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Einleitung

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Mein ganzes Leben lang hat mich die Kluft zwischen Anschein und Wirklichkeit fasziniert. Die Dinge sind nie so, wie sie auf den ersten Blick aussehen. Ich kam als Untertan des British Empire zur Welt und las als Kind in meiner Children’s Encyclopaedia, dass »unser Reich« eines sei, »in dem die Sonne nie untergeht«. Auf der Landkarte sah ich mehr Rot als jede andere Farbe und war begeistert. Doch bald musste ich ratlos miterleben, wie »unsere« imperiale Sonne lodernd in einem Meer von Blut und Chaos am Nachkriegshimmel versank. Die Wirklichkeit, wie sie sich später zeigte, strafte den äußeren Anschein unbegrenzter Macht und Dauer Lügen.

In meiner Enzyklopädie las ich auch, dass der Mount Everest mit seinen 8840 Metern der höchste Gipfel der Welt und nach dem Leiter der Landvermessung in Britisch-Indien, Oberst Sir George Everest, benannt sei. Natürlich ging ich, wie es wohl auch vorgesehen war, von der unausgesprochenen Annahme aus, dass der höchste Punkt auf Erden britisch sei – und war pflichtschuldigst beeindruckt. Das alles klang doch sehr einleuchtend. Als ich Weihnachten 1953 mein Exemplar der Krönungsausgabe von Sir John Hunts Mount EverestA geschenkt bekam, hatte sich Indien aus dem Empire verabschiedet. Und inzwischen habe ich gelernt, dass der Mount Everest nie zu Indien oder zum Empire gehörte. Da der König von Nepal Everests Männern die Erlaubnis verweigert hatte, sein Land zu betreten, war der Berg aus sehr großer Entfernung vermessen worden; die 8840 Meter waren infolgedessen ziemlich ungenau, der englische Name des Berges geht auf einen Akt der Selbstherrlichkeit zurück, und seine authentischsten Namen lauten Sagarmatha (auf Nepali) und Chomolangma (auf Tibetisch).1 Wissen, so musste ich mir eingestehen, ist nicht weniger fließend als die Umstände, unter denen man es erlangt.

Als Junge hat man mich bei verschiedenen Gelegenheiten nach Wales mitgenommen. Da ich mit einem sehr walisischen Namen gesegnet bin, fühlte ich mich sofort zu Hause und gewann eine bleibende Verbundenheit zu diesem Land. Bei einem Besuch bei Freunden in einem Bergdorf nahe Bethesda, ebenfalls einer Familie Davies, lernte ich Menschen kennen, die normalerweise kein Englisch sprachen, und bekam mein erstes englisch-wahsisches Wörterbuch geschenkt, T. Gwynn Jones’ Geiriadur.2 Es machte mich zu einem lebenslangen Sammler fremder Sprachen, wenn auch leider nicht zu einem Meister des Walisischen. Beim Anblick der englischen Burgen in Conwy, Harlech und Beaumaris (die gewöhnlich und fälschlich »Welsh castles« genannt werden), sympathisierte ich eher mit den Eroberten als mit den Eroberern, und als ich irgendwo las, dass der walisische Name für »England«, Lloegr, »das verlorene Land« bedeutete, ließ ich mich von der Vorstellung verzaubern und stellte mir vor, welches gewaltige Verlustgefühl dieser Name ausdrückte. Ein gelehrter Kollege hat mir inzwischen erklärt, dass meiner Fantasie die Pferde durchgingen und die Etymologie diese Vorstellung nicht hergibt. Doch als jemand, der in einer englischen Umgebung aufgewachsen ist, bin ich immer wieder verblüfft darüber, dass alles, was wir heute »England« nennen, einst überhaupt nicht englisch war. Diese Verwunderung spielt eine große Rolle bei vielem, was ich in Verschwundene Reiche geschrieben habe. Schließlich trägt sogar die Stadt Dover ebenso wie der Fluss Avon einen durch und durch walisischen Namen.

Als Teenager, der in der letzten Reihe des Schulchors versuchte, den Ton zu treffen, fühlte ich mich besonders von einem Stück von Charles Villiers Stanford angesprochen. Aus irgendeinem Grund berührten mich die stoischen Worte und die schmelzende Melodie von »They told me Heraclitus«. Zu Hause schlug ich den Namen Heraklit in Blakeneys Smaller Classical Dictionary nach und las über den »weinenden griechischen Philosophen« aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., Heraklit hatte gesagt, dass »alles fließt« und dass »man nie zweimal in denselben Fluss steigen« kann. Er war der Pionier der Idee der Vergänglichkeit, und er tauchte früh in der Zitatesammlung auf, die ich als Schuljunge in einem Notizbuch führte:

They told me, Heraclitus, they told me you were dead.

