Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 5

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Der Sommer, in dem ich zehn Jahre alt wurde, hat für mich eine besondere Bedeutung. Damals veränderte sich mein Leben.

Es lag nicht daran, dass ich die kompletten Ferien bei meiner Grandma Viviane verbringen musste, damit sich mein Dad der Baseballkarriere meines älteren Bruders Samuel widmen konnte.

Es lag auch nicht daran, dass es der erste Sommer war, nachdem uns meine Mum verlassen hatte.

Der Grund, weshalb diese drei Monate einem Brandmal gleich ihre Spur in meiner Erinnerung hinterlassen haben, ist ein anderer. Denn in diesem Sommer hatten sie zum ersten Mal Kontakt mit mir aufgenommen.

Meine Grandma nannte es eine Gabe.

Ich nenne es einen Fluch.

An jenen Tagen im Juni durchzog eine unerträgliche Hitzewelle das Land. Tagsüber kletterte die Temperaturanzeige stets über 35 Grad Celsius und seit Wochen hatte kein Tropfen Regen den Boden berührt.

In den Nachrichten war immer wieder davon zu hören, wie Waldbrände unerbittlich wüteten. Kaum hatte die Feuerwehr einen Brandherd unter Kontrolle gebracht, begannen die Flammen an einer anderen ausgetrockneten Stelle ihr zerstörerisches Schauspiel aufzuführen.

Meine Grandma Viviane lebte, fernab dieser Katastrophe, in einem einsamen Haus am Ufer eines Sees. Als wir das große Grundstück erreichten, glaubte ich, in einer anderen Welt angelangt zu sein. Die Bilder von Feuer und Rauch schienen hier unwirklich und aus einem Furcht einflößenden Albtraum zu stammen.

Ich wuchs in einer belebten Vorstadtgegend auf und so war mir die Ruhe, die mich empfing, fremd. Außer dem leisen Gezwitscher der Vögel, die sich in den Bäumen um den See versteckten, war nichts zu hören.

Viviane stand vor einer Staffelei auf der Veranda und winkte meinem Dad, Sam und mir fröhlich zu. Sie trug ein weites, hellgrünes Baumwollkleid, das ihren drahtigen Körper verbarg. Um die Schultern hatte sie ein zitronenfarbenes Tuch gelegt. Ihre beinahe schneeweißen Haare reichten ihr bis zu den Hüften und schienen in der kräftigen Mittagssonne regelrecht zu schimmern. In den Händen hielt sie eine Palette und einen Pinsel. Sie legte beides auf einen Tisch und kam mit eiligen Schritten auf uns zu. Der Bernsteinanhänger an ihrem Hals wippte wild umher.

„Tut mir Leid, das wir uns verspätet haben“, entschuldigte sich Dad. „Wir standen gut eineinhalb Stunden im Stau.“

Eineinhalb Stunden, in denen sich Dad und Sam über Baseball unterhalten hatten. Ich hatte teilnahmslos auf dem Rücksitz von Dads Jeep Platz genommen und mit einem Bleistift in einem Notizblock herumgekritzelt. Diese Autofahrt war ein Paradebeispiel für meine Rolle, denn damals war ich der Statist meiner Familie.

Sam dagegen war ein begnadeter Baseballspieler.

Die große Hoffnung der Highschool.

Dads ganzer Stolz.

Kein Wunder also, dass Dad ihn auf ein Trainingscamp begleitete. Es machte ihn glücklich, Sam beim Schlagen auf dem Feld zuzusehen. Er wollte dabei sein und erleben, wie sein Sohn zu einem noch besseren Spieler wird. Und er wollte der Einsamkeit aus dem Weg gehen, die ihn zuhause empfing, seit uns Mum mit einer kurzen Nachricht auf dem Küchentisch verlassen hatte.

Ich kann hier nicht länger bleiben.

