pilgerpass, mein „Credencial del Peregrino“ mussten besorgt werden. Doch gut organisiert war ich schon immer und die Erledigungen waren rasch abgeschlossen.

Dazwischen standen immer wieder Trainingsläufe am Programm. Meine Feuertaufe und mein „wenn ich das schaff, dann kann ich es schaffen“ Walk war einmal rund um den Bisamberg mit fünf Kilo am Rücken. Start war in Wolfsbergen, meinem Wohnort. Mein erstes Ziel war ein Abstecher zu meinem besten Freund, der mir Rucksack und Stöcke borgen wollte. Am Weg frage ich meinen Körper: „ist es nicht schön zu gehen, ist es nicht herrlich so sein zu können? Willst Du mit mir gehen? Die Antwort aus meinem Innern war ein klares „Ja!“.

Dooferweise habe ich mir, da ich es ja richtig wissen wollte, einen super sonnigen Tag für die Generalprobe ausgesucht. Kapperl hatte ich zwar am Kopf, doch das hat leider nur wenig gebracht. Ein kleiner Sonnenstich am Abend war das Ergebnis. Inklusive einer üblen Migräne. Über dem Badewannenrand hängend habe ich den Abend verbracht. Doch: Geschafft hab ich den Probelauf und die Kampfspuren vergehen. 20 Kilometer. Diese Zahl sollte sich als mein späteres Tagesetappenziel in Spanien herausstellen.

Mein rechtes Knie tat mir die ganze Zeit über mehr oder weniger weh. Vielleicht sollte ich nocheinmal zum Orthopäden gehen? Stelle sich einer vor das Knie macht nicht mit. Auf seiner Untersuchungsliege in gespannter Erwartung seines Befundes hat der Herr Doktor vehement an meinem Knie herumgedrückt. Noch viel schlimmer, er hat mit dem Finger neben der Kniescheibe mehrmals fest hineingedrückt. Vielen Dank auch. Jetzt tut das Knie erst richtig weh.

Doch seine Diagnose lautete: Er hat nichts gegen eine Weitwanderung einzuwenden, mahnt aber ein ich solle bei Bedarf Schmerzmittel zu mir nehmen und langsam losgehen.

Meine Internistin möchte mich übrigens noch einmal auf`s Ergometerradl setzen. „Zu meiner eigenen Beruhigung“, wie sie sagte. Wie mich Ihr Befund „mäßige Leistungsfähigkeit bei 175 Watt“ beruhigen sollte blieb mir allerdings ein Rätsel. Sie gibt ihr OK und damit habe ich meinen ärztlichen Sanktus.

Bald darauf ist auch der Flug gebucht. Es wird ernst. Das merke ich auch daran, dass immer mehr Pakete mit Bestellungen bei mir eintreffen. Es ist wie Weihnachten. Tolle, neue Sachen packe ich aus. Alles Profisachen die ich brauchen werde. Gut, nicht alles Profisachen. Manches muss aus finanziellen Gründen eben mit dem Prädikat „Amateur“ auskommen.

Mein Training geht unterdessen weiter. Die Kniescheibe knirscht weiterhin beim Zimmerfahrradfahren. Nach einer dreiviertel Stunde radeln ist mir außerdem regelmäßig der Allerwerteste eingeschlafen. War aber auch fad.

Inzwischen sind es nur noch zwei Tage bis zum Abflug und meine Nervosität steigt. Werden die schönen Dinge die Unwegbarkeiten und Entbehrungen aufwiegen?

Wieviel des Alltagslebens kann ich hinter mir lassen? Was werde ich erleben? Was werde ich lernen?

Gut, dass ich mir nur das Notwendigste im Internet durchgelesen habe. So bin ich unbeschwerter und kann mich ganz überraschen lassen.

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