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DER AUFBRUCH

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23.9. Kayola

Der Tag eins. Endlich ging es los und ich durfte losgehen. Mich aufmachen. Mein österreichisches Leben vergessen. Neues sehen und lernen. Schüler sein und meine Prüfungen machen. Darauf freute ich mich.

Das Frühstück bei Madame war äußerst spärlich, sie wollte mir damit sicher einen gut gemeinten Vorgeschmack auf Kommendes liefern. Ein Cafe con leche, also Milchkaffee, und drei bis vier winzige Weißbrotschnitten. Großzügig erschien davor ein Teller mit einem Butterberg bestehend aus schon angelaufenen, gelben und zerhackten Butterstücken. Mit der Messerklinge habe ich die frischesten Fettstücke aus dem Berg herausgepuhlt und auf meinen Brötchen verteilt.

Zurück am Zimmer wollte ich meinen Rucksack fertig packen. Totales Chaos. Ich hatte keine Ahnung wo ich was hinstecken sollte und was nach oben oder unten gehört. Ausprobieren ist die Devise, du wirst am Weg schon draufkommen wie das am besten funktioniert, beruhigte ich mich.

Jetzt aber. Es ist soweit. Ich gehe los…erstmal in`s Pilgergeschäft schräg gegenüber um mir eine Jakobsmuschel zu kaufen. Eine mit Kreuz, das ist mir wichtig. Sollen ruhig alle sehen für wen ich hier gehe. Die Muschel gut sichtbar am Rucksack angebracht starte ich los.

Als erstes wartet das Pilgertor welches aus Saint Jean herausführt. Unmittelbar danach die erste Entscheidung. Über die Berge oder gemäßigter an der Straße entlang. Eine Route welche bevorzugt von Radpilgern genommen wird. Natürlich entscheide ich mich für die harte Variante, die „Route Napoleon“. Einmal Pyrenäenüberquerung bitte.

Mit den geschilderten Erlebnissen von erfahrenen Pilgern und den Warnungen des Mitarbeiters im Pilgerbüro im Kopf, nehme ich mir aus Vernunftgründen heute nur eine kurze Etappe vor. Und das ist gut so, da es mehr oder weniger dauernd supersteil nach oben geht. Fast schon Klettern, gefühltermaßen. Mit 13 kg am Rücken. Soviel wiegt nämlich mein Marschgepäck mit ausreichend Wasser. Ich bin richtig froh mich entschieden zu haben mit Stöcken zu gehen, da diese mir helfen mich nach oben zu schieben.

Aufgrund meiner kaum vorhandenen Kondition werde ich dauernd überholt. Was ok ist, schneller geht’s halt für mich nicht. Mein Ego bleibt erstaunlich ruhig. Ich will ja ankommen und nicht gleich am ersten Tag den Löffel abgeben. Ich keuche mich lange auf Straßen nach oben um später auf einen steinigen Naturweg zu wechseln. Mein Rucksack fühlt sich nicht zu schwer an. Ich schaffe es gut sein Gewicht zu tragen auch wenn es mehr ist als andere auf den Schultern haben. Gleichzeitig ist klar, dass ich es mit weniger Gewicht wohl leichter hätte. Empfohlen werden 10 Kilo in einem maximal 50 Liter fassenden Rucksack. Meiner fasst 80 Liter.

Es ist meine Entscheidung die ich hier für mich treffe all das zu tragen. Um diese aber anscheinend doch zu hinterfragen, lässt ein Mann der an mir vorbeizieht mich folgendes wissen. „Ihr Rucksack schaut aber sperrig aus!“ Ich korrigiere ihn umgehen. „Nein, nein. Er schaut nicht so aus…er ist sperrig“.

Später hole ich sogar den ein oder anderen ein, der gemeint hat gleich Vollgas bergauf geben zu müssen. Den eigenen Motor gleich am Beginn zu überlasten ist keine gute Idee und wird zumeist dem eigenen Ego geschuldet.

