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IN`S PILGERN FINDEN

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2.10. Sansol

Ich wache auf, es ist schon hell und ich bin traurig. Tränen rinnen. Ich weiß nicht genau warum. Möglicherweise liegt es daran, dass es der erste Tag ist an dem ich nicht gehe, nicht mehr auf dem Weg bin. Durch das Fenster sehe ich wie Pilger bereits in`s nächstgelegene Torres del Rio einwandern. Ich bin allein und fühle mich auch so. „Weitergehen“ schreit etwas in mir!

Hat mich dieses neue Leben, das Pilgern schon so stark erfasst?

Gedanken an zuhause erscheinen. Sie machen mich traurig. War die Trennung von meiner Freundin die richtige Entscheidung? Ich fühle mich unwohl. Was ist nur los? In der Nacht habe ich von einer riesengroßen Abschlussprüfung geträumt. 500 Fragen in vier Stunden sollten wir als Krankenpflegeschüler beantworten. Es wird sehr schwierig werden, wird uns vorher noch ermutigend eingetrichtert.

Maria und Rosi kommen mir in den Sinn. Werde ich sie vielleicht nie wiedersehen? Meine ungemütlichen Gedanken korrelieren mit meinem unangenehmen Gefühl. Ist dieser Tag für mich vielleicht das erste Mal ganz anders innehalten? Was ist eigentlich mit spirituellen Erlebnissen oder meinem Wunsch Gott näher zu kommen? Ich merke nichts davon. Kein Wunder, bin ich doch die ganzen Tage über mit meinen Erlebnissen beschäftigt, die nur im Aussen stattzufinden scheinen. Einer Erlebnisreise ähnlich, doch war das der Grund meines Hierseins?

Trotz dieser deutlichen Verstimmung spüre ich regelrecht wie es meinem Körper gut tut einen Tag auszusetzen.

Ich kann schon fast wieder normal im Haus auf und abgehen. In den weichen Plastiklatschen wohlgemerkt. Ich mache ein Foto der großen Blase und von Torres del Rio. Am Nachmittag schlafe ich, nach den 12 Stunden in der Nacht, noch einmal 2 Stunden. Mein Körper braucht viel Ruhe um sich zu reparieren. Um 20 Uhr wird es dunkel. Zuvor darf ich noch einen wunderschönen Sonnenuntergang beobachten. Ich stelle mir den Wecker auf 6:30. Morgen will ich unbedingt weitergehen!

3.10. Logrono

Und ich bin weitergegangen. Um 8 Uhr raus aus dem Haus. Fast ein bisschen wehmütig diesen tollen Ort verlassen zu müssen, mache ich mich auf das in den letzten zwei Tagen durchs Fenster beobachtete Torres del Rio zu durchqueren. Die Lust zu gehen ist grösser als der Schmerz wieder einmal alles Schöne hinter sich zu lassen. Loslassen.

Der Weg nach Viana ist ein dauerndes Auf und Ab. Im wahrsten Sinne des Wortes. Schotterpisten, Pfade und Beton im Wechsel. Rauf und runter im zehn Minuten Takt. Schwierig, aber wenigstens abwechslungsreich zu gehen. Ich lerne mich sehr schnell an verschiedene Untergründe und Niveauveränderungen anzupassen. Meine Stöcke geben mir dabei Halt und Sicherheit. Der Tag Erholung hat mir äußerst gutgetan. Ich gehe wieder schmerzfrei! Gibt`s denn sowas nach nur einem Tag Pause? Juhuu! Was für ein Geschenk.

Viana ist eine schöne Stadt, doch ich bin so gut im Fluss, dass ich an allen Sehenswürdigkeiten vorbeigehe. Nur eine kurze Mittagspause für Speis und Trank lege ich ein, um sofort danach weiterzugehen.

Ich komme immer mehr in den Flow des Pilgerns was Aufstehen in der Früh, Tempo, Wollen, Schmerzen aushalten und Kilometerreichweite angeht. Das fühlt sich gut an und muss eben erst gelernt werden.

Irgendwann, später am Tag komme ich an den Grenzstein der den Bezirk Navarra von der berühmten Rioja trennt. Jetzt ist es nicht mehr weit bis Logrono. 2,6 Kilometer auf Asphalt schreibt der Reiseführer. Als die Stadt aus dem Dunst auftaucht mache ich ein Foto. Langsam geht mir die Puste aus. Allerdings nicht lungentechnisch. Eher mental.

Eine große Brücke führt über den Rio Ebro. Wieder einmal habe ich kein Zimmer gebucht und keine Ahnung wo ich einkehren soll. Ich gehe in Richtung Innenstadt wo ich schnell bemerke, dass ich am liebsten die Stadt gleich wieder verlassen möchte. Groß. Stadt. Flair. Vorbei mit Ruhe und Natur. Bin ich froh, dass ich den vergangenen Pausentag nicht hier machen musste. Ich spaziere an einer Herberge namens „Albergue Logrono“ vorbei. Die schaut auf den in einem Schaukasten befestigten Fotos ganz nett aus.

