Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 10

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Mit dem langen, bronzefarbenen Schlüssel in ihrer Hand öffnete Viviane das Holztor des Schuppens. Ich spähte hinein, konnte aber aufgrund der Dämmerung nichts erkennen.

„Einen kleinen Moment“, sagte Viviane und tastete die Wand zur rechten Seite des Eingangs ab. Sekunden später erhellte der angenehme Schein einer Lampe das Atelier. Es erinnerte mich an das Mondlicht einer Sommernacht.

„Als ich das Haus vor gut fünfzehn Jahren gekauft habe, wurden hier noch Gartengeräte und Werkzeug aufbewahrt“, verriet Grandma, während ich mich umsah. Im vorderen Teil standen Leinwände, Farbeimer und einige Kisten, während in der Nähe zweier großer Fenster die Staffelei thronte. Die Wände waren ähnlich wie im Haus geschmückt. Ein Speer, dessen dunkle Spitze mehrere, bunte Federn zierten, wurde durch zwei Eisenringe an der Wand gehalten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein ovalförmiger Teppich. Das Muster der Webarbeit glich einer Sonne, deren Zentrum im Licht fahl schimmerte. Als ich zurück zur Tür sah, entdeckte ich oberhalb des Rahmens eine der mir bereits bekannten, unheimlichen Masken.

Mich beschlich das Gefühl, eine tropische Welt betreten zu haben und meine kindliche Phantasie malte sich aus, dass sich irgendwo in dem Schuppen die exotischsten Tiere verstecken.

Viviane lief zur Staffelei hinüber und zog eine weiße Leinwand hervor. Mit schnellen Handgriffen richtete sie Pinsel und eine Farbpalette.

Während ich ihr zusah, dachte ich an die Skizze, die am Nachmittag auf rätselhafte Weise entstanden war und Anspannung breitete sich erneut in mir aus.

Ich war nach wie vor davon überzeugt, dass dieses Bild unmöglich von mir stammte. Ich hatte mich auf die Trauerweide konzentriert und zu keiner Zeit an den Garten gedacht. Wie konnte so etwas also passieren?

Ich überlegte, wenn ich hier nun erneut male, würde das gleiche wieder geschehen?

Viviane winkte mich zu sich an die Leinwand heran und auf einmal verflog meine Nervosität. Sobald Grandma in meiner Nähe war, fühlte ich mich sicher.

Sie reichte mir einen Pinsel und die Palette, auf der sie glänzende Farbtupfer in nahezu allen Tönen des Regenbogens aufgetragen hatte.

„Du darfst dir ein Motiv aussuchen. Was möchtest du gerne malen?“

Ich überlegte einen Augenblick, konnte mich aber nicht entscheiden. Was sollte das erste Bild werden, das ich mit Ölfarbe auf einer Leinwand festhalten wollte?

„Ich weiß es nicht, es ist so schwer.“

„Schließ deine Augen und vertrau deinem Gefühl. Das erste, was du sehen wirst, ist es wert, dir Portrait zu stehen.“

„Ich probier es“, stimmte ich zu. Ich schloss die Augen und fand zunächst nichts außer Dunkelheit. „Ich sehe gar nichts“, sagte ich besorgt.

Grandma kniete zu mir nieder und legte mir ihre Hände auf die Schultern.

„Hab ein wenig Geduld“, flüsterte sie.

Ein merkwürdiges Gefühl brachte meine Haut zum Kribbeln. Plötzlich erhellte etwas die Finsternis vor meinen Augen und ich durchstreifte den Wald entlang des Sees. Ich stand an der Stelle, von der mir Viviane verraten hatte, sie ermögliche einem einen leichten Einstieg ins Wasser. Es war am frühen Abend und die Sonne tauchte die Wasseroberfläche in rotgoldenen Glanz. Das Bild vor meinem geistigen Auge war so intensiv – so real –, dass ich glaubte, ich könne tatsächlich in das Wasser steigen.

Ich öffnete die Augen und lächelte. „Ich weiß, was ich malen möchte.“ Viviane trat hinter mich und umschlang meine Hand mit der ihren.

„Mit welcher Farbe möchtest du beginnen?“

„Blau“, antwortete ich.

Gemeinsam tunkten wir den Pinsel vorsichtig in den blauen Farbklecks auf der Palette. Grandma führte mir vor, wie ich die flüssige Farbe am besten an den Borsten halten konnte und ich sah ihr fasziniert zu. Dann lies sie meine Hand los.

„Die Leinwand gehört dir.“

Ich suchte mir einen Punkt aus dem Bild in meiner Vorstellung und führte den Pinsel auf die weiße Fläche. Behutsam zog ich die Konturen des Sees auf der Leinwand nach. Zu meiner Überraschung war es wesentlich leichter, als ich erwartet hatte.

Viviane schien bemerkt zu haben, wie viel Spaß mir das Malen bereitete. „Probier dich ruhig aus“, ermutigte sie mich.

