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Vorwort

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Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman schrieb in seinem Buch „Postmodernity and Its Discontents“ (1997, deutsch 1999):

„Es gibt allerdings Wesen, für die in keinem Teilbereich der menschlichen Ordnung ein ihnen zukommender Ort reserviert wurde. Sie sind überall fehl am Platz.“

Ein unglückliches Geburtstagsgeschenk, ein von Vormietern zurückgelassenes Gemälde ... Man kann solche Dinge weder wegwerfen noch nutzen. Sie stechen ins Auge, sie passen nicht in die Einrichtung, gehören zu einem anderen Geschmack, mit dem wir nichts zu tun haben wollen. Der einfachste Weg ist, sie in eine dunkle Ecke zu schieben und dort zu vergessen; so machen wir das normalerweise.

Was aber, wenn das mit Menschen passiert? Ein neuer Landesherr betritt den Raum der Gesellschaft mit seinen Designern, die geschickt gezeichnete Blaupausen für eine neue Welt in ihren Händen halten. Ordnung herrscht auf den Blättern. Alles ist modern und funktional, unterliegt einem einzigen Konzept, es gibt keine alten gerahmten Fotos, Gesichter aus der Vergangenheit brauchen wir nicht. Wer diese Leute sind, woher sie kommen, welche Sprache sie sprechen? Egal. Wenn sie die für sie vorgesehene Rolle auf der Bühne der neuen Gesellschaft ablehnen, gehören sie in eine Abstellkammer oder auf die Müllkippe. Das Streben nach ultimativen Lösungen war ein unwiderruflicher Zug moderner Human Resources Manager. So heißt das wohl jetzt.

Eine der in diesem Buch beschriebenen Reisen führt uns in das Dorf Dowbysch in der Region Schytomyr, wo eine kleine Gemeinschaft von Polen lebt, meist Nachkommen von „Rückkehrern“, die es schafften, in Stalins Siedlungen in Kasachstan zu überleben. Diese Menschen, die dank der Überlebenden hier in der Ukraine leben, versammeln sich jeden Sonntag in der Kirche, um gemeinsam die Messe zu singen, und verstreuen sich wieder auf die „sowjetischen Gebäude ... die mit ihrer peinlichen Masse alles verdunkeln“.

So ist unsere Ukraine, dieses Zwischenland oder Midgard, durch das Jahrhunderte lang Wellen freiwilliger oder erzwungener Migration fegten, wobei sie Inseln verschiedener kultureller Gemeinschaften zurückließen. Anschließend, bereits im 20. Jahrhundert, fegte etwas anderes hindurch: die Dampfwalze geplanter Vereinheitlichung von Sprache, Kultur, Religion (oder eher Anti-Religion), Alltagsgepflogenheiten, Weltsicht (wie sollte man das sonst nennen?). Genau so sieht unsere Ukraine jetzt aus, das ist ihr Modell: ein graues Gemenge typisch sowjetischer Gebäude, zwischen denen nur ein sehr wachsames Auge etwas anderes ausmachen wird, das in einer neuen „geordneten“ Landschaft entweder durch die Nachlässigkeit eines Menschen oder durch beharrliche Sturheit überlebt hat. Eine kleine polnische Kirche, in der die Gemeinde in einer anderen Sprache singt; eine traditionelle Speise, die seit Jahrhunderten in einigen wenigen oder mehreren Dutzend Häusern der Gegend zubereitet wird, und diese Speise ist vielleicht die einzige Erinnerung an die lange Reise von den schneebedeckten Bergen, die einst die Vorfahren machten; ein Handwerk aus einer fernen Heimat; ein paar Wörter in einer anderen Sprache, die man in der Kindheit gehört hat und die die Nachbarn nicht verstehen.

