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SCHMERZ ALS OPFER

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29.9. Lorca

Heute habe ich das erste Mal keine Lust weiterzugehen. Ich bin müde, noch immer groggy und spüre meine Füße auf unangenehme Weise. Mein rechter Fuß entwickelt sich mit der Blase und der Achillessehnenreizung zu einer äußerst unangenehmen Sache. Letztgenannte krepitiert bereits.

Ich weiß, dass sich die Sehne in der Sehnenscheide durch Überlastung entzünden kann was wiederum ein reibendes Gefühl verursacht, was eben „krepitieren“ genannt wird. Ein bisschen wie ein Kolben im Zylinder eines Motors der ohne Schmierung auf und abfährt. Im schlimmsten Fall kann die Sehne reissen.

Natürlich gehe ich dann doch los. Anfangs denke ich noch auch diesen Schmerz gedanklich wegschalten zu können. Heute scheint aber er stärker. Ich schleppe mich humpelnd in eine Apotheke wo ich mir zwei Silikoneinlagen kaufe und diese reinstopfe. In die Schuhe. Ich erwarte mir durch die Anhebung der Ferse eine Entlastung der Sehne. Schuster gibt’s hier leider keinen der mir professionell helfen könnte. Es stellt sich heraus, dass die Gummidinger leider wenig Nutzen bringen. Ich beschließe noch ein paar Kilometer bis zum nächsten Dorf durchzuhalten. Zuhause würde ich auf einer Wanderung jetzt wahrscheinlich abbrechen. In`s Auto einsteigen und nach Hause zurückfahren.

Doch hier musst du weiter.

Dann passiert etwas Unerwartetes: Ich fange auf einmal zu Weinen an. Völlig unvermittelt. Aber nicht der Schmerzen wegen. Sondern bei dem Gedanken an meine Lieben zuhause. Aber nicht aus Trauer. Ich glaube irgendjemand denkt gerade intensiv an mich. Erstaunlicherweise sind für die nächsten Minuten die Schmerzen wie weggeblasen. So gehe ich heulend ein paar hundert Meter, ganz für mich alleine, durch eine wunderschöne Wein- und Ackerlandschaft. Wir Menschen sind miteinander verbunden. Egal wo und egal wann. Wer oder was hilft mir hier gerade weiter?

Mein Weg führt mich heute durch Obanos und durch Puente la Reina mit seiner berühmten Brücke über den Arga. Ein schönes Städtchen mit seiner uralt gepflasterten Hauptstraße, welche seit jeher Pilgerstraße war. Vorbei an der Kirche „Iglesia del Crucifijo“ mit ihrem ungewöhnlichen, faszinierendem Kruzifix in Y-Form. So was hab ich noch nicht gesehen.

Auch nicht, dass es Münzeinwürfe in der Kirche gibt die Lichtstrahler auslösen um bestimmte Bereich des Innenraums zu beleuchten. Das empfinde ich als Abzocke. Einen Euro, damit Sehenswürdigkeiten in einer Kirche angestrahlt werden?

Mit fast letzten Kräften schleppe ich mich auf die Stöcke gestützt nach Lorca in eine 4-Bett Zimmer Herberge (vor der Herberge gegenüber steht wieder Barfuß-Mann) wo ich Resi und Maria von gestern wiedertreffe. Wir essen gemeinsam Abend und erzählen uns kleine Geschichten aus unserem Leben. Mit am Tisch sitzt eine Stuttgarterin die ich noch öfter treffen sollte. Eine zierliche Frau mit dunklen Haaren und einer Mords Bronchitis. Bei jedem feuchten Husterer den sie loslässt überlege ich wieviel Keime jetzt wohl in meine Suppe geflogen sind. Auf meinen kritischen Blick hin meint sie: „Jo, soll isch misch leicht vor de Tür setzn?“ „Nein“ antworte ich verschämt. Soll hierbleiben. Ich will ja ein einfacherer Mann werden. Also muss ich lernen diese Dinge auszuhalten. Bringt die heisse Suppe die Keime um?

Der Hospitalero und seine asiatische Frau sind allerliebst. Hier rennt nicht nur der Schmäh sondern auch den ganzen Tag klassische Musik in einer Lautstärke für wahre Fans.

Was mir aber richtig Sorgen macht ist: Was bedeutet mein Fußzustand für mein weitergehen? Das Aus?