They brought me bitter news to hear and bitter tears to shed.

I wept as I remembered how often you and I

Had tired the sun with talking and sent him down the sky.

And now that thou art lying, my dear old Carian guest,

A handful of grey ashes, long, long ago at rest,

Still are thy pleasant voices, thy nightingales, awake,

For Death, he taketh all away, but them he cannot take.3

Jemand hat mir, Herakleitos, von deinem Tod berichtet und mich zum Weinen gebracht.

Ich erinnerte mich, wie oft wir beide die Sonne im Gespräch untergingen ließen. Du,

mein Freund aus Halikarnassos, bist längst schon irgendwo Asche, deine Nachtigallen

aber leben, auf die der alles hinwegraffende Hades seine Hand nicht legen wird.B

Heraklit und seine Nachtigallen findet man in meiner Arbeit wieder.

Als Schulabgänger folgte ich dem Rat meines Geschichtslehrers und verbrachte die Sommerferien mit der Lektüre von Edward Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Imperiums sowie seiner Autobiografie. Gibbons Thema war, in seinen eigenen Worten ausgedrückt, »das vielleicht größte und schrecklichste Schauspiel in der Geschichte der Menschheit«.4 Ich habe nie etwas Großartigeres gelesen. Gibbons wunderbare Darstellung zeigt, dass die Lebensspanne auch der mächtigsten Staaten endlich ist.

Jahre später stürzte ich mich als Historiker in die Geschichte Mittel- und Osteuropas. Meine erste Aufgabe als Dozent an der University of London bestand darin, einen Kurs mit neunzig Einheiten zur polnischen Geschichte vorzubereiten. In dem Kurs sollte es vor allem um die Union oder Rzeczpospolita von Polen–Litauen gehen, die bei ihrer Entstehung im Jahr 1569 der größte Staat Europas war (oder zumindest über die größten bewohnten Landstriche unseres Kontinents herrschte). Dennoch wurde der polnisch-litauische Staat in wenig mehr als zwei Jahrzehnten am Ende des 18. Jahrhundert so vollständig vernichtet, dass kaum jemand heute auch nur von ihm gehört hat. Und er war nicht das einzige Opfer. Die Republik Venedig ging in dieser Zeit ebenso unter wie das Heilige Römische Reich.

Während meiner akademischen Laufbahn war die Sowjetunion die längste Zeit das wichtigste Forschungsobjekt meines Faches und eine der beiden Supermächte weltweit. Sie besaß das größte Territorium der Welt, ein gewaltiges Arsenal nuklearer und konventioneller Waffen und ein noch nie dagewesenes Aufgebot der unterschiedlichsten Sicherheitsdienste. Keine ihrer Waffen, kein Polizist hat sie retten können. An einem schönen Tag des Jahres 1991 verschwand sie von der Landkarte und wurde nicht mehr gesehen.

Deshalb war es wohl kein Wunder, dass ich mich, als ich anfing, die Geschichte der Britischen Inseln zu schreiben,5 fragte, ob die Tage des Staates, in dem ich geboren wurde und in dem ich lebe, des Vereinigten Königreichs Großbritannien, vielleicht auch gezählt sein könnten. Und nach längerem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass es tatsächlich so war. Meine strenge, nonkonformistische Erziehung hatte mich gelehrt, den Insignien der Macht gegenüber misstrauisch zu sein. Die wunderbaren, gemessenen Kadenzen des bekannten Kirchenliedes klingen noch in mir nach:

So be it, Lord; Thy throne shall never,

Like earth’s proud empires, pass away;

Thy kingdom stands, and grows for ever,

Till all Thy creatures own Thy sway.6

So sei es, Herr: Die Reiche fallen,

Dein Thron allein wird nicht zerstört;

Dein Reich besteht und wächst, bis allen

Dein großer, neuer Tag gehört.

Es ehrt Königin Victoria, Kaiserin von Indien, sehr, dass sie zu ihrem diamantenen Thronjubiläum um gerade dieses Lied bat.