„Das macht wirklich nichts“, versicherte Viviane und deutete auf die Veranda. „Ich habe mir die Staffelei hinausgestellt. Das Licht ist heute hervorragend.“

Viviane war Künstlerin. Hinter dem Wohnhaus, so wusste ich, hatte sie sich in einem Schuppen ein Atelier eingerichtet, in dem sie an ihren Bildern arbeitete.

Dad nickte kurz. Er hatte keinen Sinn für die Malerei und wusste nicht recht, was er hätte antworten können. Insgeheim hielt er Grandma für eine Verrückte. Ihr Erscheinungsbild widerlegte diese Behauptung jedenfalls nicht. Sie wirkte wie eine Zeitreisende aus den späten Sechzigern.

Bevor sie Mum während eines längeren Aufenthalts in Südafrika zur Welt gebracht hatte, war Viviane zwei Mal kurz verheiratet gewesen. Mein Großvater war ein Phantom, das es niemals zu Ehemann Nummer drei geschafft hatte. Letztlich hatte sie ihre Tochter alleine groß gezogen.

Umso erstaunlicher war es, dass ich den kompletten Sommer über hier bei ihr verbringen sollte. Dachte ich zumindest. Im Grunde hatte Dad keine Wahl, wie mir heute bewusst ist. In das Trainingscamp wollte er mich nicht mitnehmen – nicht, dass ich es selbst gewollt hätte – und seine beiden Brüder, Onkel Steve und Onkel Eric, lebten viel zu weit weg, als dass sie eine Option für meine Unterkunft gewesen wären.

Viviane blieb als einzige Möglichkeit.

Dad holte meinen Koffer aus dem Wagen und stellte ihn neben mir ab. Dem dumpfen Knall des Gepäcks auf dem Boden folgte eine kleine Staubwolke.

„Machs gut, Colby. Und sei anständig.“ Er klopfte mir auf die Schulter und verabschiedete sich von Grandma. „Sam und ich müssen weiter. Vor uns liegt noch ein gutes Stück.“

Ich wich seinem Blick aus und konzentrierte mich auf eine Trauerweide, die nahe der Veranda hoch in den Himmel ragte.

Sam stieg, ohne ein letztes Wort an mich zu richten, in den Wagen. Er mochte mich nicht besonders und war bestimmt froh darüber, seinen nervigen kleinen Bruder einige Wochen nicht sehen zu müssen.

Dad startete den Motor und nur einen Augenblick später verschwand der rote Jeep in Richtung der Landstraße, aus der wir gekommen waren.

Es war ein emotionsloser Abschied. Er hatte, so dachte Dad sicherlich, seine Pflicht als Vater erfüllt und sich um das Obdach und die Aufsicht seines Kindes gekümmert.

Viviane legte mir ihre Hand auf die Schulter. „Ich freue mich sehr, dass du hier bist, Colby. Komm, wir bringen dein Gepäck ins Haus.“

Ich nickte Grandma zu. Sie schien meinen Unmut zu spüren und versuchte mir deshalb umso mehr das Gefühl zu geben, willkommen zu sein.

Im Grunde mochte ich Grandma, auch wenn wir sie kaum sahen. Sie verreiste häufig und weil Mum und sie kein inniges Verhältnis miteinander pflegten, beschränkten sich die Treffen, wenn überhaupt, auf Geburts- und Feiertage. Ich glaube, tief in ihrem Herzen konnte Mum Viviane nicht verzeihen, dass sie niemals die Möglichkeit hatte, ihren Vater kennen zu lernen.

Dennoch waren Grandma und ich uns sehr ähnlich, wie ich bald herausfinden würde. Inzwischen weiß ich, dass sie der einzige Mensch in meiner Familie war, der mich je verstanden hat.

Im Inneren des Hauses war es angenehm kühl. Die Jalousien an den Fenstern waren fast vollständig heruntergezogen und nur vereinzelte, dünne Sonnen-strahlen traten zwischen den Spalten hindurch.

Es wirkte auf seltsame weise wunderschön und unheimlich. Meine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das Dunkel gewöhnt hatten.