Meine Conclusio bis hierher: Stetiger Kriechgang ist ähnlich schnell am Ziel wie rasen mit viel Pausen.

Die Aussicht wird immer beeindruckender. Das Wetter ist wie für mich gemacht. Wolkenverhangene angenehme 20 Grad.

Nach drei Stunden und etwa 7 Kilometern bergauf komme ich in Kayola an. Niemand da. Ich stehe vor einer großen, versperrten Zauntür. Da ich ein Bett reserviert habe bleibt mir nichts anderes übrig als zu warten. Zwei volle Stunden stehe ich hier bis jemand kommt. Doch gut war`s, denn sonst hätte ich mein Recht auf ein Bett verwirkt, erklärt mir der Mann des Hauses. Wer nicht pünktlich da war, durfte wieder über einen Umweg nach St. Jean mit dem Taxi zurückfahren. Glück gehabt. So sitze ich hier um 16 Uhr und schreibe Tagebuch. Müde bin ich als wäre es Mitternacht.

Während ich vorhin an der Straße gewartet habe, sind zwei erstaunliche Dinge passiert:

Schiebt doch tatsächlich eine kleine, mollige Asiatin ihr vollgepacktes Fahrrad über diese affenartig steile Straße nach oben. Keuchend, im Schneckentempo. Das Rad scheint doppelt so groß wie seine Besitzerin. Die kann unmöglich bis hier auch nur einen Meter radelnd zurückgelegt haben. Ich feuere sie an. Sie lächelt und schiebt schnaufend weiter.

Kurz darauf kommen zwei Frauen den Berg hinunter, was mich ihnen spontan zurufen lässt, dass sie in die falsche Richtung gehen. Ich zeige auf den Berg, der mich und alle Pilger nach Santiago morgen erwartet. Daraufhin antwortet eine der beiden zierlichen Asiatinnen auf Englisch: „Nein, nein wir haben unsere 800 Kilometer zu Fuß bereits hinter uns. Wir beenden unseren Camino heute in Saint Jean.“ Wie bitte? Ich bin platt. Sind die den ganzen Pilgerweg in die andere Richtung gegangen? Fragen türmen sich in meinem Kopf auf. Schreiben die von rechts nach links? Kriegen die jetzt auch eine Compostela Urkunde in Saint Jean? Vielleicht auf einer Serviette? Jedenfalls habe ich ihnen aus tiefstem Herzen gratuliert und ihnen alles Gute gewünscht…ich der erst einen Tag hinter sich hat!

Da ich beim Aufsperren der Unterkunft der erste war, durfte ich mir als Belohnung das beste Bett aussuchen. Wobei das „Beste“ hier freilich sehr relativ ist.

Während ich die Pritschen im Schlafsaal inspiziere, finde ich eine Kamera neben einem Bett. Komisch, wem gehört die denn? Da diese mit keinem Namen gekennzeichnet ist, schaue mir die Fotos an in der Hoffnung einen Hinweis auf die Besitzerin zu finden. Gar nichts. Mein Magen knurrt ins Geschehen hinein. Weil es in Kayola nichts zum Essen gibt und ich nach der Anstrengung noch unbedingt was essen muss, gehe ich die kurze aber steile Strecke nach Orisson hinauf. Caroline die ich hier kennenlerne, die ihren ersten Camino in Burgos abbrechen musste, empfiehlt mir dort zu fragen ob jemand seine Kamera vermisst gemeldet hat. Sie geht den ganzen Pilgerweg noch einmal von vorne, da sie sich zuhause „nicht komplett“ gefühlt hat. Sie bezeichnet die Zeit am Camino als „Time of her life“. Was sie genau meint kann ich nicht nachvollziehen. Unhygienische Betten sind so gar nicht meine Vorstellung von „bester Zeit meines Lebens“.