Historiker und ihre Verleger verwenden übermäßig viel Zeit und Energie darauf, die Geschichte all jener Dinge zu verkaufen, die in ihren Augen mächtig, wichtig und beeindruckend sind. Sie fluten die Buchläden und die Hirne ihrer Leser mit Geschichten großer Mächte, großer Leistungen, großer Männer und Frauen, Erzählungen von Siegen, Helden und Kriegen – insbesondere von Kriegen, die »wir« angeblich gewonnen haben – und von den großen Übeltaten, denen wir uns entgegenstellten. Im Jahr 2010 sind allein in Großbritannien 380 Bücher über das Dritte Reich erschienen.7 Wenn schon nicht »Macht geht vor Recht«, so könnte das Motto der Verlagsbranche doch durchaus »Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg« lauten.

Historiker konzentrieren sich zumeist auf die Vergangenheit von Ländern, die es noch gibt, sie schreiben hunderte und tausende Bücher über britische Geschichte, über französische, deutsche, russische, über amerikanische und chinesische Geschichte, über indische und brasilianische, und so fort. Bewusst oder unbewusst suchen sie die Ursprünge der Gegenwart und setzen sich dabei der Gefahr aus, die Geschichte rückwärts zu lesen. Sobald Großmächte entstehen, seien es die Vereinigten Staaten im 20. oder China im 21. Jahrhundert, wird nach Lektüreangeboten zur amerikanischen oder chinesischen Geschichte gerufen, und ein Sirenengesang suggeriert, dass die heute wichtigen Länder auch jene seien, deren Vergangenheit die intensivste Erforschung verdiene, ja, dass ein breites historisches Wissens durchaus vernachlässigt werden könne. In diesem Dschungel der Informationen über die Vergangenheit setzen sich unweigerlich die großen Tiere durch. Kleinere oder schwächere Länder haben Schwierigkeiten, wahrgenommen zu werden, und tote Reiche finden selten überhaupt noch Fürsprecher.

Unsere mentalen Landkarten sind daher zwangsläufig verzeichnet. Unsere Hirne können Bilder nur aus den Daten zusammensetzen, die jeweils im Umlauf sind; und die verfügbaren Daten werden von Mächten der Gegenwart geschaffen, von vorherrschenden Moden und der gängigen Meinung. Wenn wir weiterhin andere Gebiete der Vergangenheit vernachlässigen, werden die weißen Flecken in unserem Denken größer, und wir schaufeln immer mehr Wissen in jene Gebiete, die wir schon kennen. Unvollständiges Wissen wird noch unvollständiger, und Unwissen verselbstständigt sich.

Der Trend zur Überspezialisierung bei den Fachleuten macht die Sache nicht besser. Der Tsunami der Informationen in der heutigen, vom Internet dominierten Welt ist übermächtig; die Zahl der Zeitschriften, die gelesen und der neuen Quellen, die herangezogen werden wollen, nimmt exponentiell zu, und viele junge Historiker fühlen sich genötigt, ihre Bemühungen auf minimale Zeitspannen und winzige Territorien zu beschränken. Sie sehen sich gezwungen, in einem obskuren, akademischen Jargon über ihre Arbeit zu sprechen, den sie mit immer kleineren Zirkeln gleichgesinnter Kollegen teilen, und überall hört man zur Verteidigung den Ruf: »Das ist nicht meine Epoche.« Da aber die akademische Diskussion – ja, eigentlich das Wissen selbst – durch Neueinsteiger fortschreitet, die die Methoden und Schlussfolgerungen ihrer Vorgänger hinterfragen, stehen Historiker jeden Alters, die in unerforschtes Gebiet aufbrechen oder großformatige, umfassende Panoramen malen wollen, jetzt vor immer größeren Schwierigkeiten. Mit wenigen – manchmal überaus wertvollen – Ausnahmen bleiben die Fachleute auf den ausgetretenen Pfaden.

In dieser Hinsicht war ich angenehm überrascht, als ich feststellte, dass einer der ganz Großen meiner Jugendzeit diesen Trend schon lange erkannt hatte. Mein eigener Tutor in Oxford, A. J. P. Taylor, durchstreifte weiträumig und furchtlos viele Felder der britischen und europäischen Geschichte und gab uns allen darin ein gutes Beispiel.8 Aber erst vor Kurzem ist mir klar geworden, dass Taylors großer Rivale Hugh Trevor-Roper das Problem schon mit gewohnter Eleganz definiert hatte:

Heute »spezialisieren« sich die meisten Historiker. Sie wählen eine Epoche, manchmal eine sehr kurze Zeitspanne, und innerhalb dieser Epoche bemühen sie sich in einem aussichtlosen Kampf mit den ständig wachsenden Quellenbergen, alle Fakten zu kennen. So gerüstet, können sie bequem jeden Amateur niedermachen, der es wagt … in ihr schwer bewachtes Territorium einzufallen. Ihre Welt ist statisch. Sie sind wirtschaftlich autark, haben eine Maginot-Linie und große Vorräte … aber eine Philosophie haben sie nicht. Eine Geschichtsphilosophie ist nämlich mit so engen Grenzen nicht vereinbar. Sie muss auf die Menschheit aller Epochen anwendbar sein. Um sie zu prüfen, muss ein Historiker sich über die Grenzen wagen, auch auf feindliches Terrain; um sie darzulegen, muss er bereit sein, Aufsätze zu Themen zu schreiben, über die er vielleicht nicht gut genug Bescheid weiß, um ganze Bücher zu füllen.9

Ich wünschte, ich hätte das früher gelesen. Taylor bewunderte zwar allem Anschein nach Trevor-Ropers Historical Essays,10 aber er legte sie seinen Studenten nicht besonders ans Herz.

Die oben angestellten Beobachtungen sind es vielleicht wert, intensiver betrachtet zu werden, und sei es auch nur, weil die etablierte Geschichtswissenschaft auf ihrer Abhängigkeit von den großen Mächten, von Erzählungen über die Ursprünge der Gegenwart und von übermäßig spezialisierten Themen beharrt. Das daraus entstehende Bild des Lebens in der Vergangenheit ist zwangsläufig unvollständig. In Wirklichkeit ist das Leben weitaus komplizierter; es besteht nicht nur aus Triumphen und Erfolgen, sondern auch aus Scheitern, Beinahezusammenstößen und gut gemeinten Versuchen. Mittelmäßigkeit, nicht ergriffene Gelegenheiten und Fehlstarts gibt es überall, aber sie erregen eben kein Aufsehen. Es stimmt schon, das Panorama der Vergangenheit ist mit Größe gespickt, aber gefüllt ist es hauptsächlich mit kleineren Kräften, kleineren Menschen, kleineren Leben und kleineren Gefühlen. Vor allem aber müssen alle, die Geschichte studieren, ständig an die Vergänglichkeit der Macht erinnert werden, denn Vergänglichkeit ist eines der fundamentalen Charakteristika der conditio humana wie der politischen Ordnung. Früher oder später endet alles. Früher oder später versagt das Herz. Alle Staaten und Nationen, egal wie groß, blühen eine Zeit lang und werden dann ersetzt.

Verschwundene Reiche ist mit dieser nüchternen, aber nicht unbedingt deprimierenden Wahrheit im Hinterkopf entwickelt worden. Verschiedene Fallstudien beschäftigen sich mit Staaten, »die einst groß waren«. In anderen geht es um Reiche, die gar nicht auf Größe aus waren. Manche beschreiben Staatsgebilde, die nie eine Chance hatten. Alle jedoch waren Teil Europas, und alle trugen zu jenem seltsamen Haufen krummen Holzes bei, den wir »europäische Geschichte« nennen.

»Verschwundene Reiche« ist ein Ausdruck, der ähnlich wie »Versunkene Welten« viele Bilder hervorruft. Er erinnert an furchtlose Entdecker, die die Höhen des Himalaja oder die Tiefen des amazonischen Regenwaldes durchstreifen; oder an Archäologen, die sich durch lange verlorene Schichten der Grabungsstätten in Mesopotamien oder im alten Ägypten wühlen.11 Der Mythos Atlantis ist nie weit weg.12 Dieses Konzept ist Lesern des Alten Testaments besonders vertraut. Es gab sieben biblische Reiche, so erfahren wir, zwischen dem alten Ägypten und dem Euphrat, und aufopferungsvolle Alttestamentler haben lange und hart an einem zeitlichen und lokalen Rahmen gearbeitet. Man kann über Ziklag, Edom, Zoba, Moab, Gilead, das Land der Philister und Geschur kaum etwas Sicheres sagen.13 Die meisten Informationen bestehen aus flüchtigen Anspielungen wie etwa: »Abschalom aber floh und ging zu Talmai, dem Sohn des Königs Ammihud von Geschur, und David trauerte lange Zeit um seinen Sohn.«14 Heute haben sich nach Jahrtausenden der Veränderungen und Konflikte zwei der Staaten, die einen Anspruch auf die Nachfolge jener sieben Königreiche erheben, seit Jahrzehnten beinahe ausweglos ineinander verbissen. Einer von ihnen hat trotz seiner erdrückenden Militärmacht keinen echten Frieden schaffen können; der andere, dem fast schon die Luft zum Atmen fehlt, wird vielleicht nie auf die Beine kommen.