4 Betten pro Zimmer sind moderat und auszuhalten. Zehn Euro für die Nacht erst recht. Dann eine menschliche Ernüchterung. Im Zimmer angekommen quatscht mich eine Ungarin (so hat sie sich bei der Rezeption vorgestellt), die eigentlich eine Estin (so hat sie sich mir vorgestellt) ist an. Warum ich denn so viele Tage bis hierher gebraucht habe? Ob was passiert sei? Sie ist erst vor 6 Tagen in St. Jean gestartet. An und für sich eine normale Frage.

Wenn ich nicht sofort herausspüren und an ihrer Mimik erkennen würde, dass es ihr um eine ungute Art von Konkurrenzkampf geht, in dem sie mich mitleidig ab-, und sich gleichzeitig aufwerten möchte. Der Jakobsweg als Rennstrecke. Zur Befriedigung des eigenen Egos Rekorde aufstellen. Soll sie doch machen was sie will. Doch mich damit von oben herab beurteilen und schlecht machen ist völlig daneben. Ich ärgere mich. Depperte Kuh. Hat sie verstanden worum es hier geht oder glaubt sie, mit ihrem mitleidigem Blick was Besseres zu sein, weil sie so schnell ist? Sie meint sie habe allerdings schon ihren Rückflug gebucht was sie selber stupid findet. Ich beende das Gespräch und nehme mir vor, diese dauernden Fragen nach „Wo bist du losgegangen?“ und „Wann bist du los?“ in Zukunft zu ignorieren. Bricht hier unser gesellschaftlich verbreitetes Leistungsdenken wieder durch? Sozialdarwinismus am Jakobsweg? Schnell ist gleich erfolgreich? Es ist völlig wurscht wann und wie lange man hier geht und braucht.

Meine Stimmung hebt ein netter Typ im Stockbett unter mir. Ein Mann mit Schnarchmaske. Der Arme schaut jedenfalls jede Nacht aus wie Darth Vader um seine Atemaussetzer per Überdruck symptomatisch zu kurieren. Schläuche führen von einer Art kleiner Gasmaske in Richtung eines schwarzen Gerätes, welches er unter das Bett geschoben hat. Ich frage ihn ob das Ding denn sehr laut sei in der Nacht. „Ja, den Kompressor hört man schon“ sagt er. Eine Bombenantwort. Ich freu mich drauf. Eigentlich wollte ich ja, dass der das Ding mal einschaltet zum Probehören. Macht er aber nicht.

Also alles in allem geht mir Logrono aufgrund der geschilderten Erlebnisse jetzt schon auf die Nerven. In der Küche des Hauses treffe ich meine hustende Stuttgarterin wieder, die viel zu erzählen hat. So zum Beispiel von der Ärztin die ihr doch par-tout keine Antibiotika verschreiben wollte. Dieser Entscheidung konnte ich nur zustimmen, was mir in den Augen meiner Pilgerkollegin allerdings keine Sympathiepunkte gebracht hat. Erklärt habe ich ihr das mit den Viren und den Bakterien und den möglichen Behandlungsresistenzen schon. Doch hören wollte sie das nicht. Mir fällt überhaupt eine Diskrepanz auf. Erzählen wollen alle ganz viel, zuhören aber im Gegenzug kaum.

Pfeif drauf, eine Nacht und ich bin wieder weg. Das ist was tolles am Camino im Unterschied zu Zuhause. Wenn dich was nervt, bist du es wahrscheinlich am nächsten Tag wieder los. Außer Gott schickt dir die Prüfung noch einmal…

Zeit in Logrono habe ich reichlich und so mache ich mich auf um wieder einmal einen Schuhmacher zu finden. Ich gebe es einfach nicht auf. Es muss doch eine Lösung für mein Schuhproblem und meine Schmerzen geben. Da mein Spanisch schlecht ist, werde ich zu normalen Schuhgeschäften geschickt wenn ich nach dem Weg frage. Selbstverständlich haben aber auch diese Siesta. Ohne Rucksack in der Stadt unterwegs zu sein fühlt sich für mich übrigens inzwischen gar nicht mehr gut an. In den Augen der Menschen bin ich ein normaler Tourist. Noch dazu einer der sich nicht auskennt. Prompt schaut mich ein junger Mann in der Fußgängerzone verstohlen an. Er wirft einen deutlichen Blick auf meine Gürteltasche um mir dann wieder in`s Gesicht zu schauen. Als würde er abchecken ob sich der Inhalt meines Geldbeutels in Relation zur Anstrengung in mir abzunehmen lohnen könnte. Oh Mann! Ich will wieder raus aus der Stadt um mit meinem Rucksack und meiner Muschel weiterzugehen.

Das Tragen des eigenen Rucksacks macht etwas mit mir. Ja. Es macht einen anderen Menschen aus mir. Selbstsicher auf dem Weg zu seinem Ziel.

Schuhmacher finde ich natürlich keinen. Was ich allerdings finde ist eine neue Blase. Rechter Fuß, mittlere Zehe.

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