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II

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Am 24. August 410 erreicht der Westgote Alarich endlich das eigentliche Ziel jener vielen Barbarenhäuptlinge, die in das zerfallende Römische Westreich eingefallen waren. Im dritten Anlauf plünderte er Rom:

Nachdem er die Stadt umzingelt und die Bewohner noch einmal ausgehungert hatte, gelang ihm bei Nacht der Eintritt durch die Porta Salaria … Diesmal war der König nicht in der Stimmung, die Hauptstadt der Welt zu verschonen. Die Plünderungen dauerten zwei oder drei Tage. Den Kirchen wurde ein gewisser Respekt entgegengebracht … [aber] der Palast des Sallust … wurde niedergebrannt; und Grabungen am Aventin, damals ein schickes Adelsviertel, zeigen Spuren der Zerstörung durch Feuer. Man machte reiche Beute und zahllose Gefangene, darunter die Schwester des Kaisers, Galla Placidia.

Am dritten Tag führte Alarich sein triumphierendes Heer hinaus … und marschierte nach Süden … Sein Ziel war es, nach Afrika überzusetzen, wahrscheinlich, weil er sein Volk in jenem reichen Land ansiedeln wollte … Aber seine Tage waren gezählt. Er starb vor Ende des Jahres in Consentia [Cosenza].3

Alarichs Name bedeutete »der Herrscher aller«.

Alarichs Volk, die Westgoten, waren als erster Germanenstamm überhaupt in das Römische Reich eingefallen. Sie stammten ursprünglich aus dem fernen Baltikum, hatten aber schon länger in der aufgegebenen Provinz Dakien (in heutigen Rumänien) als halbsesshafte Ackerbauern gesiedelt, die normalerweise lange in einem fruchtbaren Gebiet blieben, bis sie ins nächste weiterzogen. Und sie waren zum arianischen Christentum bekehrt worden.A Von ihren früheren Wohnsitzen vertrieben, suchten sie eine neue Zuflucht, schafften es jedoch nie bis nach Afrika. Stattdessen verhandelten sie, als sie nach der Plünderung Roms in Süditalien gestrandet waren, mit den Römern über neue Siedlungsplätze im Reich. Ihr Erfolg inspirierte ihre gotischen Verwandten, die sie im tiefsten Osteuropa zurückgelassen hatten. Innerhalb von drei Generationen folgten ihnen ihre Cousins, die Ostgoten, auf dem Weg nach Italien.4

Die Westgoten waren kein Stamm im üblichen Sinn, auch herrschen gewisse Zweifel, ob ihr Name etymologisch überhaupt mit dem »Westen« in Verbindung gebracht werden kann. Unterschiedlicher ethnischer Herkunft waren sie allemal, sammelten sich auf Alarichs Wanderzügen um den erfolgreichen Anführer und nahmen den Zusatz »West-« erst an, nachdem sie sich vom Hauptstrom der gotischen Wanderung gelöst hatten.

Alarichs Heldentaten brachen den Bann, durch den sich andere barbarische Häuptlinge hatten zurückhalten lassen. Wie ein byzantinischer Kommentator bemerkte, wurde das Reich nicht durch »Flüsse, Lagunen oder Wälle« geschützt, »sondern durch Angst« – und Angst ist »ein Hindernis, das kein Mensch je überwunden hat, solange er von seiner Unterlegenheit überzeugt war«.5 Dank Alarich verloren die Barbaren das Gefühl, unterlegen zu sein.

Die spektakulären Riten zu Alarichs Bestattung provozierten Kommentare bei den Zeitgenossen und regen moderne Historiker und Ethnologen zu vielen Spekulationen an:

Ihre Wildlieit offenbarten die Barbaren beim Leichenbegängnis eines Helden, dessen Mut und Glück sie mit trauervollen Lobpreisungen feierten. Sie zwangen ihre Gefangenen zur Umleitung des Flüsschens Busentinus, das die Mauern von Consentia bespült. Das mit den prächtigen Beutestücken und Trophäen Roms geschmückte Königsgrab wurde im leeren Fluss angelegt, das Wasser anschließend wieder in sein natürliches Bett zurückgelassen und der geheime Ort, an dem Alarichs Gebeine ruhen, durch die grausame Abschlachtung der Gefangenen, die das Werk ausgeführt hatten, für immer verborgen.6