Natürlich gehört es zur menschlichen Natur, dass jeder gern denkt, Katastrophen passierten immer nur den anderen. Vor allem Nationen, die früher oder auch jetzt noch über ein Reich herrschten und herrschen, haben Schwierigkeiten anzuerkennen, wie schnell sich die Gegebenheiten ändern. Wir Briten, die wir in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein behütetetes Leben führten und in unserer »Finest Hour«C allen Widrigkeiten zum Trotz standhielten, riskieren heute einen Zustand des Selbstbetrugs, der uns vorspiegelt, unsere Lage sei noch immer so gut, unsere Institutionen unvergleichlich, unser Land irgendwie ewig. Vor allem die Engländer leben in seliger Ahnungslosigkeit darüber, dass die Auflösung des Vereinigten Königreichs schon 1922 begann und sich wahrscheinlich fortsetzen wird; mit komplexen Identitäten sind sie nicht so vertraut wie die Waliser, die Schotten oder die Iren. Wenn daher das Ende kommt, wird es für sie überraschend kommen. Wer ernsthaft an das patriotische Lied »There will always be an England«, glaubt, hat keine Ahnung. Und dabei war es einer der immer noch vernommenen Dichter Englands, der im stillen Schatten des Friedhofs von Stoke Poges seine »Elegy« schrieb und das sichere Ende zusammenfasste, das auf Staaten und Menschen gleichermaßen wartet. Thomas Gray kennt die unserem Wesen eigene Eitelkeit:

The boast of heraldry, the pomp of power,

And all that beauty, all that wealth e’er gave.

Awaits alike th’inevitable hour:

The paths of glory lead but to the grave.

Der Wappen Prahlerei, der Pomp der Macht,

Was je der Reichtum und was Schönheit gab,

Sinkt unerlöslich hin in eine Nacht:

Der Pfad der Ehre führet nur ins Grab.15

Früher oder später kommt der Todesstoß. Seit der Niederlage des Dritten Reiches 1945 sind schon für einige europäische Staaten Nachrufe geschrieben worden: für die Deutsche Demokratische Republik (1990), die Sowjetunion (1991), die Tschechoslowakei (1992) und Jugoslawien (2006). Es werden zweifellos noch mehr werden. Die schwierige Frage dabei ist nur, wer der Nächste sein wird. Angesichts seiner gegenwärtigen Dysfunktionalität könnte Belgien Europas nächster Riesenalk werden, oder vielleicht Italien. Es ist unmöglich, sich da festzulegen. Und niemand kann einigermaßen sicher vorhersagen, ob das jüngste Kind der europäischen Staatenfamilie, die Republik Kosovo, untergehen oder schwimmen wird. Aber jeder, der glaubt, dass das Gesetz der Vergänglichkeit für ihn nicht gilt, lebt in einem Wolkenkuckucksheim (ein von Aristophanes geprägtes Wort, das sein Publikum dazu bringen sollte, innezuhalten und nachzudenken).

Vielleicht trägt auch die moderne Erziehung hier eine gewisse Verantwortung. Vor nicht allzu langer Zeit, als alle gebildeten Europäer noch mit einer Mischung aus Evangelien und antiken Texten groß wurden, war ihnen allen die Vorstellung der Sterblichkeit, bei Staaten ebenso wie bei Individuen, nur allzu vertraut. Christliche Gebote wurden zwar weithin missachtet, aber sie sprachen von einem Reich, das »nicht von dieser Welt« war. Die antiken Texte, die angeblich universelle Werte propagierten, waren das Produkt einer hoch geehrten, aber untergegangenen Kultur. Der »Ruhm Griechenlands« und die »Größe Roms«D hatten sich Jahrtausende zuvor in Luft aufgelöst; sie erlitten das gleiche Schicksal wie Karthago und Tyros, aber im Denken der Menschen waren sie noch lebendig.