Ich konzentrierte mich und wählte den nächsten Farbton, mit dem ich das Portrait des Sees fortführen wollte. Ich nahm ein anderes Blau und lies es mit dem ersten eins werden. Je länger ich malte, desto deutlicher sah ich das Bild des Sees vor mir. In meiner Phantasie hatte es längst die Leinwand bedeckt und alles, was ich zu tun hatte, war mit den Farben meiner Palette die Fläche auszufüllen. Wie auch am Nachmittag begann ich um mich herum alles zu vergessen. Für mich gab es nur diese Leinwand, den Pinsel und die Farben.

Das Bild war noch längst nicht fertig, als mich eine Berührung an meinem Arm aufschreckte.

„Es ist spät, Colby. du solltest jetzt schlafen gehen.“ Grandma stand neben mir und hatte sich eine dünne Decke um die Schultern gelegt.

Sichtlich irritiert schaute ich mich um. Ich konnte nicht abschätzen, wie lange ich schon vor der Staffelei stand. Auf einmal spürte ich große Müdigkeit, die sich wie ein Lauffeuer in mir auszubreiten begann. Die Kraftquelle, welche mich wach gehalten hatte, war plötzlich versiegt.

„Ist gut“, antwortete ich zwischen einem kurzen Gähnen und wollte den Pinsel und die Palette beiseite legen.

Da spürte ich erneut ein seltsames Kribbeln in mir. Etwas schien mich davon abhalten zu wollen, das Malen zu beenden. Ich brachte es nicht fertig, mein Handwerkszeug auf den Tisch zu legen.

„Wir können morgen weiter machen“, sagte Viviane.

Meine Hände waren wie erstarrt, während sich mein Blick an die Leinwand heftete. Mir war, als befände ich mich in dem Bild. Die Sonne schien von dem orangefarbenen Abendhimmel und tauchte das Land in eine trockene Hitze. Ich stand an dem See und schritt langsam in das angenehme, kühle Wasser hinein. Ich ging so lange weiter, bis ich keinen Boden mehr unter den Füßen fand und schwimmen musste. Das Ufer geriet immer mehr in Entfernung und plötzlich wurde mir bewusst, welches Ziel ich ansteuerte. Inmitten des Sees hielt ich inne.

Vor die Sonne schob sich eine große, aufbauschende Wolke und dunkelte das Licht auf unheimliche Weise ab. Als ich zurück zum Ufer schwimmen wollte, spürte ich etwas an meinen Füßen. Es fühlte sich wie die Berührung einer Hand an, die sich langsam um meinen Knöchel schloss. Ich schaute unter die Wasseroberfläche und im selben Moment ergriff mich Panik. Unter mir befand sich eine schneeweiß schimmernde Gestalt. Ich begann wild mit den Beinen zu strampeln, doch hielt die Gestalt mich mit eisernem Griff fest. Die Hände wanderten weiter an meinem Körper hinauf, bis sie sich in meinen Schultern verhakten. Ich wollte um Hilfe schreien, brachte aber keinen einzigen Laut hervor.

Ein Ruck zog mich unter Wasser. Ich blickte in das leichenblasse Gesicht eines jungen Mädchens, das mich mit ihren weit aufgerissenen Augen förmlich durchbohrte. Ihre langen, dunklen Haare wirkten wie ein Vorhang aus schwarzem Samt, der sich im Wasser sachte wiegte. Ich spürte, wie die restliche Luft aus meinen Lungen wich und versuchte, mit allen Mitteln zurück zur Oberfläche zu gelangen. Aber das Mädchen besaß eine unglaubliche Kraft und hielt mich davon ab, aufzutauchen. Ich konnte mich nicht wehren, so sehr ich mich auch bemühte und gemeinsam sanken wir hinab in die Tiefe des Sees.

„Colby!“ brachte mich Grandmas besorgte Stimme zurück in den Schuppen. Sie hatte mir den Pinsel und die Palette aus den Händen genommen und sah mich besorgt an. „Um Himmels Willen, was hast du denn?“

Ich schaffte es nicht, ruhig zu atmen. Meine Lungen brannten und gierten förmlich nach Luft.

Vivianes Hände stülpten mir eine Plastiktüte vor den Mund. „Atme hier rein“, sagte sie mit entschlossener Stimme, während sie mir die Hände auf die Schultern legte. Ich folgte ihren Anweisungen und nur einen Augenblick später klang das Brennen in meinem Hals ab.

„Es tut mir leid“, beteuerte ich nach einer Weile und sank auf meine Knie. „Alles wird gut“, flüsterte Grandma und umarmte mich fest. Ich war davon überzeugt, dass sie genauso wenig wie ich selbst verstand, was mit mir passiert war. Hätte ich in diesem Moment den Ausdruck in ihren Augen deuten können, so wäre mir klar geworden, wie sehr ich mich täuschte.

Das Echo der Verstorbenen

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