Allerdings erreichte »der Herrscher aller« trotz seines unglaublichen Ansehens keines seiner langfristigen Ziele. Er war der ewige Wanderer, der ständig die Gefolgschaft wechselte. Mal war er Roms Verbündeter, mal Roms Feind, mal Roms Zerstörer, mal ein anerkannter Schutzherr des Kaisers und mal der Partner eines Usurpators gewesen.7

Zu Alarichs Zeit wurde das Westreich von barbarischen Horden überschwemmt, die aus allen Richtungen über die Reichsgrenzen hinwegzogen. Britannien konnte dem Ansturm von Pikten aus dem Norden, Schotten aus Hibernien und germanischen Plünderern, die »die sächsische Küste« im Südosten belagerten, nicht mehr standhalten. Das römische Gallien lag im Bann der »Horde der Horden«, die den gefrorenen Rhein im Winter 406/07 überquerte. Kriegerische Rotten der Vandalen, Alanen und Sueben plünderten Aquitanien im Süden und drängten über das Gebirge auf die Iberische Halbinsel. Weitere Horden, darunter die Hunnen, standen schon bereit, um dem Weg der Westgoten durch die Donauprovinzen zu folgen.

Alarichs Nachfolger als Anführer der Westgoten schloss deshalb einen Handel mit dem Römischen Reich. Athaulf – der »edle Wolf« – erklärte sich bereit, Italien zu verlassen und seine barbarischen Verwandten aus Gallien und Spanien zu vertreiben. Seine einzige Bedingung war, dass er wieder den Status des kaiserlichen foederatus oder »Verbündeten« erhielt, den Alarich einst innehatte. In der Fassung eines Zeitgenossen, des Historikers Paulus Orosius, ist Athaulfs »Erklärung« eine interessante Lektüre:

»Im vollen Vertrauen auf Tapferkeit und Sieg«, sagte Athaulf, »trachtete ich einst danach, das Antlitz der Welt zu verändern, Roms Namen auszutilgen, auf seinen Trümmern die Herrschaft der Goten zu errichten und mir, gleich Augustus, den unsterblichen Ruhm des Gründers eines neuen Reiches zu erwerben. Wiederholte Erfahrung lehrte mich allmählich, dass … Gesetze wesenüich notwendig sind und dass dem wilden und unbezähmbaren Gemüt der Goten das heilsame Joch der Gesetze und der Zivilregierung unerträglich war … nunmehr hege ich den aufrichtigen Wunsch, die Dankbarkeit kommender Geschlechter möge das Verdienst eines Fremden anerkennen, der sich des Schwertes der Goten nicht bediente, um das Glück des Römischen Reiches zu zerstören, sondern um es wiederherzustellen und zu erhalten.«8

Das Jahrzehnt nach Alarichs Tod war voller gewalttätiger Konflikte nicht nur zwischen den Westgoten und ihren Rivalen, sondern auch unter den führenden westgotischen Familien. Athaulf führte sein Volk von Italien nach Südgallien und Spanien, wo sie die Vandalen, Sueben und Alanen angriffen. Gleichzeitig entzündete sich eine schwelende Fehde zwischen Alarichs Dynastie und den rivalisierenden Amalfingern neu. Athaulf, der mit der gefangenen Galla Placidia verheiratet war, wurde 415 in seinem Palast in Barcelona ermordet, zusammen mit ihren gemeinsamen Kindern. Ebenso erging es seinem direkten Nachfolger Sigerich, dem »König für fünf Tage«. Der Mann, der dann an die Spitze kam, ein kühner Krieger und raffinerter Diplomat namens Wallia, gilt manchen als ein illegitimer Sohn Alarichs. Es war Wallia, der den entscheidenden Vertrag aushandelte, in dem die Westgoten ihren Status als kaiserliche Verbündete bestätigt und dauerhafte Wohnsitze im römischen Aquitanien zugewiesen bekamen.