Irgendwie muss meine eigene Ausbildung an der Schule und Universität da noch durchgerutscht sein, bevor der Verfall einsetzte. An der Bolton School Iernte ich Latein, fing mit Griechisch an und übernahm meinen Teil an den täglichen Bibellesungen in der Schulaula; meine Geschichts- und Geografielehrer, Bill Brown und Harold Porter, ermunterten ihre Oberstufenschüler dazu, Bücher in fremden Sprachen zu lesen. Während meines Jahres in Frankreich, in Grenoble, saß ich in der Bibliothek und kämpfte mich durch eine ganze Menge Michelet und Lavisse in der Hoffnung, dass irgendetwas hängen bleiben möge. Am Magdalen College wartete ein unvergleichliches Tutoren-Dreigestirn in Gestalt von K. B. McFarlane, A. J. P. Taylor und John Stoye auf mich. In meiner allerersten Tutorenstunde erklärte McFarlane mit einer Stimme, so sanft wie seine Katzen, man solle »nicht alles glauben, was man in Büchern liest«; Taylor sollte mir später empfehlen, die Doktorarbeit zu vergessen und ein richtiges Buch zu schreiben, weil »Doktortitel etwas für zweitklassige Wissenschaftler« seien; seine politischen Ansichten waren seltsam, sein Gehabe gegenüber Schülern onkelhaft, seine Vorlesungen großartig und sein Prosastil köstlich. Stoye, der sich damals mit der Belagerung von Wien beschäftigte, half mir meinen Horizont in Richtung Osten zu erweitern. Als Doktorand in Sussex lernte ich Russisch, nur um dann durch einen langen Aufenthalt in Polen von allen panslawischen Illusionen geheilt zu werden. An der Jagiellonen-Universität in Krakau fand ich mich in der Obhut erfahrener Historiker wie Henryk Batowski und Jozef Gierowski wieder, die sich vor allem damit beschäftigten, die Übergriffe eines totalitären Regimes abzuwehren, und infolgedessen leidenschaftlich an die Existenz historischer Wahrheit glaubten. Zurück am St Antony’s College in Oxford saß ich solchen Giganten wie William Deakin, Max Hayward und Ronald Hingley zu Füßen, die Geschichte, Politik, Literatur und haarsträubende Kriegsanekdoten miteinander verflochten; mein Doktorvater war der verstorbene Harry Willetts, Fachmann für polnische und russische Philologie und Übersetzer Solschenizins; seine Oberseminare fanden in der Küche seines Hauses am Church Walk statt, wo man aus erster Hand von seiner polnischen Ehefrau Halina erfuhr, was Deportation ins stalinistische Sibirien wirklich bedeutete. Als ich schließlich eine Stelle als Wissenschaftler an der School of Slavonic and Eastern European Studies (SSEES) in London fand, trat ich in den Schatten von Hugh Seton-Watson, eines polyglotten, unglaublich gelehrten Mannes, der auch während des Kalten Krieges nie vergaß, dass Europa aus zwei Hälften besteht. Hugh schrieb eine Rezension meines ersten Buches, anonym, wie es beim Times Literary Supplement damals üblich war, und bekannte sich erst etwa zehn Jahre später dazu. Wir alle an der SSEES hatten Mühe, einem Publikum, das in einer offenen Gesellschaft lebte, die Realitäten abgeschotteter Gesellschaften nahezubringen; wir alle hüteten schwache intellektuelle Flammen, die stets zu verlöschen drohten. Und das an sich war eine wichtige Erfahrung.

Heute stehen die Barbaren im Vorgarten. Die meisten Schulkinder sind nie mit Homer oder Vergil in Berührung gekommen; manche erhalten überhaupt keinen religiösen Unterricht, egal in welcher Form; und das Lernen moderner Fremdsprachen ist fast zum Erliegen gekommen. Geschichte selbst muss um einen untergeordneten Platz im Curriculum kämpfen, neben offenbar wichtigeren Fächern wie Wirtschaft oder Informatik, Soziologie oder Media Studies. Materialismus und Konsumgesellschaft geben den Ton an. Junge Leute müssen in einer Welt des falschen Optimismus lernen. Anders als ihre Eltern und Großeltern wachsen sie mit sehr wenig Gespür für das gnadenlose Vergehen der Zeit auf.

Die Aufgabe des Historikers geht daher über die Pflicht hinaus, die allgemeine Erinnerung zu pflegen. Wenn an wenige Ereignisse der Vergangenheit überall und ständig erinnert wird und andere ebenso wichtige Themen dabei unter den Tisch fallen, braucht man entschlossene Kundschafter, die die ausgetretenen Pfade verlassen und einige der weniger schicken Erinnerungsstätten bewahren. Das ähnelt der Arbeit von Ökologen und Naturschützern, die sich um bedrohte Arten kümmern, und jener, die, indem sie das Schicksal des Dodo und des Dinosauriers untersuchen, ein wahres Bild vom Zustand unseres Planeten wie auch von seinen Perspektiven entwerfen.