Der Eingangsbereich des Hauses war mit zahlreichen Souvenirs aus den unterschiedlichen Ländern, in denen Grandma einmal gewesen war, geschmückt. Im Wohnzimmer, so wusste ich, befand sich eine große Weltkarte, auf der sie mit kleinen roten Pins die Orte markiert hatte, zu denen sie während einer ihrer Reisen gelangt war. Bei unserem letzten Besuch vor etwa einem halben Jahr gab es nur noch wenige Stellen auf der Karte, die keine rote Signatur besaßen.

Viviane ging die Treppe hinauf. An der Wand hingen hölzerne Masken, die furcht einflößende Grimassen machten. Ich betrachtete sie voller Faszination.

„Sie stammen aus Haiti“, verriet Viviane, als sie vom oberen Ende der Treppe zu mir zurücksah. „Die Masken schützen das Haus vor dem Bösen.“

„Dem Bösen?“, fragte ich und folgte ihr die letzten Stufen hinauf.

„Ganz genau.“ Viviane beugte sich zu mir herab und strich mir über den Kopf. „Siehst du die unterschiedlichen Mimen? Jede Maske hält eine andere Form des Bösen ab.“

Ich konnte ihr nicht ganz folgen und fragte mich, ob sie wirklich die Wahrheit spricht. „Das heißt, das Böse wechselt sein Aussehen?“

„So kann man es nennen.“

„Die Masken beschützen uns also?“

Viviane nickte. „Hier wird dir nichts passieren.“

Auf merkwürdige Weise fühlte ich mich plötzlich geborgen. Viviane nahm meine Hand und führte mich den Flur hinab zu einer offenen Tür.

„Das wird dein Zimmer für die nächsten Wochen sein. Ich hoffe, es gefällt dir. Mein eigenes liegt am anderen Ende des Flurs.“

Es war das erste Mal, das ich an diesem Tag lächeln musste. Das Zimmer war größer als mein eigenes zuhause. An der Mitte der hinteren Wand befand sich ein riesiges Bett. Es lud förmlich dazu ein, sich hineinzuwerfen oder wild darauf herum zu springen. Gleich daneben stand ein Schreibtisch aus Nussbaumholz. Die Oberfläche glänzte noch im Halbdunkel. Der antik aussehende, tiefe Kleiderschrank zur linken Seite des Betts bot sich als gutes Versteck an. Ein kleiner Ort, den ich als geheime Zuflucht nutzen konnte. Ich hätte ihn gerne bei mir zuhause gewusst.

Auf einem Regal an der Wand waren einige Bücher aufgereiht. Ich stellte meinen Koffer ab und musterte die Rücken.

„Ich habe eine Auswahl getroffen, von denen ich glaube, sie werden dir gefallen. Unten im Wohnzimmer sind noch viele andere. Du darfst sie dir nachher gerne einmal ansehen.“

Ich schaute mir den bunten Wandschmuck zu allen Seiten des Zimmers an.

Die Bilder zeigten das Meer, große Felder mit violetten Blumen und das Portrait eines Cafés, das auch gut aus dem 19. Jahrhundert hätte stammen können.

„Hast du sie alle selbst gemalt?“, fragte ich.

Viviane lächelte. „Sie sind nach meinem Aufenthalt in Frankreich entstanden. Ich kann dir später davon erzählen.“

Oberhalb der Tür hing ein Windspiel aus dünnen Holzstäben, das mich dazu verführen wollte, seinem Klang zu lauschen.

„Am besten, du richtest dich zuerst einmal ein. Lass dir ruhig Zeit, bis alles so ist, dass du dich richtig wohl fühlst. Ich bin unten auf der Veranda und male an meinem Bild weiter. Wenn du etwas brauchst, rufst du, ja?“

Ich nickte und sah zu Boden. Meine Hände umklammerten noch immer den Griff des Koffers.

„Grandma“, sagte ich, als Viviane bereits auf dem Weg zur Treppe war. Sie hielt inne und wandte sich zu mir.