Das »Tolosanische Reich« trat demnach als ein abhängiger, aber autonomer kaiserlicher Regionalstaat ins Leben. Es umfasste einen von drei Teilen Galliens und wurde von Stammeshäuptlingen regiert, die unter der kaiserlichen hospitalitas standen. Auf der Grundlage eines Dekrets des Kaisers Honorius nahmen die Westgoten im Jahr 418 ihre neue Hauptstadt Palladia Tolosa (das heutige Toulouse) in Besitz. Nach Wallia wurden sie für den Rest des Jahrhunderts von fünf Königen regiert: Theoderich I., Thorismund, Theoderich II., Eurich und Alarich II. Theoderich I. und Alarich II. fielen im Kampf. Thorismund und Theoderich II. wurden ermordet. Eurich, der jüngere Bruder Thorismunds und des zweiten Theoderichs, führte das Reich auf den Gipfel seines Reichtums und seiner Macht.9

Allem Anschein nach übernahmen die Westgoten die Herrschaft in Aquitanien nach einer langen Zeit der Unruhe, ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen. Der gallo-römische Adel, der sich einst einem rebellischen gallischen Sonderreich angeschlossen hatte, war nicht gerade für seine Fügsamkeit bekannt. Doch die neuen Herren waren eifrige Nachahmer römischer Ideale, und es gab keine Auflehnung gegen ihre Regierung der harten Hand. Die westgotischen Könige nahmen gern Geiseln und bestraften ungehorsame Untertanen, aber sie schwelgten nicht in sinnloser Gewalt. Römer traten in ihren Dienst, vor allem der General Nepotanius, der Admiral Namatius aus Saintes und Victorius, der dux super septem civitates, oder »Gebieter über Septimanien«.10 Die Westgoten erließen keine eigenen Gesetze für die Gallorömer, was auf eine Bereitschaft zur Assimilation schließen lässt; eine neue Einteilung des Landbesitzes ging nicht mit größeren Konfiszierungen einher; und in religiösen Dingen entwickelten sich die arianischen Praktiken des westgotischen Klerus parallel zum gut etablierten Netzwerk römischer Bistümer und Landkirchen. Die Tatsache, dass die Synode von Agde im Jahr 506 auf westgotischem Territorium stattfand, lässt vermuten, dass die Nichtarianer keine Angst um ihre Sicherheit hatten.11

Der römischen Stadt Tolosa (Toulouse), auf einer Ebene unterhalb einer alten keltischen Bergfestung entstanden, hatte Kaiser Domitian zu Ehren der Göttin Pallas Athene, der Schutzpatronin der Künste, den Beinamen Palladia verliehen. Umgeben von einer alten augusteischen Stadtmauer war sie mit Aquädukten, Theatern, Bädern und einem aufwändigen Abwassersystem ausgestattet und lag an der strategisch wichtigen Via Aquitania, die durch Südgallien vom Mittelmeer zum Atlantik führte. Seit dem 4. Jahrhundert war sie ein aktives Zentrum des Christentums im Reich und Bischofssitz. Der hl. Saturninus, einer der ersten Apostel Galliens, war um 257 in Tolosa den Märtyrertod gestorben – er wurde von einem wilden Stier durch die Straßen geschleift. Die Basilika, die seine Reliquien hütete, bildete den Mittelpunkt der Gottesverehrung nach dem vom Konzil von Nizäa definierten Glaubensbekenntnis. Die Hauptkirche der Arianer war die in der Mitte des 5. Jahrhunderts über einem früheren Apollo-Tempel errichtete Nostra Domina Daurata.

Aquitanien konnte damals schon auf eine lange Tradition lebhafter theologischer Debatten zurückblicken. Der hl. Hilarius von Poitiers (um 300–368) war auch als Malleus Arianorum, ein früher »Hammer der Arianer«, bekannt. Der hl. Experius († 410), Bischof von Tolosa, bleibt als der Empfänger eines Briefes von Papst Innozenz I. in Erinnerung, in dem dieser den Kanon der Heiligen Schrift festlegte. Der Priester Vigilantius, der um 400 wirkte, galt dagegen als ein kühner Dissident, der den abergläubischen Heiligen- und Reliquienkult verurteilte. Der hl. Prosper von Aquitanien (um 390–455) war Historiker, Schüler des Augustinus und der erste Fortsetzer der Universalgeschichte des Hieronymuse12, und der hl. Rusticus von Narbonne († 461) schließlich, ein Vorkämpfer dessen, was später als »Katholizismus« gelten sollte, kämpfte gegen die neue nestorianische HäresieB ebenso wie gegen den älteren Arianismus seiner westgotischen Herren.