Die vorliegende Geschichte einer Auswahl ausgestorbener Reiche habe ich mit eben dieser Neugier erforscht. Der Historiker, der sich auf die Spuren des »Königreichs Strathclyde« oder der »Republik für einen Tag« begibt, ist ebenso aufgeregt wie ein Biologe, der das Versteck des Schneeleoparden oder des Sibirischen Tigers aufspürt. John Keats beschreibt dieses Gefühl so: »Sah Könige, Fürsten, Ritter stehn –/So bleich, wie Tod nur bleich sein kann …«16

Das Thema der menschlichen Hybris ist natürlich nicht neu. Es ist älter als die Griechen, die das Wort erfanden und auf der Zeit ihrer größten Macht die schon halb im Wüstensand versunkenen Statuen der ägyptischen Pharaonen entdeckten.

»My name is Ozymandias, King of Kings:

Look on my works, ye Mighty, and despair!«

Nothing beside remains. Round the decay

Of that colossal wreck, boundless and bare

The lone and level sands stretch far away.

Mein Name: Ozymandias, König der Könige!

Schaut auf mein Werk, ihr Mächtigen, und verzweifelt.

Nichts anderes hat überlebt als das.

Rings um den Trümmerbruch

der Riesenstele dehnt sich ohne Maß

die Ebene voller Sand als weites Tuch.17

∗∗∗

Vom ersten Tag an habe ich mich bei der Planung dieses Buches auf zwei Prioritäten konzentriert: den Unterschied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit herauszuarbeiten und die Funktionsweise des historischen Gedächtnisses zu erforschen. Deshalb ist jede Fallstudie dreigeteilt. Teil I jedes Kapitels skizziert eine Region in Europa, wie sie heute aussieht. Teil II erzählt die Geschichte eines »vanished kingdom«, das sich einst in jener Gegend befand. Teil III untersucht, wie sehr dieses »vanished kingdom« in Erinnerung geblieben ist oder vergessen wurde; allzu oft erinnert man sich kaum daran und hat es halb vergessen, oder es ist völlig aus dem Gedächtnis verschwunden.

Zudem habe ich mir alle Mühe gegeben. Verschwundene Reiche aus den vielen wichtigen Epochen und Regionen der europäischen Geschichte auszuwählen, wie der Umfang des Buches es zuließ. Tolosa zum Beispiel lag im Westen Europas, Litauen und Galizien im Osten. Alt Clud und Éire befanden sich auf den Britischen Inseln, Preußen im Baltikum, Tsernagora auf dem Balkan und Aragon auf der Iberischen Halbinsel und im Mittelmeerraum. Die »fünf, sechs, sieben Königreiche« des Burgund-Kapitels umfassten im Mittelalter sowohl das heutige Frankreich wie auch Teile Deutschlands; bei Savoyen geht es vor allem um die Frühe Neuzeit und um die Verbindung von Frankreich, der Schweiz und Italien; Rosenau und die UdSSR gab es nur im 19. bzw. 20. Jahrhundert.

Natürlich kann man das Thema der Verschwundenen Reiche mit einer begrenzten Anzahl von Beispielen, wie ich sie hier präsentiere, nicht erschöpfend behandeln. Die »Geschichte des halb vergessenen Europa« ist viel komplexer, als jede Auswahl sie darstellen kann. Viele Kandidaten mussten herausfallen, und sei es auch nur als Platzgründen. Eine dieser Studien, »Kernow«, befasst sich mit dem Reich König Marks im nachrömischen Cornwall und schmückt sich mit Gedanken zum Thema des kulturellen Genozids und Auszügen aus dem Werk des kornischen Dichters Norman Davies. Eine andere Untersuchung, »De Grote Appel: Eine kurzlebige holländische Kolonie«, berichtet von New Amsterdam, bevor es zu New York wurde. Eine dritte, »Carnaro: Die Regentschaft des ersten duce«, erzählt die außergewöhnliche Geschichte von Gabriele d’Annunzios Machtübernahme in Fiume im Jahr 1919 und schließt mit seinem wunderbaren Gedicht »La pioggia nel pineto«, »Regen im Pinienhain«.