Mit entzündeter Sehne ist kein Gehen mehr drin. Uwe, mein Zimmernachbar sagt, er ist den Weg schon dreimal gegangen. Sein Rekord: in 25 Tagen. Meine Ängste seien ganz normal und ich solle immer wenn ich ans Aufgeben denke, mich an ihn erinnern und 2-3 Tage Pause machen und die Füße in einen kalten Brunnen halten. Er meint: „Du gehst ja ned soweit, dass`das Schwein dann im Stall sterben lässt.“

Den Spruch versteh ich nicht, wohl aber was er mir damit sagen will. Nämlich: S... dich nicht an. Höchstens Pause machen. Aber kein Aufgeben. Bei ihm denke ich mir, dass es wohl so viele Motivationen den Weg zu gehen gibt, wie Menschen auf ihm unterwegs sind. Reißt er den Weg runter oder gehen die anderen, inklusive mir, wirklich nur so langsam wie er behauptet? Er ist jedenfalls ein absoluter Profi des Weges. Auf seine Art. Wie er spricht, wie beim Packen jeder Handgriff sitzt und wie er als erster die Herberge verlässt wenn alle anderen noch pennen. Respekt. Doch mein`s ist das nicht. So hat eben jeder seinen Weg.

30.9. Villamayor de Monjardin

Auch heute gehe ich wieder als letzter los, abgesehen vom Radler der gestern vom Drahtesel geflogen ist und deswegen einen Tag pausieren muss. Meine Fußschmerzen sind so groß, dass ich gleich in den Crocs losgehe. Leider wird nun auch die Blase am linken Fuß, innenseitige Ferse, immer grösser und schmerzt permanent. So hinke ich in meinen weichen Gartenschuhen in Richtung Villatuerta und muss erstaunt feststellen, dass Wandern mit den Dingern ganz gut machbar ist. Allerdings muss man mehr Obacht geben, da sie dem Fuß keinerlei Halt bieten.

Ich versuche während des Gehens auszurechnen wieviel Kilometer Uwe bei 25 Tagen Gesamtgehzeit pro Tag im Durchschnitt gehen musste. Ich komme interessanterweise zu mehreren Ergebnissen. Ich rechne sicher insgesamt eine halbe Stunde und breche dann ab. Im Rechnen war ich noch nie gut und schon gar nicht ohne Hilfsmittel beim schnellen Gehen unter Schmerzen.

Später komme ich an der Kirche „Iglesia del santo sepulcro“ mit ihrem beeindruckenden gotischen Portal vorbei und komme somit alsbald in der Stadt Estella an. Hier bemerke ich zwei Dinge: Erstens habe ich mir durch das lange Gehen in den Crocs eine neue, zusätzliche Blase verschafft. Zehn Kilometer sind eben eine Herausforderung für Plastiklatschen. Zweitens müsste die Stadt nun endlich groß genug sein um einen kompetenten Schuster zu beherbergen, der meine Wanderschuhe bearbeiten kann. Also spreche ich eine einheimische Frau an. Diese weiß sofort Bescheid und sagt ich solle ihr folgen. Anscheinend ohne zu merken, dass ich Schmerzen habe, legt diese einen ungewöhnlich strammen Galopp an den Tag, dem ich nur schwer folgen kann. Der Gedanke an einen Schuhmacher in Reichweite lässt mich aber die Zähne zusammenbeissen. Halleluja. Der wird mich von meinen Schmerzen befreien, so hoffe ich. Dort angekommen verabschiede ich mich höflich von der hilfsbereiten Dame und wende mich dem „Zapatero“ zu. Dieser kann, welch Wunder, kein Englisch. Trotzdem ist ihm recht schnell klar worum es geht. „Aua“ und gleichzeitiges auf die Füße zeigen ist halt international verständlich. Mit prüfendem Blick drückt er an den Schuhen herum und gibt mir verschiedene Einlagen zum Probieren. Hinter mir in dem winzigen Geschäft wird die Schlange von Leuten immer länger. Aber jetzt bin ich dran. Ich bin Pilger und muss weiter. Nach einem langen Hin- und Her kaufe ich um weitere 15 Euro Einlagen.