Sobald die westgotische Herrschaft etabliert war, dehnte sich das Reich stark aus. In fast jedem Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts kamen neue Gebiete dazu. Die Eroberung von Narbo Martius (Narbonne) im Jahr 436 verschaffte einen direkten Zugang zum Mittelmeer. Die ganze Septimania folgte später als ein Geschenk des Römischen Reiches. Nach dem Hunneneinfall Mitte des Jahrhunderts streiften die Westgoten weit im Norden umher, ein gutes Stück über die Loire hinaus, und im Jahr 470 drangen sie in Mittelgallien ein und verleibten sich die Civitas Turonum (Tours) sowie Arvernis (Clermont) ein. Danach brachten sie Arelate (Arles) und Massilia (Marseille) in ihren Besitz und erreichten bei einem systematischen Eroberungsfeldzug auf der Iberischen Halbinsel die Säulen des Herkules (Gibraltar). Von 474 an herrschte Vincentius, ein Römer in westgotischen Diensten, als Statthalter des Königs in Iberien mit dem Titel eines dux hispaniarum. Zur Jahrhundertwende kontrollierte man den größten aller Staaten im nachrömischen Westen und galt bereits als Gewinner unter den barbarischen Räubern des Reiches.

Theoderich I. (reg. 419–451) war mit zahlreichen Söhnen und Töchtern gesegnet und setzte sie ein, um ein ausgefeiltes Netzwerk dynastischer Allianzen aufzubauen. Vor allem aber blieb er bei zeitgenössischen Chronisten wie bei späteren Historikern wegen seines kühnen Einsatzes bei der Abwehr von Attilas Hunnen in Erinnerung. Er starb als treuer Verbündeter des kaiserlichen Generals Flavius Aëtius im Juni 451, als er seine Krieger in die blutige Schlacht auf den Katalaunischen FeldernC führte, die Gallien vor den furchtbaren Steppenreitem bewahrte.13 Drei seiner Söhne folgten ihm nacheinander auf dem Thron.

Nach Gibbon hatte Thorismund (reg. 451–453) eine Schlüsselrolle in der siegreichen Schlacht gespielt, in der sein Vater starb. Seine Truppen hatte er in Reserve auf den nahen Höhen gehalten, bis er schließlich von oben heranjagte und die Hunnen vom Felde trieb. Doch der Sieg brachte ihm wenig, wurde er doch von seinem Bruder Theoderich ermordet, bevor er seine Macht festigen konnte, angeblich weil er drohte, das Bündnis mit Rom aufzukündigen.

Theoderich II. (reg. 453–466) hat die historische Berichterstattung einerseits durch den schönen Namen seiner Ehefrau Königin Pedauco – was »Gänsefuß« bedeutet – bereichert und andererseits durch eine Beschreibung seiner Person aus der Feder eines Augenzeugen, wie es sie sonst für germanische Könige nicht gibt. Der lateinische Autor Sidonius Apollinaris (432–488) war Bischof von Arvernis und damit ein Untertan der Westgoten. In einem seiner erhaltenen Briefe kommt er der Bitte eines Freundes nach und beschreibt den König ausführlich:

Freilich ist es der Mann auch wert, … gekannt zu werden … Sein Körper ist gerade recht, er ist kein Riese von Gestalt, aber doch größer und stattlicher gewachsen als der Durchschnitt. Er hat einen wohlgerundeten Kopf, auf dem sein Lockenhaar von der glatten Stirn zurück auf den Hinterkopf reicht. Der Nacken sitzt nicht schlaff auf den Schultern, sondern steht kraftvoll empor. Buschige Augenbrauen bekrönen die beiden Bogen der Augen. Wenn er aber seine Augenlider senkt, dann reichen die Spitzen der Wimpern fast bis zur Wangenmitte. Ohren und Ohrläppchen werden entsprechend der Sitte seines Volkes von den zurückgekämmten Haaren bedeckt. Die Nase ist edel gekrümmt. Die Lippen sind schmal und werden durch keine Ausdehnung der Mundwinkel vergröbert. Die unterhalb der Nasenlöcher sprossenden Haare werden täglich abgeschnitten … der Bart, wenn er sich in der unteren Gesichtshälfte erhebt, [wird] ständig vom Barbier geschoren … Kinn, Kehle und der nicht fette, sondern kraftstrotzende Hals haben eine milchweiße Haut, die … von jugendlicher Röte übergossen wird; nicht Zorn, sondern ehrfürchtige Scheu bewirken nämlich häufig bei ihm diese Färbung. Die Schultern sind wohlgerundet, die Oberarme muskulös, die Unterarme kräftig, und breit die Hände; der Brustkorb wölbt sich über den zurücktretenden Bauch empor. Zwischen den Rippenbögen unterteilt ein schmales Rückgrat die Rückenpartie. Beide Hüften strotzen vor starken Muskeln. Im gegürteten Leib herrscht Lebenskraft. Fest wie Horn ist der Oberschenkel, der von Gelenk zu Gelenk voll männlicher Kraft erscheint. Seine Knie sind völlig frei von Falten und voller Schönheit. Die Unterschenkel stützen sich auf feste Waden, aber die Füße, die so mächtige Gliedmaßen tragen, sind dennoch zart.