Jedenfalls hat tatsächlich jemand für seine verlorengegangene Kamera eine Telefonnummer hinterlassen. Die Frau hinter dem Tresen gibt mir Nummer und Emailadresse von einer gewissen Susana. Gespannt rufe ich an und sie erklärt mir, dass sich ihre Gruppe bereits in Roncesvalles, einen Tagesmarsch entfernt, befindet und morgen weitergehen möchte. Sie freue sich aber sehr, dass ich ihre Kamera gefunden habe. Mein Vorschlag ihr morgen bei meiner Ankunft in Roncesvalles die Kamera persönlich zurückzugeben, stößt auf wenig Gegenliebe. Sie möchte weitergehen und nicht warten. Das macht mich ein wenig sauer. Etwas verschlampen und dann nicht einmal warten wollen. Trotzdem habe ich eingelenkt. Ein Transportunternehmen hat die Kamera abgeholt und zu ihr gebracht. So war der Apparat wieder dort wo er hingehört und ich durfte mir die Frage stellen, warum es mir so wichtig war, dass die ganze Gruppe extra auf mich wartet, damit ich Held ihnen die Kamera mit einem Festakt persönlich überreiche. Sind mir der Auftritt und die Dankbarkeit der anderen so wichtig?

Es wird Abend und ich habe mich, bei inzwischen vollem Haus, zurückgezogen. Es wird viel französisch gesprochen und ich widme mich eigenen Gedanken. O Gott, 10 Leute in einem nach Hund stinkendem Schlafsaal. Mir ekelt. Ich fühle mich extrem unwohl beim Gedanken an die bevorstehende Nacht.

Hätte ich gekonnt, wäre ich davongelaufen. Aber wohin? Nach St. Jean zurück? Niemals. Bis nach Roncesvalles, der nächsten Station am Weg? Im Dunklen ein Selbstmordkommando. Ich muss und werde es durchstehen.

Um mich abzulenken beschließe ich duschen zu gehen. Geschwitzt habe ich heute ja genug. Mein fußpilzhemmender Vorsatz nur mit Crocs in die Duschtassen zu steigen beginnt hier. Als alter Hygienefreak möchte ich kurz erwähnen, dass ich eine Flasche Alkohol mit einem Pumpkopf dabeihabe. Und eigenes Klopapier.

Das Licht ist bereits gelöscht und ich hab mich inzwischen in einen speziellen „ich schaff das schon“ Modus begeben. Mein Gefühl ist am ehesten mit dem in einer Achterbahn zu beschreiben. Beim hinaufgezogen werden kurz vor erreichen des höchsten Punktes.

Die fürchterliche Matratze und den fürchterlichen Polster mit ihren lächerlich dünnen Einmal-Vliesen als Leintuch und Bezug im Kopf, geht unten die Türe auf. Herein kommt ein junger Mann aus Orisson, der zu später Stunde hereinschneit um zu fragen wer morgen Frühstück will. Scheint der Besitzer oder ein Kellner zu sein. Also Licht wieder aufgedreht durch einen Pilgerkollegen und alle zusammen reissen noch ein paar gemeinsame Scherzchen. Komisch. Irgendwie kommt mir unser später Gast ein wenig angetrunken vor. Aber jetzt „Gute Nacht“. Oder auch nicht.

24.9. Roncesvalles

Es tut mir leid aber die Nacht war einfach nur das Allerletzte. 10 Leute auf ca. 5x5 Metern. Keine 10 Minuten nach endgültigem „Licht aus“ fängt der erste, ein 70jähriger Franzose, zu schnarchen an. Na gut denke ich, war klar, dass das kommt. Kannst es nicht ändern, füge dich deinem Schicksal. Aber dann: Das Crescendo wurde immer lauter. Also greife ich zu meinen Ohropax.

Es hilft nichts. Das Geschnarche ist bereits so laut, dass ich es höre als hätt ich gar keine Stöpsel in den Ohren!