Mit dem neuen Equipment setze ich mich auf ein Bankerl in der Nähe des Schusterladens in die Sonne und mache Mittag. Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich angefressen über diese nicht enden wollenden Fuß- und Schuhprobleme. Ich gehe wirklich gerne, doch dauernd diese Schmerzen zu haben ist zermürbend. Als Ablenkung erinnere ich mich an einen sehr schönen Moment als ich in Estella angekommen bin. Ich ging an einer größeren Reisegruppe vorbei, deren Führerin sogleich in mir einen Pilger erkannte und mir laut ein „Buen Camino“ entgegen rief. Ich daraufhin: „Danke! Danke!“. Die ganze Gruppe dreht sich zu mir um und einer der Touristen ruft freudig aus: „Ah, ein Deutscher unterwegs“. Ich gehe strahlend vorbei und recke die Arme mit den Stöcken in die Luft als wäre es bereits der Zieleinlauf in Santiago. „Nein, ein Österreicher“ rufe ich zurück. Was für ein Moment. So was hält dich aufrecht.

Weniger schön sind die Begegnungen mit Menschen die mich nerven. Die „Krankenschwester“ zum Beispiel mit ihrer schlechten Energie. Hoffentlich muss ich mich nie von ihr behandeln lassen sonst zieht mir die noch einen Faden irgendwo durch. Und zweitens „Frau Bedürftig“. Eine Dänin, die scheinbar nicht alleine sein kann und wirklich jeden am Weg anquatscht. Auch mich. Auf so eine ungute, saugende Art. Die braucht unbedingt Anschluss. Bei mir gibt’s so unter dieser Nummer aber keinen. Ich brauche meine Kraft für den Weg und muss aufpassen mir meine Reserven nicht abziehen zu lassen.

Meine Pause ist zu Ende und ich beschließe weiterzugehen. Mein Körper sagt zwar „NEIN“ doch mein Geist widerspricht und will weiter. Letzterer gewinnt und so gehe ich durch die Stadt und sehe plötzlich keine wegweisenden Pfeile mehr. „Geh mal zum Supermercado, kauf dir eine Dose mit dem Stier drauf und dann schau weiter“ denke ich mir. Dort angekommen sind weiterhin weit und breit keine Wegmarkierungen sichtbar. Total verlaufen. So was nervt mich besonders. Füße eh im argen und dann im Kreis gehen. Ich schimpfe wie ein Rohrspatz vor mich hin, finde dann aber den Weg wieder. In der Mitte des Kreises den ich gerade völlig umsonst gegangen bin. Nochmals acht Kilometer vor der Nase. Spitze! Noch zwei Stunden gehen bei guten Temperaturen jedoch kaputten Füßen.

Dann ein folgenschwerer Fehler. Ich unternehme den Versuch Trekkingschuh und Crocs zu mixen um meine Schmerzen zu lindern und mache innerhalb weniger hundert Meter die Bekanntschaft mit einer total verkrampften linken Wade. So hat sich die das nicht vorgestellt. Sie gibt „W.O.“. Das soll übrigens als Strafe für die nächsten Tage so bleiben. Dass die so empfindlich auf den nett gemeinten Versuch reagiert konnte ich ja nicht wissen. Obwohl ich den Versuch sofort beende bleibt die Wade trotzig und ich gehe sozusagen verkrampft weiter. Stehenbleiben kommt nicht in Frage. Ich glaube, ich fange langsam an etwas stur zu werden in Hinsicht aufs weitergehen. Ich will mich nicht von den Schmerzen kleinkriegen lassen. Ich habe ein Ziel und das will ich erreichen. Punkt. Wenn ich allerdings jeden Tag nur zehn Kilometer weit komme, kann ich in Santiago Weihnachten feiern.

Das Schöne am Weitergehen ist, dass wirklich dauernd was Neues daherkommt. So ist man abgelenkt. Jetzt zum Beispiel kommt rechter Hand die Bodegas Irache. Eine Weinkellerei, die neben dem Weg einen Zapfhahn installiert hat, zu dem jeder gehen kann um sich ein Schlückchen direkt aus der Wand zu zapfen. Unbegrenzt. Sie schreiben auf einer Tafel man solle nur nichts mitnehmen. Doch vor Ort ansaufen ist erlaubt.

Ich stelle mir hinter der Mauer einen 100.000 Liter Tank vor, der mit Kopfweh-Fusel befüllt ist. Selbstverständlich bin ich zwar über den Anblick und die Idee amüsiert, trinke aber keinen Tropfen. Meinen Körper in dem Zustand zusätzlich noch durch Alkohol zu schwächen erscheint mir unnötig. Oder saufen sich andere den Schmerz einfach weg? Wenig später sehe ich wieder ein wunderschönes Kloster. Ich komme langsam auf den Geschmack. Gott wollte ich ja sowieso näher kommen, also warum nicht Gefallen an seinen Häusern finden?