… Vor Tagesbeginn sucht er mit einem ganz kleinen Gefolge die Gemeinschaft seiner Priester auf und betet mit großem Ernst … freilich … mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung … Der Rest des Morgens wird durch die Sorge um die Verwaltung des Reiches bestimmt. Neben dem Thronsessel steht der oberste Waffenträger. Die Schar der in Pelze gekleideten Gefolgsleute … bleibt … aus der unmittelbaren Umgebung verbannt … Unterdessen werden die Gesandten fremder Völker vorgelassen. Der König hört meistens zu, antwortet aber nur wenig … Wenn [eine Sache] rasch besorgt werden soll, treibt er dazu an. Die zweite Stunde ist da. Er erhebt sich vom Thron und hat nun Zeit, seine Schätze oder die Stallungen zu besichtigen.

Der Bischof, eindeutig ein Bewunderer, kommt nun richtig in Fahrt:

Auf der Jagd hält er es für unter seiner königlichen Würde, sich den Bogen umzuhängen. Wenn er … auf einen Vogel oder ein wildes Tier trifft, lässt er sich vom nachfolgenden Diener den Bogen reichen, dessen Saite oder Sehne lose herabhängt … Er fordert Dich vorher auf, das Ziel zu nennen. Du wählst aus, was er treffen soll, und was Du ausgewählt hast, trifft er. Und wenn schon einmal einer von beiden sich irrt, so irrt weniger oft der Schuss des Jägers als der Blick dessen, der das Ziel bestimmt hat.

Wenn man ihm zum Gastmahl folgt, das außer an Festtagen gerade so wie das eines privaten Hauses ist, dann gibt es hier keinen glanzlosen Haufen von verfärbtem altem Silber, den der keuchende Diener auf sich biegenden Tischen auftürmt. Das meiste Gewicht hat das Gespräch, da man bei dieser Gelegenheit entweder nichts oder aber Ernsthaftes redet. Die bequemen Sitzmöbel mit ihrem faltenreichen Überhang sind bald purpurfarben drapiert, bald mit weißem Linnen bespannt; die Speisen begeistern wegen der kunstvollen Art ihrer Zubereitung und nicht deswegen, weil sie an sich so wertvoll wären … Mit einem Wort, man sieht dort griechische Eleganz, gallische Überfülle und italische Spritzigkeit… und königliches Maßhalten … Nach dem Mahle fällt der Mittagsschlaf entweder ganz aus oder ist nur kurz. Zu den Stunden, in denen der König spielen möchte, greift er rasch zu den Würfeln. Er betrachtet sie genau, dreht sie gekonnt, wirft sofort, redet ihnen im Spaß gut zu und wartet geduldig. Bei guten Würfen schweigt er, bei schlechten lacht er … in jedem Fall zeigt er Gleichmut … Manchmal freilich, wenn auch selten, treten beim Abendmahl Schauspieler auf, doch so, dass kein Tischgenosse durch gallige und bissige Bemerkungen beleidigt wird. Man lässt dort weder Wasserorgeln erklingen noch einen Dirigenten ein Chorstück mit lauter Orchesterbegleitung zur Aufführung bringen. Dort macht kein Lautenspieler Musik, kein Flötenbläser, kein Tamburinmädchen und keine Gitarristin, da der König allein jener Musik zugetan ist, durch die Kraft in die Seele und Wohlklang ins Ohr dringen. Wenn er sich von der Tafel erhoben hat, zieht die Wache zuerst beim Schatzgewölbe auf … es [ist] an der Zeit, dass mein Griffel ein Ende finde, weil Du bloß über die Art und Persönlichkeit des Mannes erfahren wolltest, während ich beabsichtige, kein Geschichtswerk, sondern einen Brief zu schreiben. Lebewohl.14