Als ob das nicht schon genug wäre, stimmt etwa 20 Minuten später eine Frau in`s fröhliche Gaumensegelflattern ein. Bilder tauchen in mir auf. Kettensäge (Frau) versus schnaubende Dampflok (Mann). Es war die Hölle. An schlafen nicht zu denken. Es blieb mir tatsächlich nichts anderes übrig als darauf zu warten, dass eine mich übermannende Müdigkeit aus dem Spiel nimmt. Irgendwann hat das auch geklappt, doch im Endeffekt waren es lächerliche 3 Stunden Schlaf. Und unzählige wach. Das Beste ist, dass die, die mich nicht schlafen haben lassen gleich eingeschlafen sind, durchgeschlafen haben und fröhlich pfeifend um 6 Uhr dem Bett entstiegen sind. Eine Frechheit! Ich hätte beiden eine knallen können. Interessanterweise war das Gegrunze, soweit ich dem französischen mächtig bin, bei den anderen in der Früh gar kein Thema! Sind die alle so genügsam oder einfach zu feige etwas zu sagen?

Das Bett war übrigens so ekelhaft, dass ich es vor dem hineinlegen zweimal mit Alkohol abgesprüht habe in der Hoffnung, ein paar darauf wohnende Keime zu beseitigen. Neben meinem Kopf an der Wand im Bodenbereich war übrigens ein brauner Fleck, der sich von der Wand herunter zu einem kleinen Häufchen verdichtet hat. Was auch immer das war. Ich hab`s notdürftig mit Klopapier abgedeckt, in der Hoffnung, dass mir der Anblick in der Früh nicht unmittelbar ins Gesicht springt. War sicher nur ein alter Schokoriegel.

Völlig übermüdet schäle ich mich aus dem Schlafsack und zwänge mich schlaftrunken in meine Klamotten. Als letzter Inbunde. Alle anderen sind schneller und räumen bereits das Feld. Kein Wunder, die sind ja auch gut ausgeruht.

Dann der Schock: Meine neuen Wanderstöcke sind weg. Ich hab genau gewusst, wo ich sie abgestellt habe. Direkt neben der Eingangstüre. Weg. Die ganze Situation neu, ich allein im Haus, alle weg inklusive meiner Stöcke. Ich hab es nicht glauben können. Jemand hat meine Stöcke gestohlen! Oder nur versehentlich mitgenommen? Ach was. Jeder weiß doch erstens ob er Stöcke hat und zweitens wie die aussehen und sich vom Griff her anfühlen. Da greift man doch nicht daneben.

Ich war den Tränen nahe so wütend und verzweifelt war ich, stand mir doch die schwierige Pyrenäenüberquerung bevor, bei der ich aufgrund meiner Kondition auf die Stöcke angewiesen war. Und teuer waren sie auch. Ich hetze ganz alleine im völligen Dunkel im kleinen Lichtkegel meiner Stirnlampe bergan. In dem Moment erschienen mir die zwei Stöcke mein ein und alles zu sein. Weitergehen ohne sie nicht vorstellbar. Ich hab doch hier eh so gut wie nichts…und selbst davon fehlt jetzt was. Verzweiflung steigt in mir auf. Was sollte das? Die nächste Prüfung? „Bitte Gott gib mir meine Stöcke zurück!“

Wahrscheinlich doppelt so schnell als üblich und mit pochendem Herzen komme ich total verschwitzt in der Frühstücksbar in Orisson an. Ich stürme voller Zorn in den Raum. Manche Pilger drehen sich um oder schauen von ihrem Teller auf, verstehen nicht was los ist. Ein paar meiner Mitschläfer die ich erkenne, rufe ich zu was passiert ist. Sehr interessiert scheinen die allerdings nicht zu sein. Ich suche alles ab, finde nichts und gehe aufgelöst wieder in`s Freie. Umrunde das Haus. Da. Meine Stöcke stehen zusammengeschobenen halb versteckt neben dem Wirtwagen. Das wird doch nicht der junge, angesoffene Besucher von letzter Nacht gewesen sein? Vielleicht war „einen im Tee zu haben“ für ihn ausschlaggebend sich meiner Stöcke zu bemächtigen, damit er nicht umfällt. Naja, der besagte Mann war nicht aufzutreiben um ihm den Marsch zu blasen und meine Stimmung, trotz Freude über die wiedergeschenkten Stöcke, im Keller. Angefressen habe ich mich dann alleine hingesetzt und gefrühstückt. Mir konnten gerade alle gestohlen bleiben. Ich habe dem Herrgott jedenfalls nicht nur einmal gedankt, dass er mir die Stöcke zurückgegeben hat.