Weiter geht’s, natürlich bergauf. Ich arrangiere mich mit meinem Schmerz. Schenke ihm nicht dauernd meine Aufmerksamkeit. Er will gespürt und wahrgenommen werden. Doch er ist nur ein Teil meines Lebens. Das fällt mir auf. Gut so.

In Villamayor angekommen gehe ich schnurstracks auf die Herberge zu. Klettern wär passender. Der Zugang sind steile, hohe Stiegen und die Auffahrt zum Haus ist dermaßen steil, dass ich fast die Hände für den Vierfüßlerstand zu Hilfe nehmen muss. Die Betten in diesem Haus wollen erklommen werden. Ich falle um 17 Uhr in den Plastiksessel vor dem Haus und warte bis ich mit der Anmeldung an der Reihe bin.

Wieder lande ich in einem dunklen, muffigen aber zumindest sauberen Zimmer. Wer liegt da unter mir im Stockbett? Die nervige Dänin. Inzwischen sogar krank. In dem kleinen Raum wird jetzt auch noch herumgerotzt. Danke für die täglichen Prüfungen. Es sind übrigens überraschend viele Pilger krank wie ich bemerke. Überforderung? Überlastung? Ich bin erstaunlich gesund für das was ich mir da täglich antue.

Nach einer Dusche klettere ich wieder die Auffahrt hinunter und setze mich in Sichtweite an ein Denkmal am Platz. Wer kommt da? Die „Krankenschwester“. Inzwischen mit Begleitung. Das gibt’s nicht. Die verfolgen mich. Ich will meine Ruhe und nix draus lernen müssen! Der Mann setzt sich neben mich während „Schwester“ zur Herberge hinauf geht und nach einem freien Bett fragt. Nein. Komplett. Nichts zu machen. Die freundliche Hospitalera fragt per Telefon bei jemandem im Ort nach ob die zwei dort unterkommen können. Währenddessen wird mir ganz schnell klar, dass sich mit dem Mann und der Schwester die richtigen zwei getroffen haben. Die passen super zusammen. Er ist mit genauso schlechter Energie unterwegs wie sie. Jetzt hoffe ich nur noch, dass ich mein Abendessen einnehmen kann ohne Frau Besserwisser am Nebentisch zu haben. Dieser Wunsch wird mir gewährt. Schöner noch, ich treffe Resi und MMMaria wieder. Sie liegen sogar im selben 8-Bett Zimmer wie ich, was uns alle sehr freut.

Über die Zimmer freue ich mich weniger, die gehen mir echt auf den Senkel. Immer diese drangvolle Enge und überall die herumliegenden Smartphones. Alle Steckdosen sind belegt und die Mehrfachverteiler, an dem an jeden freien Platz ein Gerät hängt, konterkarieren die Enthaltsamkeit der Herbergen. Bis auf Kurznachrichten bleibt mein Handy deswegen ausgeschalten im Rucksack.

Kalt ist mir schon wieder, weswegen ich beim gemütlichen Pilgermenü mit Dorade einen Schwarztee bestelle an dem ich mir die Hände wärme. Resi und Maria sind da aus anderem Holz geschnitzt. Die Wandern brav, ohne Murren und schlafen immer in den Herbergen. Sie haben leider nur 14 Tage Zeit und schauen wie weit sie kommen. Nach dem Essen schreibe ich noch Kurznachrichten nach Zuhause und habe beim Lesen der lieben Antworten Tränen in den Augen. So geliebt zu werden ist schlichtweg nicht zu toppen und gibt unheimlich viel Kraft für hiesige Mühsal.

Ab in den Schlafsack und gute Nacht. Besonders wohl fühle ich mich immer noch nicht mit so vielen Menschen in kleinen Zimmern zu schlafen doch ich gewöhne mich ein wenig daran. Das Gute ist zumindest, dass die Gemeinschaft mein Pilgergefühl stärkt. Es ist das gemeinsame Ziel das aufscheint.

1.10. Sansol

Als ich in der Früh aufgrund des allgemeinen Geraschels aufwache, sehe ich erstmals einen Mann, der gestern schräg unter mir ein Bett besetzt hat, aber zum allgemeinen „Licht aus“ nicht erschienen war. Dieser legt sich jetzt in sein Bett während die anderen aufstehen? Da stimmt was nicht. Schnell macht im Zimmer die Runde, dass er über Nacht draußen schlafen musste. Ich schaue ihn an und wünsche ihm mitleidsvoll „all the best“. Er wirft mir einen ausdruckslosen Blick zu, antwortet nicht und dreht sich zur Wand. Was ist nur mit ihm passiert?