Ja, diese Inselchen sind klein, manchmal so winzig, dass man sie ohne die Juwelierlupe nicht sehen kann: wie ein Einschluss auf einer mehr oder weniger homogenen Oberfläche, wenn auch zweifellos interessant, aber dank dieser Kristalle des Andersseins unermesslich reicher. Dieses Buch ist genau solch eine Lupe, eine bewegende, präzise und liebevolle Linse, die uns an Orte führt, wo sich das „Ukrainische“ plötzlich ausdehnt, sich allen Teilen der Welt öffnet und die absurden Mauern des ethnischen Nationalismus so natürlich überwindet, wie ein Fisch über die Grenzen Hoheitsgewässer von wem auch immer hindurchschwimmt. Es ist zweifellos ein Beweis für Weisheit und Reife, sagen zu können: unsere Armenier und Juden, unsere Polen, Tschechen und Slowaken, unsere Roma, unsere Deutschen, unsere Gagausen, unsere Walachen und Albaner. Nur dann, und nicht eher, werden sie alle aufhören, heimatlos zu sein. Ja, heimatlos und das durch unsere Schuld, die Schuld der sogenannten gesellschaftlichen Mehrheit. Solange sie Fremde bleiben, wird ihnen ein Ort verweigert: Ein Fremder ist jemand, dem ein Platz im Raum vorenthalten wird, der immer „anderswo“ sein sollte. Diese Menschen – diejenigen, die die Hauptlast von Stalins Deportationen und manchmal ebenfalls von postsowjetischen Nationalismen getragen haben – wissen genau, was dies bedeutet. Deshalb sind sie darüber nicht überrascht. Oft erwarten sie von uns nichts mehr. Meistens fallen sie in Schweigen und verschwinden. Sie gehen fort, assimilieren sich endlich. Sterben.

„Ich habe Angst.“

„Vor wem?“

„Allen.“

„Weshalb?“

„Ich weiß nicht.“

„Erzählen Sie es?“

„Nein.“

Dieser Dialog stammt aus dem Text über die letzte Armenierin im Karpatendorf Kuty, die die einzige lebendige Erinnerung an die einst große und lebendige Gemeinde geblieben ist. Ja, sie schwiegen oft: Ihre Biografien, Herkunft und Namen, ihre Sprache waren oft ein hinreichendes „Corpus Delicti“. Aber warum schweigen sie immer noch?

Diese Frage müssen wir uns ständig stellen. Es gibt wenige Dinge auf der Welt, die gefährlicher sind als der Wunsch nach sprachlicher und kultureller Homogenität. Und es gibt nur wenige Dinge, die trauriger sind als der Unwille, diesen Prozess rückgängig zu machen, nachzuschauen, was unter der Dampfwalze der Geschichte überlebt hat: diese verstreuten Kristalle, Erinnerungen, „kleinen Geheimnisse“. Aber vor allem sind es Menschen, unsere lebenden Landsleute, von deren Existenz wir oftmals keine Ahnung haben. Seien wir ehrlich: Wissen wir viel über unsere türkischen Mecheten? Über unsere Schweden? Ohne ein solches Wissen werden sämtliche edlen Bemühungen, eine „ukrainische politische Nation“ zu schaffen, fruchtlose Gesten sein, ein Sprechen ins Leere. Es ist unmöglich, den Anderen zum Dialog aufzurufen, ohne seinen oder ihren Namen zu kennen.

Deshalb: lesen Sie dieses Buch, lesen Sie es sorgfältig.

Und noch etwas zum Schluss: Du wirst nie vorhersagen, in welchem Moment und nach welchen Kriterien man dich (oder mich, oder wen auch immer) als Fremden oder fremd brandmarkt, der die Ordnung, die Reinheit der Landschaft, das Konzept dieser oder jener Designer bedroht. Deshalb sind wir alle Andere, die nur durch Verständnis, Empathie und Liebe zusammengehalten werden. In diesem Buch geht es auch darum. Nein, es geht vor allem darum.

Ostap Slywynskyj

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