Witzig, gestern die Story mit der Kamera und heute verliere ich etwas. Sollte das eine Vertrauensübung sein? Ich war jedenfalls außer mir und überhaupt nicht in meiner Mitte. Im Radio spielte währenddessen im Frühstücksraum ein Lied: „I see trouble everywhere..“.

Ha-Ha. Extra für mich.

Losgegangen bin ich im Morgengrauen. Die Pyrenäenüberquerung im Blick. Ein wunderbarer Sonnenaufgang bemüht sich meine schlechte Laune zu vertreiben. Das Gelände schlängelt sich steil bergauf. Ein starker, böiger Gegenwind scheint die Gehenden zu fragen ob sie das hier wirklich wollen.

Manchmal habe ich das Gefühl nur noch ein Km/h zu gehen. Mühselig schleppe ich mich voran. Am Wegesrand stehen die ersten Kreuze, die uns Pilgern mitteilen, dass an dieser Stelle ein Pilger sein Leben beendet hat. Das hat mich traurig gemacht und ich bin den ganzen Weg über an diesen Stellen stehengeblieben und hab kurz innegehalten. Am ersten oder zweiten Tag der Pilgerschaft schon sterben? Nur Gott weiß warum. Interessanterweise bin ich gar nicht um mich und meinen Körper besorgt. Vielleicht wegen der Ergometrie und dem „Ok“ meiner Ärzte. Oder ist schlicht meine Sorge in den Hintergrund getreten? Der Weg fühlt sich anstrengend aber gut an.

Kurz vor dem Pass auf 1400m Höhe sagt mir mein Körper recht deutlich was er davon hält 4,5 Stunden angestrengt zu marschieren und viel zu wenig Pausen zu machen. Mit Wasser und Traubenzucker kann ich ihn wieder besänftigen und zum Weitergehen überreden.

An diesem Tag sind relativ viele Pilger vor und hinter mir unterwegs. Insgeheim hoffe ich, dass sich das am späteren Weg verlieren wird. So kann ich mir keine wirklich ruhigen und kontemplativen Märsche vorstellen.

Das nach vielen Stunden am Pass ankommen fühlt sich gut an. Die große Einstiegshürde ist geschafft. Meine Geburt.

Es war motivierend zu wissen, den vielleicht anstrengendsten Teil des Weges geschafft zu haben. Dachte ich.

Ein Elektrolytgetränk zur Stärkung…und weiter geht’s. In eine ganz neue Richtung. Abwärts. Ich wähle die vorgeschlagene längere, dafür weniger steile Variante der beiden Wege in`s Tal. Selbst auf dieser erklären mir aber meine Knie stechenderweise, dass es nicht ihre Lieblingsbeschäftigung ist mich bergabzutragen. Aha, da fällt mir meine Packliste ein. Schnell die mitgenommene Kniebandage auf`s rechte Beingelenk gezogen, aus Faulheit gleich über der Hose.

Anderthalb Stunden sind es insgesamt noch vom Pass aus gesehen bis in`s Kloster, meinem heutigen Etappenziel.

Die letzten 1,5 Kilometer gehe ich aufgrund eines fehlenden Gehweges direkt am Seitenstreifen einer Straße. Das sollte mir noch öfter begegnen. Irgendwie unangenehm wie die Autos an mir vorbeirasen. Ich bleibe bei jedem stehen und schaue ob mich der Fahrer sieht. Nach meiner Rückkehr habe ich im Reiseführer gelesen, dass der offizielle Weg, ein angrenzender Waldweg war den ich verpasst habe. Das war wohl der Grund warum außer mir niemand hier gepilgert ist und mich diverse Autofahrer, wild gestikulierend angehupt haben. „Was für ein Idiot, geht der auf der Straße!“ muss sich so mancher gedacht haben.