Bei all diesen Unternehmungen habe ich natürlich intensiv auf die Werke anderer zurückgegriffen. Kein Historiker kann so gründlich über alle Bereiche und Epochen der europäischen Geschichte Bescheid wissen, und gute Generalisten weiden sich mit Genuss an den Mahlzeiten, die ihre spezialisierten Kollegen ihnen auftischen. Jeder, der unvertrautes Terrain betritt, muss sich mit Karten, Führern und Berichten all jener wappnen, die schon dort waren. In den frühen Phasen meiner Forschungen erhielt ich unglaublich wertvolle Tipps von spezialisierten Kollegen wie dem verstorbenen Rees Davies zum Alten Norden, von David Abulafia zu Aragon oder von Michał Giedroyć zu Litauen, und fast alle Kapitel haben stark von Spezialuntersuchungen und gelehrten Gesprächen profitiert. Kurz gesagt ist jeder einzelne Abschnitt meiner kleinen Kathedrale aus den Ziegeln, Steinen und Entwürfen anderer Historiker entstanden.

Platons Metapher vom »Staatsschiff« hat mir immer sehr gefallen. Die Vorstellung eines großen Schiffs mit Steuermann, Besatzung und vielen Passagieren, das durch das Meer der Zeit pflügt, spricht mich unwiderstehlich an – ebenso wie die vielen Gedichte, die es feiern: O navis, referent in mare te novi fluctus! O quid agis? Fortiter occupa portum! Nonne vides ut nudum remigio latus…18

Soll dich wieder, o Schiff, tragen ins Meer die Flut!

O was hast du im Sinn? Standhaft behaupte den

Hafen! Siehest du nicht, wie

Deine Seite von Rudern leer.E

Oder aber:

Thou, too, sail on, O Ship of State! Auch Du ziehe weiter, o Staatenschiff,
Sail on, O Union, strong and great! Du Union, so stark und groß!
Humanity with all its fears Die Menschheit mit all ihrer Furcht, ihrem Leid,
With all the hopes of future years, Mit all ihrem Hoffen auf kommende Zeit,
Is hanging breathless on thy fate!19 Mit Beben hängt an Deinem Los!

Diese Zeilen des Dichters Henry Wadsworth Longfellow hat Präsident Roosevelt handschriftlich am 20. Januar 1941 an Winston Churchill gesandt. Begleitet waren sie von einer Notiz: »Ich glaube, diese Verse wenden sich an Ihr Volk ebenso wie an uns.«20

Eben diese Gedanken kommen einem in den Sinn, wenn man sich den Kopf über »kingdoms that have vanished« zerbricht. Denn die »Staatsschiffe« segeln nicht ewig weiter. Manchmal trotzen sie den Stürmen, manchmal gehen sie unter. Gelegentlich retten sie sich in einen Hafen und werden repariert; bei anderen Gelegenheiten werden sie, irreparabel beschädigt, abgewrackt; oder sie sinken, sie gleiten hinab und finden eine verborgene Ruhestätte unter Krebsen und Fischen.

Das lässt andere Assoziationen hochkommen, solche, bei denen der Historiker zum Strandguträuber und Schatzsucher wird, einem Sammler von Treibgut aller Art, der Wracks hebt, einem Tiefseetaucher, der den Meeresboden absucht, um zu bergen, was verloren war. Dieses Buch fühlt sich wohl in der Kategorie historischer Bergungsversuche. Es sammelt die Spuren gesunkener Staatsschiffe und lädt den Leser ein, freudig mitzuerleben, wie die angeschlagenen Galeonen zumindest auf dem Papier ihre umgestürzten Masten wieder aufrichten, die Anker lichten, die Segel füllen und in der Dünung des Ozeans erneut auf Kurs gehen.

Norman Davies

Peterhouse und St Antony’s

für die deutsche Übersetzung Juni 2013

A Engl.: The Ascent of Everest. Deutsch: Mount Everest. Kampf und Sieg, Wien 1954. A.d.Ü.

B Dieser Heraklit ist nicht der Naturphilosoph, sondern ein hellenistischer Dichter. Das Gedicht ist in der englischen Fassung von William Johnson Cory ziemlich bekannt. Die hier gewählte Übersetzung ist von Doris Meyer aus ihrem Buch Inszeniertes Lesevergnügen, Stuttgart 2005. (A.d.Ü.)

C Rede Churchills 1940, A. d. Ü.

D Aus „To Helen“ von E. A. Poe, A. d. Ü.

E Übers. K. F. Preiß, A.d.Ü.

Verschwundene Reiche

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