Die Herrschaft Theoderichs II. litt unter den Wechselfällen der Reichspolitik. Im Jahr 455 besuchte Eparchius Avitus, der neu ernannte römische Befehlshaber in Gallien, Tolosa. Während seines Aufenthalts kam die Nachricht, dass Rom zum zweiten Mal geplündert worden sei, diesmal von den Vandalen, und Theoderich nutzte die Gelegenheit, um Avitus zum Kaiser auszurufen. Dann drang er zum ersten Mal auf die Iberische Halbinsel vor und rechtfertigte seine Eroberungen als Rückgewinnung von Reichsland. Seine Ansprüche überzeugten den nächsten Kaiser, Majorian, der von Gibbon als »ein großer und heldenhafter Charakter« beschrieben wird, überhaupt nicht, und wenigstens kurzfristig setzte er mit großer Energie in Gallien wieder die Reichsherrschaft durch.

Theoderichs jüngerer Bruder Eurich (reg. 466–484) ergriff die Macht inmitten militärischer Konflikte, nicht nur zwischen Westgoten und Reichstruppen, sondern auch zwischen verschiedenen westgotischen Parteien. Er tötete seinen Bruder, schlug einen tobenden keltischen Kriegherrn namens Riothamus, zog wieder über die Pyrenäen und siedelte eine Einheit ostgotischer Söldner aus römischen Diensten auf seinem Territorium an. Als Gesetzgeber wie auch als oberster Krieger erwies er sich als die vielseitigste Persönlichkeit seiner Familie: Obwohl er Latein konnte, sprach er zumeist mit Hilfe eines Dolmetschers Gotisch mit ausländischen Gesandten. Die arianischen Gottesdienste in seiner königlichen Kapelle wurden ebenfalls in gotischer Sprache gehalten. Allmählich dehnte er seine Herrschaft über die ganze Iberische Halbinsel aus. Der Codex Euricianus von 471 war der erste Versuch einer schriftlichen Zusammenfassung germanischer Gewohnheitsrechte in der nachrömischen Welt.15 Das war ein Zeichen politischer Reife. Im Jahr 476 überredete Eurich den vorletzten Kaiser des Westens, Julius Nepos, die nur noch nominelle römische Oberherrschaft über das Territorium der Westgoten aufzugeben. Bereits vor seinem Tode war das Römische Reich im Westen völlig in sich zusammengebrochen. Das Tolosanische Reich blieb verwaist als souveräner Staat zurück.

Die Forschung hat die Entwicklung des westgotischen Königtums im 5. Jahrhundert genau nachgezeichnet. In der ersten Phase gab es vor allem die Tendenz, alle Formen römischer Rechtspraxis und lateinischer Titel nachzuahmen. In der mittleren Phase sahen die Reges Gothorum sich schon als etwas Besseres, nicht mehr nur als reine foederati. Und in der letzten Phase, als Nachfolger des Reiches, agierten sie auf Augenhöhe mit dem Kaiser. Während eben dieser Entwicklung verlor die Oberschicht der westgotischen Gesellschaft, die optimates, über die Jahrzehnte hinweg allmählich an Einfluss. In der germanischen Tradition waren alle Krieger gleich gewesen – die nachrömische Monarchie dagegen betonte die Hierarchie und die Königswürde.16

Der fränkische Chronist Gregor von Tours (534–594) hat Eurich das Etikett eines Katholikenverfolgers angehängt, aber diese Unterstellung ist ungerecht. Ein paar unliebsame Geistliche wie Bischof Quinctianus von Civitas Rutenorum (Rodez) wurden ins Exil geschickt, aber es geschah nichts, was an die brutalen Verfolgungen heranreichte, die die arianischen Vandalen in Nordafrika in Gang setzten.17

Kurz nach dem Tod Eurichs und des letzten westlichen Kaisers Romulus Augustulus akzeptierte der Ostgote Theoderich, der sich auch Flavius Theodoricus nannte, den byzantinischen Befehl, auf Italien zu marschieren und das Kaisertum wiederherzustellen. Im Jahr 488 überquerte er deshalb die Alpen mit einem riesigen Heer, zerstreute die Verteidiger der nachrömischen Ordnung in alle Winde und tötete ihren Anführer Odoaker nach einer dreijährigen Belagerung Ravennas eigenhändig. Mit Hilfe seiner westgotischen Verwandten überrannte er dann die italienische Halbinsel von einem Ende bis zum anderen und nahm den Titel eines »Vizekaisers« an. Gestützt auf die militärische und kulturelle Macht von Byzanz und deren große Kriegsmarine, drohte sein ostgotisches Königreich mit der Hauptstadt Ravenna bald seine Nachbarn und Rivalen zu überragen. Neben dem westgotischen Tolosanischen Reich grenzte es an das (zweite) Reich der Burgunder, das gerade im Rhônetal entstanden war (siehe S. 119.).18