Die Ausgeschlafenen frühstücken und machen sich bereit für den ersten Regenschauer. Ich bin wieder der letzte der den dunklen Vorraum verlässt, da ich allerhand mit der Versorgung meiner Füße zu tun habe. Bis ich fertig verbunden in die Schuhe steigen kann vergeht inzwischen etwa eine halbe Stunde. Ich schaue auf meinen linken Fuß mit den vielen Pflastern auf der Ferse und einer deutlich spür-, und sichtbaren Flüssigkeitsansammlung. Ich überlege Hin und Her, beschließe aber in dieser Umgebung keine Öffnung der Blase vorzunehmen sondern diese nur abzukleben und loszugehen.

Selbstverständlich tut mir das Fahrgestell noch weh, obwohl es mein Körper wieder einmal geschafft hat, über Nacht die ärgsten Wehwehchen kleiner zu kurieren. Wie macht der das bloß immer?

Die heutige Etappe führt knapp 20 Kilometer über eine sogenannte „Rennstrecke“. Damit sind lange, breite und flache Wegstücke gemeint. Als ich endlich losgehe haben sich die Wolken bereits wieder verzogen.

Ach Du heiliger Herr Gott! Ich gehe den ersten Schritt aus der Herberge heraus und spüre stechende Schmerzen aus Richtung Fuß. Beim L-o-s-g-e-h-e-n! Mit dem Wissen das 20 Kilometer lang aushalten zu müssen. Wieviele Schritte sind das pro Fuss? 10.000? Es bleibt mir nichts anderes übrig als zu versuchen immer besser zu lernen mich mit meinen Schmerzen auseinanderzusetzen. Was für eine wertvolle Erfahrung. Ich eigne mir verschiedene Techniken an wie zum Beispiel in den Schmerz zu atmen. Oder ich „gehe“ innerlich gezielt in den Schmerz hinein und nehme ihn an.

Wichtig ist aktiv-konzentriert bei einer normalen Gangart zu bleiben und Schonhaltungen zu vermeiden. Ich spreche beruhigend und verständnisvoll mit mir selber und sage vor mich hin was zu tun ist. „Ja, es tut weh. Ich weiß Körper. Ich verstehe Dich. Es geht grad nicht anders. Lass uns weitergehen. Es wird sich auch wieder ändern“.

Durch all das und das Wissen, dass es sich um keinen Schmerz handelt der sofortiges Tun im Sinne einer ernsten Gesundheitsgefährdung erfordern würde, lässt mich weitergehen. Der Geist siegt über den Schmerz. Der Schmerz ist aber auch kein Feind mehr. Er ist ein täglicher Begleiter geworden, er gehört dazu. Er ist Sprache meines wundervollen Körpers.

Es ist dein Ziel, dass dich antreibt und dich Opfer bringen lässt. Ist der angenommene Schmerz ein Opfer das ich darbringe?

Nach ein paar Kilometern bleibe ich an einer mobilen Bar stehen, einer Art Wohnwagen in the middle of nowhere…und begegne Richard aus Wales, dem Pilger der vor der Herberge im Freien hat schlafen müssen. Er erzählt mir, dass er erst nach Türschluss zurück in die Albergue gekommen ist und nicht mehr hereinkonnte. Er war gezwungen draußen zu schlafen. Bei Temperaturen um 10°. Er sagte es war eiskalt. Warum er allerdings nicht gerufen und solange an die Tür getrommelt hat bis ihm jemand aufmacht, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Auf meine Frage hin, hat er jedenfalls nur mit einem Schulterzucken geantwortet. Ich bin froh, dass ihm nichts passiert ist!

Auf meinem anschließenden weiteren Weg, ich habe mich von Richard verabschiedet, passiert etwas Wunderschönes. Ich befinde mich plötzlich inmitten einer riesigen Schafherde. Keine Ahnung wo die gerade hergekommen sind. Es sind geschätzte 500 Tiere. Der Pulk von Tieren geht mit mir, dem Schäfer und zwei Hunden von einer Weide zur nächsten. Vor mir die Hälfte der Schafe und hinter mir die andere. Wir gehen im selben Tempo und die Tiere hinter mir schauen mich fragend an. Es blökt und bimmelt von allen Seiten. Alle sind dicht an dicht gedrängt. Umringt von weißen Wollknäueln. Ich muss herzlich lachen so schön ist diese harmonische und berührende Begegnung. Ich frage mich ob Schäfer nicht auch etwas für mich wäre? Kein Stress und immer mit lieben Tieren beisammen. Durch deutlich hörbares Motorenaufheulen der nicht weit entfernten Rennstrecke „Circuita de Navarra“ werde ich aus den Gedanken gerissen. Trotzdem versuche ich mich an einer Konversation mit dem Schäfer. Weit kommen wir aufgrund der Sprachunterschiede nicht doch „Austria“ kennt er. Irgendwas mit „viel Geld dort“ meint er. Wir nicken uns zu und verabschieden uns. Es sind oftmals gerade die ländlichen Einheimischen die auch den Reiz des Caminos ausmachen. Die meisten grüßen freundlich von ihren Traktoren herunter.