Im Kloster Roncesvalles auf spanischer, besser gesagt baskischer Seite angekommen, leiste ich mir nach einem Gespräch mit dem Hospitalero der Bettenburg, der mich keinen Blick in die Schlafsäle machen ließ, doch ein Zimmer im angrenzenden Hotel. Ich verzichte momentan auf Massenherbergen. Wer weiß wie es darin zugeht, wenn ich nicht mal reinlugen darf.

Ich habe heute echt was geleistet, bin müde, erschöpft, meine Füße tun weh und ich muss erstmalig meine Sachen waschen.

Außerdem brauche ich Schlaf und Ruhe. Also Geldbeutel gezückt und eingecheckt. Jaaaa, so soll ein Hotelzimmer sein. Angenehm groß und mit schönem Bett. Mir fällt das grausige Kayola ein. Heute gibt`s kein Geschnarche. Noch so eine Nacht im Anschluss schaffe ich nicht.

Ich breite die frisch im Waschbecken von Hand gequirlten Klamotten im ganzen Hotelzimmer zum Trocknen aus, gehe essen und besuche im Kloster meine erste Pilgermesse. Ich verstehe zwar nichts, aber da die Kommunion selbsterklärend ist, braucht es keine Worte. Die Messe ist wunderbar, mit schönem Gesang. Am Ende werden alle Pilger nach vorn vor den Altar gebeten und in ihrer Landessprache gesegnet. Es ist sehr berührend. „Austria“ hat der Pfarrer gesagt und dass wir alle wohlbehalten unser Ziel erreichen sollen. Ich merke wie es mich stärkt einerseits heute etwas geschafft zu haben und andererseits eine gewisse Kraft in der Kirche zu empfangen.

Morgen schlaf ich mich aus und gehe es weiter ruhig an.

25.9. Viscarret

Tränen in der Früh. Was ist los? Irgendetwas stimmt nicht. Geht es vielleicht doch darum die Entbehrungen der einfachen Refugios, der Herbergen, auf mich zu nehmen?

Ausgeschlafen bin ich aber Gott sei Dank. Nachdenklich gehe ich frühstücken und föhne anschließend noch meine restfeuchte Wäsche trocken. Zusammengenommen ergibt das einen pünktlichen Aufbruch…um 12 Uhr Mittags!! Das nenn ich pilgern.

Ein schöner Weg unweit der Straße erwartet mich, das Wetter ist gut, ein wenig kühl vielleicht. Nach 12 Kilometern erreiche ich den Ort Viscarret. An der ersten Bar, aus der laute Musik dröhnt, gehe ich vorbei und suche lieber den kleinen im Reiseführer angekündigten Supermercado. Einmal ganz durch den Ort bitteschön. Hier fangen meine Erfahrungen in Spanien mit geschlossenen Geschäften an. Ok, in dem Fall war es ein Sonntag, zugegeben.

Ich habe trotzdem Hunger. Sonst auch alles zu. Also wieder zurück an den Anfang in die Bar mit der lauten Musik. Drinnen allerdings, verschwitzt meine Sachen in die Ecke stellend, bemerke ich andere Pilger und einen freundlichen Mann hinter dem Tresen. Als erstes lerne ich was eine spanische Tortilla ist. Ein Omelette. Oder eher ein Kuchen aus Kartoffeln. Und weil sich 1 Stück nach wenig anhört, bestelle ich gleich noch einen gemischten Salat und einen „Cafe con leche“ - einen Milchkaffee dazu. Um wohlfeile 9,-. Als alles auf dem Tisch steht, wird mir eines klar. Weit kann ich dann nicht mehr gehen. Mein Blut wird sich aus Beinen und sonstigen beim Gehen gebrauchten Körperteilen fein in die Gedärme zurückziehen um Kartoffeln und grünen Salat mit Thunfisch zu verdauen.