Eurichs Sohn Alarich II., der als Junge im Jahr 484 den Thron bestiegen hatte, war der Achte in der Königslinie. Er verwandte viel Energie darauf, Nachbarn und Untertanen gleichermaßen für sich zu gewinnen. Seine größte Leistung bestand in der Vorbereitung des berühmten Breviarum Alarici, einer überaus gelungenen Kompilation des römischen Rechts. Dieses Werk, das Gesetze nicht nur sammelte, sondern auch auslegte, wurde von einem Komitee aus Adligen und Geistlichen gebilligt, bevor es 506 in Kraft trat. Es sollte zu einem Standardtext im ganzen nachrömischen Gallien bis ins 11. Jahrhundert hinein werden.19 Darüber hinaus umwarb Alarich die Ostgoten. Er heiratete Theoderichs Tochter und zeugte mit ihr einen kleinen Sohn, was die Aussicht auf ein riesiges pangotisches Bündnis eröffnete.

Dann allerdings tauchte Alarichs Nemesis in Gestalt Chlodwigs auf, des Königs der germanischen Franken, der seit den 480er-Jahren begonnen hatte, sein Reich vom Rheinland aus nach Gallien hinein auszudehnen und schon fleißig dabei war, die Burgunder zu schwächen. Chlodwig war ein frisch bekehrter Katholik mit grenzenlosem Ehrgeiz und der Herrscher, der sich von einer Vereinigung der Goten wohl am stärksten bedroht fühlte.20 Im Jahr 497 hatte er sich mit den Bretonen – von den Angelsachsen aus Britannien vertriebene Briten, die sich in der späteren »Bretagne« niederließen (A.d.Ü.) – an der Westküste Aquitaniens zusammengeschlossen, wo die Hafenstadt Burdigala (Bordeaux) kurz besetzt wurde. Kurz darauf feierte er einen überwältigenden Sieg über seine östlichen Nachbarn, die Alemannen, und konnte sich jetzt mit voller Aufmerksamkeit dem Süden zuwenden. Alarichs Instinkt sagte ihm, dass er einer Konfrontation aus dem Weg gehen sollte. Einmal hatte er einen fränkischen Flüchtling namens Syagrius ausgeliefert, der es gewagt hatte, Chlodwig herauszufordern. Gregor von Tours berichtet, dass der Westgote darauf bestand, nach Ambaciensis (Amboise) zu reisen, wo er Chlodwig zu einem Gespräch auf einer Loire-Insel traf:

Igitur Alaricus rex Gothorum cum viderit, Chlodovechum regem gentes assiduae debellare, legatus ad eum dirigit, dicens: »Si frater meus vellit, insederat animo, ut nos Deo propitio pariter videremus…«

Als nun Alarich der Gotenkönig sah, dass König Chlodwig ohne Unterlass die Völker bekriegte und sich unterwarf, schickte er Gesandte an ihn und sprach: »Wenn es meinem Bruder beliebt, so wäre es der Wunsch meines Herzens, dass wir uns einmal sehen, so Gott will.« Chlodwig aber wies dies nicht zurück und kam zu ihm. Sie … sprachen, aßen und tranken miteinander … und schieden dann in Frieden.21

Wie sich herausstellte, ließ Chlodwig sich nicht so leicht besänftigen. Er war seit Kurzem durch Eheschließung mit den Burgundern liiert und außerdem mit dem byzantinischen Kaiser verbündet, der ihm den Titel eines Reichskonsuls übertragen hatte, und er wollte seinen Rivalen zuvorkommen. Gemeinsam beschloss man einen Feldzug ins Reich der Westgoten. Die Byzantiner sollten vor der Südküste patrouillieren, die Franken von Norden her einmarschieren. Ein Verhandlungsangebot des Ostgoten Theoderich wurde abgelehnt. Im Frühling des Jahres 507 erstrahlte ein »lodernder Meteor« am Nachthimmel:

Igitur Chlodovechus rex ait suis: »Valde molestum fero, quod hi Ariani partem teneant Galliarum …«

König Chlodwig sprach daher so zu seinen Kriegern: »Es schmerzt mich, dass diese Arianer einen so großen Teil Galliens besitzen. Lasst uns mit Gottes Hilfe einmarschieren und lasst sie unsere Macht spüren …« So zog das Heer weg [von Tours] in Richtung Poitiers … Als die Franken den Fluss Vigenna [die Vienne] erreichten, der durch Regen angeschwollen war, wussten sie nicht, wie sie übersetzen sollten, bis eine riesige Hirschkuh erschien und ihnen eine Furt durch den Fluss zeigte … Als der König sein Zelt auf einem Hügel nahe Poitiers aufschlug, sah er Rauch von der Kirche St. Hilaire aufsteigen und nahm dies als ein Zeichen, dass er über die Häretiker triumphieren werde. Es war alles für die schicksalhafte Schlacht vorbereitet: So griff Chlodwig Alarich den Gotenkönig auf der Ebene von Vouillé [in campo Vogladense] an, drei Wegstunden von der Stadt entfernt. Wie es ihr Brauch war, täuschten die Goten eine Flucht vor. Doch Chlodwig tötete Alarich von eigener Hand und entkam selbst [einem Hinterhalt] dank der Stärke seines Brustpanzers und der Schnelligkeit seines Pferdes.22

Das Ergebnis war also eindeutig (und die Vouglaisiens haben hier einen positiven Beweis für die Herkunft ihres Namens). Binnen weniger Stunden war die Macht der Westgoten in Gallien gebrochen. Und die Franken machten weiter Druck: Manche von ihnen ritten über das Zentralmassiv, um Landstriche bis hin zur Grenze Burgunds zu erobern. Chlodwig marschierte nach Burdigala, wo er überwinterte, bevor er im folgenden Frühling Tolosa plünderte. Ein Rest von Alarichs Heer leistete noch in Narbonne Widerstand, die meisten Westgoten jedoch zogen sich hinter die Pyrenäen zurück. Das gallische Kernland ihres Königreiches hatten sie aufgegeben. Von dieser Zeit an herrschten die Westgoten nur noch auf der Iberischen Halbinsel, wo sie ihre Macht bis zur Ankunft der Mauren zwei Jahrhunderte später bewahren konnten.

Für den fränkischen Sieg gibt es die verschiedensten Erklärungen. Die Version der Sieger, die Gregor von Tours verbreitete, betonte die helfende Hand eines katholischen Gottes. Selbst Edward Gibbon hob die Bedeutung der Religion hervor und schrieb dem gallo-römischen Adel fantasievoll die Rolle einer katholischen fünften Kolonne zu. Seine Interpretation wird heute angezweifelt.23 Auf sichererem Grund bewegt er sich dagegen, wenn er vom unbeständigen Kriegsglück schreibt: »So beschaffen ist die Macht der Fortuna – wollten wir weiterhin unser Nichtwissen unter diesem populären Namen verbergen –«, so Gibbon hochtrabend, »dass es fast genauso schwierig ist, die Kriegsereignisse vorherzusehen wie ihre Folgen zu erklären.«24

Über ein Jahrzehnt lang verfolgte der Ostgote Theoderich seine pangotischen Träume. Er war der Vormund von Amalrich, junger Erbe Alarichs II., sein Enkel, und der nominelle Herrscher eines, wie man hoffte, gerade entstehenden »Reiches«, das sich von den Alpen bis zum Atlantik erstrecken würde. Doch die Säulen seiner eigenen Macht bröckelten. Er konnte die Ordnung in Italien nicht aufrechterhalten, geschweige denn die Franken in Gallien herausfordern oder den Westgoten in Spanien helfen. Die römischen Kaiser in Konstantinopel nutzten die günstige Gelegenheit zu einer weiteren strategischen Offensive. Kurz nach Theoderichs Tod im Jahr 526 startete Kaiser Justinian einen Zug in den Westen.25 Für den Rest des 6. Jahrhunderts setzten sich kaiserliche Soldaten in Italien fest, während Alarichs Nachfolger ihre Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel festigten und die Nachfolger des Franken Chlodwig die mühsame Aufgabe antraten, Gallien in das Frankenreich und das Frankenreich in Frankreich zu verwandeln.

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