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Flüsse von Milch

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„Jozef Gavliček, 1932. Irgendwo muss das Schildchen sein“, wiederholt Josyp Mychaltschyn und bahnt sich seinen Weg durch das wuchernde Gebüsch. „Hier, unweit der Straße, steht als erstes unser Haus. Und dort“, er winkt mit der Hand in Richtung des Dickichts, „waren alles tschechische Häuser. Und da hinten Tschechen und hier entlang Tschechen, insgesamt gab es in unserem Gebiet eintausendzweihundert Tschechen. Einige haben hier eingeheiratet, dann sind sie geblieben. Gerade vor kurzem haben wir die Tschechin Karolina beerdigt, Raček ist auch geblieben. Aber sie sind alle schon verstorben.“

„Hier gab es eine Straße. Oh weh, wie alles überwuchert ist. Nun, immerhin gibt es einen Weg“, seufzt er und schlägt sich beharrlich einen Weg durch das Gesträuch.

Josyps Familie kam aus der Ostslowakei, um eben jene tschechischen Kolonisten zu ersetzen.

„Als wir ankamen, war nur der Himmel zu sehen, sonst weit und breit nichts. Ich war damals sieben Jahre alt, ich erinnere mich. Die Frauen hoben ihre Hände weinend gen Himmel. Erst dann betraten wir die Häuser. Unseres war gerade das von diesem Gavliček, so steht es auf dem Grundstein. Unser Grundstück ist hier“, er zeigt auf ein weites Feld. „Bearbeite es nach Herzenslust.“

Davor hörte Josyps Vater in der Slowakei Aufrufe wie diesen: „Liebe Brüder und Schwestern! ... Wir haben eine große Idee, ein großes Ziel – die Vereinigung des gesamten russischen Volkes, so dass es nicht mehr soziale oder nationale Unterdrückung leidet. Die sozialistische Ordnung und das sozialistische System der Sowjetunion sind die höchste Form der Demokratie auf der ganzen Welt. Diese Form, wo die Werktätigen die Macht in ihre Hände genommen haben, vollbringt unter der Führung der Kommunistischen Partei Wunder.“

Postkarten mit so einem Text unter der Überschrift „Wenn du Russe bist, ist dein Platz in Russland“, irgendwie angepasst an die Landessprache, tauchten im Februar 1946 in den Dörfern der Ostslowakei auf. Die sowjetischen Behörden versuchten die Einheimischen zu überreden, nach Wolhynien zu ziehen. Die demografische Lücke, die durch den Exodus der Tschechen entstanden war, musste geschlossen werden.

„Die Propaganda war schrecklich“, sagt Josyp. „Niemand hätte gedacht, dass auf einem so hohen staatlichen Niveau mit so großen Lügen gearbeitet würde. Diese sowjetischen Emissionäre malten aus, dass hier Flüsse von Milch fließen.“

Die Behörden der UdSSR versprachen, nicht nur die Menschen, sondern auch ihr Vieh, Möbel und Werkzeuge schnell und bequem in die Ukraine zu transportieren. Wohnraum wurde nach folgendem Schema garantiert: In der Slowakei verkauft eine Familie ihr Haus oder übergibt es dem tschechoslowakischen Staat und erhält dafür umgekehrt ein sogenanntes Bewertungs-Zertifikat, orientiert an dem geschätzten Wert der Immobilie. Am neuen Standort kauften sie ein Haus entweder für „bares“ Geld oder indem sie ihr Zertifikat eintauschten. Auf jeden Fall, versicherten die Agitatoren, werden die Lebensbedingungen ausgezeichnet sein, da die Tschechen geräumige, hochwertige Ziegelhäuser zurücklassen. Und wenn sie die großen Flächen fruchtbaren Landes hinzunähmen und am Aufbau einer idealen Gesellschaft teilnehmen, wie könnten sie dem nicht zustimmen? Wenn ihnen das nicht gefalle, so beruhigten sie die Slowaken, könnten sie innerhalb von zwei Jahren ohne Probleme zurückkehren.

Der Vater des kleinen Jošek, Mikula Mihalčin, hörte den Agitatoren zu und war entzündet von der Idee, „nach Rusko“, nach Wolhynien, zu gehen. Es gab ungefähr 12.000 Optanten wie ihn, Leute, die sich entschieden, ihre Staatsbürgerschaft im Rahmen einer Vereinbarung zwischen den beiden Staaten zu ändern.

„Unsere Leute haben sich angemeldet. Warum auch nicht? Uns wurde ein solches Paradies beschrieben. Einen ganzen Bauernhof, Pferde, alles sollte es geben“, sagt Josyp.

Aus seinem Heimatdorf Chmeľová in der Nähe von Bardejov zog ein Drittel der Bevölkerung ab.

„Züge, Wagons, Abschiede, Tränen“, erinnert er sich. „Wir sind lange gefahren. Ungefähr eine Woche! Weil es bei der Eisenbahn allerlei Unstimmigkeiten gab. Zumal wir in Viehwagons reingefahren sind, weil es keine Passagierwagons gab. Wir haben dort geschlafen. Und stellt euch vor, man musste dort etwas essen, kochen und warm machen. Jede Familie hatte einen Wagon. Wir mussten sowohl Getreide als auch Geflügel mitbringen. Und in einem zweiten Wagon gab es Vieh. Die Leute nahmen alle Arten von Geflügel mit, was immer sie hatten. Nur die Tschechen fuhren ohne etwas, mit einem Säckchen auf dem Rücken.“

Den Slowaken wurde eine baldige Ankunft versprochen. Durch die schlechte Koordination zwischen den sowjetischen Funktionären in beiden Ländern standen die Migrantenzüge jedoch mehrere Tage an Zwischenstationen oder auf Nebengleisen. Die Reise zog sich hin über ein oder gar zwei Wochen. Und Futter für die Tiere hatten sie nur für ein paar Tage mitgenommen. Es war schwer. An den Endstationen mussten die Optanten oft selbst nach Gütertransporten ins Dorf suchen, obwohl die Sowjetunion versprochen hatte, den ganzen Weg bis zum neuen Zuhause zu gewährleisten. Manchmal dauerte die Suche nach einem Karren oder einem Auto mehrere dutzend Stunden, während die Familie mit all ihren Habseligkeiten auf dem Bahnsteig wartete.

„Als wir ankamen, haben wir sofort alles verstanden. Nach dem Krieg war eine schreckliche Hungersnot, Verwüstung.“ Josyp schaut in den Garten. „Aber das Tor war schon geschlossen. Es gab kein zurück.“

Von Ende 1947 und Anfang 1948 sind Fälle belegt, in denen Dutzende von Menschen ihr Eigentum verkauften, Pferde kauften, die wertvollsten Dinge auf Karren verluden und gruppenweise zur Grenze zogen. Dies war insbesondere der Fall in den Dörfern Mytnyzja und Kwasyliw in der Region Riwne. Sie schafften es jedoch gerade mal, fünfzig Kilometer zurückzulegen, da die Sicherheitskräfte sie zurückwiesen. Die Kwasyliwer Optanten widersetzten sich und die Polizei setzte physische Gewalt ein. Zwei Personen wurden festgenommen. Ein junges Mädchen wurde an Armen und Beinen gepackt und in ein Polizeiauto geworfen: Sie starb, weil ihr Kopf an die Metallkarosserie schlug.

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