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1968

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„Diese Revolutionen – wenn ich über sie spreche, tut mir die ganze Zeit der Kopf weh. Und das Herz“, sagt Josyp Mychaltschyn und legt die Hand auf seine Brust. „Wie viele davon habe ich erlebt ... 1968 wollten mein Vater und meine Mutter zurück in die Tschechoslowakei. Ich habe sie gefahren. Da war gerade der Prager Frühling, es wurden Reservetruppen in die Tschechoslowakei gebracht. Wir hatten keine Ahnung: haben alles ins Auto gepackt, auf Wiedersehen gesagt, los gehts. Wir hatten Dokumente mit einem Siegel, mit Angaben, wohin wir gehen – alles war so, wie es sein sollte.“

Aber als wir uns der Grenze näherten wurde das Zutrauen erschüttert. Das Auto wurde vom sowjetischen Militär angehalten.

„Welche andere Tschechoslowakei?! Was hast du dir ausgedacht?!“, erinnert sich der alte Mann. „Ich antworte: ‚Warum ausgedacht, die Dokumente sind alle vorhanden, die Eltern haben ihre Sachen für eine dauerhafte Ausreise zusammengesammelt, Schluss.‘ Der Soldat rannte zum Wachhäuschen und ich hörte ihn sagen: ‚Genosse Oberst, hier gehen die Leute in die Tschechoslowakei! Was ist zu tun?!‘ Ich denke, los gehts, das war es. ‚Okay gut! Verstanden, verstanden,‘ höre ich. ‚Schau!‘, sagt er zu mir wie zu einem Jungen, und ich war damals noch jung. ‚Wenn du auf militärische Konvois triffst – störe sie nicht! Sonst findet man dich in einer Schlucht wieder.‘ Wir fahren los – und tatsächlich: Die Karpaten sind voll von Panzern.“

Josyp und sein Vater und seine Mutter kamen in ihrem alten GAZ-24 Wolga in die Tschechoslowakei. Und dort ist alles ruhig: Die Menschen hatten keine Ahnung, was für sie von Seiten der ukrainischen Karpaten vorbereitet wurde.

„Wir kamen in Chmeľová an. Papa zog ein, aber nicht mehr in sein Haus, sondern in das seiner Schwester. Es war schwer, sich zu verabschieden. Weil ich hier in Hruschwyzja Perscha eingeheiratet habe, mein Haus gebaut habe, konnte ich nicht weg. So hat uns die Grenze voneinander getrennt. Mein Vater und meine Mutter sind dort in Chmeľová gestorben. Und ich pflegte zu sagen, man solle mich dort begraben. Jetzt weiß ich es selbst nicht.“

Mikula und Zuzana Mihalčin waren durchaus nicht die einzigen, die zurückkehrten. Nach Stalins Tod wurden die Regeln gelockert, Tausende ehemalige Migranten aus der Slowakei konnten umziehen. Von den zwölftausend Menschen, die 1947 die Ostslowakei verließen, blieb bis 1967 nur die Hälfte in Wolhynien. Obwohl der Boden steinig und die Häuser nicht so gut sind, ging es den Menschen in ihrer Heimat besser. Wolhynien wurde für die meisten nie zum Heimatland.

Aber für Josyp wurde es Heimat. Nach 1968 sah er seine Eltern jedoch nur noch selten.

„Wie oft sind wir dort hingefahren, fünfmal, siebenmal?“, fragt er seine Valentina. „Wir fuhren nach Chmeľová und waren außerdem noch in Prag. Mehr nicht, weil es Geld kostet. Aber in Tschechien gibt es etwas zu sehen. 1986 lieh ich mir dort einen Schiguli, einen Lada 6. Ich war überrascht, dort sieben Kilometer lange Autotunnel zu sehen. Und auf den Gleisen gibt es spezielle Brücken für Tiere, denn das Gleis ist eingezäunt, so dass weder Hirsche noch Hasen unter die Räder laufen. Du kannst sehen, was die Leute tun. Vielleicht werden unsere Enkel oder Urenkel so etwas erleben? Das ist gerade um die Ecke, wie weit ist es dort bis Uschhorod? Einer meiner Enkel hat dort eine Wohnung und ein Auto gekauft und möchte dort dauerhaft leben. Ich habe schon nicht nach Details gefragt, es geht ihm gut.“

Verwandte und Bekannte aus der Slowakei haben ebenfalls Hruschwyzja Perscha mehr als einmal besucht.

„Wir hatten sogar Besuch aus Amerika. Er kam zusammen mit meinem Patensohn, dem Sohn von Stepan Kruschko, der Englisch spricht. Dann haben sie in München ein Auto gemietet, dort Benzin geholt, um nicht hier zu tanken, und sind angekommen. Das ist ein entfernter Verwandter! Meine Tante lebte auch in Amerika, die Schwester meiner Mutter. Aber ich habe mehr Verbindungen in die Slowakei.“

Josyp seufzt. Nach einem anstrengenden Arbeitstag geht er noch ein bisschen um das Haus herum, setzt sich aber schließlich. Sein unterer Rücken tut ihm weh. Der Mann sieht ruhig aus, aber innerlich scheint etwas zu hämmern, herauszubrechen.

„Wir haben hier und da Enkel und Urenkel. Und die Eltern sind dort“, sagt er und ich sehe, wie seine Augen nass werden. „Es ist so viele Jahre her und ich kann das ‚Vergib mir‘ meines Vaters nicht vergessen, als wir uns verabschiedeten.“

„Vergib uns, mein Sohn, dass wir so gegangen sind. Vergib uns“, wiederholt er.

***

„Mein Gott“, Josyp schaut in den alten Brunnen in der Nähe des tschechischen Hauses. „Ich war ein paar Mal drin: einmal fiel ein Hahn, einmal ein Huhn hinein. Und sie haben mich dort als Leichten auf einem Eimer heruntergelassen, ich habe sie erwischt“, lacht er. „Ach herrje, mein kleines Häuschen. Hier verlief doch unsere Kindheit, mein Gott. In diesem Brunnen ist sogar noch Wasser. Zwei Zimmer, Herd, Speisekammer. Und wenn du in den Keller hinuntergingest, stände dort geschrieben: ‚Josef Gavliček‘, ich habe euch das erzählt. Schade, dass ich keine Streichhölzer mitgenommen habe, ich hätte sie für euch angezündet.“

Josyp pflückt Äpfel im alten Garten. Er packt sich die Taschen voll, bis das Obst herausfällt. Er lacht. Er spricht schon nicht mehr mit mir, sondern irgendwo weiter in Richtung Tür:

„Schau dir nur unser Haus an, Papa.“

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