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DER TAG DER ANREISE

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Ich sitze am Gare de Bayonne in Frankreich und habe einen guten Teil der Anreise bereits hinter mir. Zuhause konnte ich nach einer kurzen und tränenreichen Verabschiedung alles gut hinter mir lassen. Georg, mein bester Kumpel, hat mich um 4:45 in der Früh abgeholt. Das ist Freundschaft. Ich habe meine Haustür zugemacht und mich nicht mehr umgedreht. Ich habe alles so hinterlassen, dass es in Ordnung ist. Beruflich und Privat. So glaubte ich.

Ein gemeinsamer letzter „Caramel Macchiato“ bei einer beliebten Cafehauskette am Flughafen und eine berührende Verabschiedung. Auch hier…kein Umdrehen mehr. Kein Zurückschauen. Nur noch nach vorne.

Ich habe mich von allen Freunden und meiner Familie in einer Art und Weise verabschiedet, die mir selbst ein wenig Angst gemacht hat. Ich dachte, ich könnte vielleicht am Camino sterben. Meinem letzten Weg. Wenn dem so war, dann sollte es so sein. Selbst das habe ich in Kauf genommen. Ich musste dorthin.

Am Gate checke ich mein Befinden. Ich bin nervös, angespannt, habe Respekt vor dem was da kommt obwohl ich keine Ahnung habe was mich erwartet. Angst habe ich keine. Er hat mich gerufen und ich komme.

Einendhalb Stunden mit der Fokker 70 waren angenehm. Keine Spur von Flugangst, die mich so manches Mal in der Vergangenheit gequält hat. Mein Leben in dieser Situation an Gott zu übergeben beruhigt ungemein. Warum sollte er mich auch vor dem Camino abstürzen lassen?

Zwischenlandung in Genf. Eine Stunde Wartezeit und weiter ging`s. Das erste Mal in meinem Leben mit einer Propellermaschine. Beim Aussteigen stehen einige Passagiere mit mir im Gang, wartend das die Türe des Flugzeugs geöffnet wird. Da quatscht mich ein Typ mit herrlich amerikanischem Dialekt von rechts fragend an: „You go the camino?“

Mein Ziel sieht man mir sichtlich an in meiner petrolblauen Wanderhose und meinen neuen Trekkingschuhen. Ein sympathischer Typ. Das wird sicher lustig werden.

In Biarritz angekommen hocke ich nun nach einer halben Stunde Busfahrt am Bahnsteig und warte auf die Zugverbindung nach Saint Jean Pied de Port. Meinem Anfang und heutigem Ziel.

Neben mir ein heftig auf französisch streitendes Paar. Ich denke mir „Gott sei Dank verstehe ich nichts von dem was die sich entgegenknallen“. Rechts von mir ein Obdachloser der, lautstark Selbstgespräche führend, im öffentlichen WC verschwindet. Gott sei Dank verstehe ich auch den nicht. Es rumort von drinnen heraus. Was macht der da bloss?

Das pralle Leben schon hier. Meine Wahrnehmung ändert sich. Ausgestiegen aus meinem bisherigen Leben bin ich schon. Ich merke zu dem Zeitpunkt bereits, dass ich mich in einen anderen inneren Modus begeben habe. Offener. Mutiger. Interessierter was da ist. Vor allem spüre ich eine Art von Freiheit. Wochen habe ich vor mir, in denen ich unterwegs bin und mich um nichts aus der Kategorie „Alltag“ kümmern muss. Ein herrliches Gefühl.

Ich sehe immer mehr Pilger am Bahnsteig ankommen, mit ihren bunten Rucksäcken. Die meisten wahrscheinlich genauso ahnungslos wie ich was da auf sie zukommen wird. Jetzt noch eine Stunde Zugfahrt und wir sind da.

Nach einer Fahrt durch eine wunderschöne Landschaft hält der Zug. Unzählige Personen mit Rucksack steigen aus. Es wird die erste Pilgerkarawane der ich mich anschließe. Zuerst einmal zum Pilgerbüro. Mir meinen ersten Stempel holen, Wetternews und Höhenprofil begutachten. Die morgen auf mich zukommende Steigung verdränge ich lieber erstmal.

Die erste Nacht wollte ich noch einmal in einem Einzelzimmer verbringen. Ich hab`s noch nicht geschafft, mich in dieser mir so neuen Situation mit zehn anderen in einen Raum einer normalen Pilgerunterkunft zu zwängen. So checke ich nur wenige Meter neben dem Pilgerbüro in eine private Pension ein. So 2-Stern würde ich sagen.

„Private Pension“ wird über den gesamten Weg bedeuten, dass es Gästezimmer gibt und der Inhaber im selben Haus wohnt, sich aber sichtlich nicht dieselben Sanitäranlagen teilt. Diese waren hier skurrilerweise am Balkon im Freien untergebracht. Auch die Dusche. Mit einer lustigen Zeitschaltuhr. Unerreichbar von der Dusche aus. Völlig klar, dass es nach wenigen Minuten hinter mir „klick“ macht und ich eingeseift im Stockdunkeln stehe. Was soll`s? Ich hab mir viel vorgenommen, unter anderem nicht zu meckern und die Dinge hier anzunehmen. Wozu war ich denn hier? Es sollte kein Urlaub werden. Ich wollte mich verändern.

Die Besitzerin der Pension war für mich schon die erste Prüfung. 83 Jahre alt und, sagen wir, sehr eigen. Außer ihrer Meinung gab es keine andere. Meinte sie. Schon gar nicht von mir. Viel zu jung bin ich Ihr mit meinen knapp 40 Lenzen. Viel zu unerfahren. Wie viele Pilger sie wohl schon aus ihrer Pension hat losgehen sehen?

Die erste Nacht im fremden, schaukeligen Bett war in Ordnung. Doch musste ich sofort meine hygienischen und komfortorientierten Ansprüche herunterschrauben. „Es wird noch schlimmer werden“, sagt etwas in mir. Die Stimme sollte recht behalten.

Geh immer weiter

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