Übernachten möchte ich erst im übernächsten Dörfchen Sansol.

Weitere acht Kilometer bei strahlendem Sonnenschein über schöne, endlose Felder geht es dahin. Die Schmerzen pendeln regelmäßig zwischen Sohle, Blasen und Waden hin und her. Erstaunlich…ich gewöhne mich daran.

Um etwa 15:30 komme ich in Sansol an und erspare mir die Albergue, in der ich meine Mitpilgerin die Krankenschwester und ihren Begleiter erspähe, welche bereits ihre Betten bezogen haben. Wir grüßen uns, mehr Kontakt wollen beide Seiten sichtlich nicht. Die Antipathie ist sozusagen bilateral. Ich bekomme das letzte Privatzimmer an einem wunderschönen Ort namens „El Olive de Sansol“.

Ich freue mich tierisch, schmeiße meine gesamte Trikotage in die Waschmaschine und mich unter die Dusche. Das Wasser spült die diversen Pflaster von den Füssen und ich erschrecke. Am linken Fuß hat sich eine riesige Blase gebildet. Schaut aus als hätte ich ein Wachtelei unter der Haut. Analyse der Gesamtsituation ergibt: Hier mache ich einen Tag Pause. Ich muss. Der Füße wegen, meines Körpers wegen, wegen einfach allem. Wo wenn nicht hier? An diesem wunderbaren Ort. In diesem wunderbaren Haus.

In dessen wild bepflanztem Innenhof steht in der Mitte ein knorriger Olivenbaum. Am Platz daneben hänge ich meine gewaschenen Sachen auf die Wäscheständer und genieße den Rundumblick in`s Tal.

Mein Abendessen bekomme ich wiederum in der Herberge bei den anderen Pilgern. Ein ganz gutes Pilgermenü gibt’s auch hier. Die Tische sind voll. Nur ich sitze alleine an einem Tisch und freue mich darüber. Ich erlebe tagsüber so viele Eindrücke, dass ich gerne alles, inklusive Essen, alleine verdauen möchte. Damit das mit der Ruhe auch klappt, habe ich mir ein gespielt mürrisches Gesicht zurechtgelegt, welche ich aufsetze damit die anderen Bescheid wissen, dass ich momentan nicht an Kommunikation interessiert bin.

Am Abend kurz vor dem Schlafengehen, es ist etwa 22 Uhr, höre ich aus dem Nebenzimmer wie seit Stunden eine Frau ihrem Mann vorliest. In einer Lautstärke, dass ich fast jedes Wort verstehe. Wenn es nicht spanisch wäre. Es hört sich an als würde sie aus der Bibel lesen. Immer wieder fällt das Wörtchen „Camino“. Irgendwann habe ich von der Zwangsberieselung den Kanal voll da ich bei dem Krach nicht einschlafen kann. Ich gehe hinüber, klopfe an die Türe. Es wird still. Der Mann flüstert etwas seiner Frau etwas zu. Drinnen rumort es. Er findet sichtlich den Schlüssel nicht. Nach geschätzten drei Minuten Gezischel hinter der Tür, öffnet er diese. Ein ziemlich mitgenommen und verwirrt aussehender älterer Herr erscheint im Türrahmen. Haben die gebechert? Ich sage ihm, dass es ein bisschen laut ist wie seine Frau ihm so schön vorliest und dass ich darum bitte die Stimme etwas zu nivellieren. Er mault ein verständnisloses „OK“ und schließt zackig die Tür. Im vorbeispähen während unserer kurzen Unterhaltung erkenne ich, dass die zwei am Bett scheinbar direkt nebeneinander liegen während sie vorliest. Warum in aller Welt schreit sie dann so? Mich hat er ja auch verstanden. Somit war die Lesestunde beendet. Darum hab ich zwar nicht gebeten, dagegen habe ich allerdings auch nichts.

Geh immer weiter

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