Pappsatt lege ich das Besteck beiseite. Es ist 16 Uhr. Mein angepeiltes Örtchen Zubiri ist noch 10 Kilometer weit weg. Mir schwant, dass ich die Kombination aus 12 Uhr losgehen, viel zu viel Essen und noch nicht vorhandener Kondition überdenken sollte. Als ich beim Wiederaufschnallen des Rucksacks bemerke, dass der Bauchgurt in seiner bisherigen Einstellung nicht mehr zuzukriegen ist, ich möglicherweise in die Dunkelheit komme und mir Füße und Knie bereits weh tun, möchte ich einfach nur noch bleiben. Am Ende gibt’s in dort nicht einmal mehr ein Bett für mich. So beschließe ich gleich hier im Ort zu nächtigen. Ich wollt`s sowieso langsam angehen.

So kehre ich in der Pension „Corazon Puro“ ein. Übersetzt bedeutet das „reines Herz“. Klingt gut. Die Wirtin spricht sogar deutsch! 20 Euro mit Halbpension im Zwei-Bett- Zimmer. Spitze. Hoffentlich gesellt sich kein Zweiter dazu, dann hab ich das Zimmer für mich alleine. Denkste. Auch das war neu. Wenn Du den Zimmerpreis bezahlst, wird niemand mehr dazugelegt, egal wieviel Betten im Zimmer stehen. Super. Kein Gefühl wie in Kayola, aber auch keines wie im Hotelzimmer letzte Nacht. Ich nähere mich langsam an, was für mich stimmiges Pilgern bedeuten könnte.

Momentmal, wieso schnarcht denn da im Nebenzimmer jemand schon um 18 Uhr so laut vor sich hin? Das Schnarchen scheint mir jedenfalls bereits Wegbegleiter zu sein.

Im Zimmer schiebe ich mir das von Susanne erhaltene Armband mit der Aufschrift „mein Weg“ aufs linke Handgelenk. Jetzt ist es stimmig. Schwer ist es auch nicht, wiegt lediglich ein paar Gramm. Und naja, momentan gehe ich zwar noch zu wenig Kilometer und gebe gleichzeitig zu viel Geld aus, doch es ist bereits „mein Weg“.

Der hat mich heute übrigens durch einen Wald geführt hat, der aus „der Herr der Ringe“ hätte stammen können…gruselig. Haben nur noch die metergroßen Spinnen gefehlt die von den Bäumen hupfen um die darunter Marschierenden in ihre Nester zu ziehen.

Der Plan für morgen ist früher losgehen, Mittagspause machen und dafür weiter zu kommen als heute. Beim gemeinsamen Abendessen der hier wohnenden Pilger lerne ich einen sehr netten älteren Mann aus Kanada, Jim, kennen. Wir unterhalten uns wunderbar. Ja, es geht mit meinem Englisch ganz gut, ich scheine verstanden zu werden. Deutsche sitzen auch mit am Tisch, die aber ein wenig steif wirken. Gut, der Weg hat ja erst begonnen um lockerer zu werden. Ein spanisches Ehepaar rechts von mir verstehe ich sprachlich nicht. Macht aber nix, da die Frau sich irgendwie einer Mischung aus Distanzlosigkeit und gestelzt lustig hingibt und ihr Mann im Gegenzug aussieht wie ein Mitglied der Hells Angels.

Am nächsten Morgen vor dem Losgehen habe ich noch ein Foto vor dem Haus gemacht. Hier glaube ich mit einem morgendlichen Ritual angefangen zu haben. Ich habe mich in voller Gehmontur hingestellt um einen Moment, vor dem Haus indem ich die Nacht verbracht habe, innezuhalten. Noch einmal Revue passieren lassen, was hier so alles geschehen ist, mich bedankt und überlegt ob ich nichts vergessen habe. Das war mir sehr wichtig. Ich wollte immer nur nach vorne gehen und nicht gezwungen sein, einen vergessenen Gegenstand im Rückwärtsgang wieder abzuholen. Zum Abschluss habe ich Gott um Beistand für den kommenden Tag gebeten und bin bewussten Schrittes losgegangen. Möglicherweise habe ich das auch gemacht um besser loszulassen. Am Camino musst du nämlich immer und immer wieder Dinge, Sachen und Menschen loslassen. Wenn du das nicht kannst…hier kannst du es lernen.

26.9. Zabaldica

Nach einem unbeabsichtigten Gewaltmarsch bin ich Todmüde. Total ausgepowert. Ich frage eine Frau in meiner neuen Unterkunft im Refugio Zabaldica kurz vor dem Schlafengehen wann ich angekommen bin, damit ich aufschreiben kann wie viele Stunden und Kilometer ich heute absolviert habe. Sie sagt nur milde lächelnd: „It doesn`t matter“.

Das war nicht die erwartete Antwort. Doch ja, vielleicht hat sie Recht und es ist tatsächlich unerheblich.

Interessiert hat es mich trotzdem. Es waren etwa 25 Kilometer anspruchsvolle Strecke. Gestartet bin ich um 8:15 um etwa 8,5 Stunden später hier angekommen. Der Weg war ein wunderschöner,doch steiniger, teilweise steiler Waldweg mit toller Aussicht. Er wird enger, verschlungener, ist teilweise mit Sträuchern zugewachsen. Hier sollen hunderttausende Menschen unterwegs sein? Streckenweise wird der Waldweg von einem Fluss gesäumt. Ich komme an einer Koppel mit Pferden vorbei. Sie machen einen verwahrlosten Eindruck. Ausgehungert stehen sie am Zaun um von den vorbeigehenden Pilgern Futter zu erbitten. Es ist das erste und nicht das letzte Mal, dass ich in Spanien voller Mitleid essbares zu Tieren über einen Zaun werfe.

Bevor ich Zabaldica erreiche, gehe ich an einem langen, schräg abfallenden Hang entlang, auf dessen rechter Seite plötzlich ein schwarzes, in den Boden getriebenes Kreuz auftaucht. Ich lese die kurze Inschrift und vergieße vor Berührung ein paar Tränen. Der Text lautet „Fin del camino“ und ein Name. „Ende des Weges“. Da hat jemand sehr früh das Ende des Weges erreicht. Tot. Vorbei. Hat sich dieser Mensch auch so von seinen Lieben verabschiedet wie ich? War es ein unvermittelter Tod? Niemand von uns weiß wann sein eigener „fin del camino“ erreicht sein wird. Ich gehe nachdenklich weiter, diesen Eindruck werde ich nicht so schnell vergessen.

Und als ob ich nicht schon am Zahnfleisch daherkommen würde, führen die letzten Meter bis zur Herberge extrem steil bergauf. Ich zwinge mich, treibe mich keuchend an. Die Pension, welche ich früher an diesem Tage angepeilt habe hat nämlich wegen Renovierung geschlossen. Und in die habe ich mich schon geschleppt. Also war ich gezwungen eine weitere Stunde Fußmarsch auf mich zu nehmen.

Zurück zu meiner kirchlichen Unterkunft. Bei meiner Ankunft herrscht eine ruhige, fast meditative Atmosphäre. Ich werde herzlich willkommen geheißen. Die Schwester beim Empfang bittet um meinen Pilgerpass. Eine breite Holztreppe führt in`s Obergeschoss. Etwa zehn Betten in einem Raum unterhalb des Daches erwarten mich. Einige davon sind bereits besetzt. Ein paar Männer und Frauen liegen eine Runde Probe. Manche kramen in ihren Rucksäcken, andere habe die Augen geschlossen und hören Musik. Ich sehe das Szenario und habe Angst wieder nicht schlafen zu können. Eine vor kurzem gehörte Geschichte über lautes Schnarchen drängt sich mir wieder in`s Bewusstsein. Eine Frau soll eines Abends in leicht höhnischer Art und Weise ihren Zimmergenossen im Schlafsaal zugerufen haben: „Ich hoffe ihr habt alle Ohrenstöpsel dabei!!“

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