„Danke.“

Viviane kam noch einmal in das Zimmer und beugte sich zu mir nieder.

„Colby, ich bin sehr froh, dass du hier bist. Wir finden endlich Gelegenheit, uns besser kennen zu lernen.“

In der nächsten Stunde breitete ich den Inhalt meines Koffers im Zimmer aus und verstaute ihn in dem riesigen Schrank. Ich hatte kaum Spielsachen mitgenommen, denn eigentlich war es mein Ziel, die Wochen bei Grandma schrecklich zu finden. Vivianes liebe, wenn auch ungewöhnliche Art machte dies jedoch bereits jetzt unbeschreiblich schwierig.

Allein mein Stofftier, ein Nashorn namens Pubuh, hatte ich eingepackt. Durch die Reise im Koffer sah er etwas mitgenommen aus. Ich drückte ihn kurz an mich, stupste meine Nase an sein Horn und setzte ihn auf das Bett.

Auf dem Boden des Koffers kam ein eingerahmtes Foto hervor, das Mum, Dad, Sam und mich gemeinsam bei einem Ausflug in den Bergen zeigte. Wir posierten auf einer Klippe und winkten in die Kamera. Ich war damals sieben Jahre alt, Sam war neun. Es stand sonst auf meinem Nachttisch.

Mit diesem Foto bewahrte ich mir die Erinnerung an einen Tag, an dem wir alle glücklich waren.

Ich entschied mich, das Bild im Koffer zu lassen. Es war inzwischen ohnehin nur eine Illusion. Die Familie auf dem Foto gab es nicht mehr.

Ich schloss den Deckel des Koffers und verstaute ihn unter dem Bett.

Dann ging ich zur Tür hinüber, nahm Anlauf und sprang auf das riesige Bett.

Die Matratze und die Bettwäsche waren herrlich weich. Ich hatte das Gefühl, ich würde ich in einer Wolke liegen. Einige Zeit schaute ich zur Decke hinauf, während meine Gedanken noch einmal die Autofahrt durchstreiften.

Dad und Sam würden sicherlich viel Spaß zusammen haben. Baseball verband sie. Für mich war da kein Platz.

Dann glitt ich nach und nach in einen tiefen Schlaf.

Als ich wieder aufwachte, hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Da ich keine Armbanduhr trug, konnte ich nicht sagen, wie lange ich geschlafen hatte.

Ich streckte mich und gähnte, um die Überreste meiner Müdigkeit zu vertreiben.

Der Klang einzelner, leiser Töne war zu hören. Ein Lufthauch musste dem Windspiel über der Tür eine Melodie entlockt haben. Ich stand auf und betrachtete die dünnen Holzstäbe.

Plötzlich beschlich mich ein seltsames Gefühl. An meinen Armen zog sich eine Gänsehaut hinauf und meine Nackenhaare stellten sich.

Ich war nicht alleine.

Hinter mir, in der dunkelsten Ecke des Zimmers, war jemand. Ich konnte es spüren.

Angst beschlich mich. Mein Mund war völlig trocken und mein Herz begann wild gegen meine Brust zu hämmern. Ich konzentrierte mich und hörte den Fremden atmen.

Wie lange mochte er schon hier sein?

Hatte er mich die ganze Zeit, während ich geschlafen hatte, beobachtet?

Was wollte er hier und wo war Grandma?

Das Windspiel ertönte erneut und riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden.

Es dauerte einen Augenblick, bis ich das Zittern meiner Arme bändigen und mich aufrichten konnte. Die Präsenz des Fremden war nun ganz deutlich, so als strecke er seine Hände nach mir aus.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und wollte endlich sehen, wer sich in das Zimmer geschlichen hatte. Ruckartig drehte ich mich um.

Aber dort war niemand. Ich war völlig alleine.

Viviane kam hinein und fragte mit besorgtem Unterton, was geschehen sei. Sie habe in der Küche das Abendessen vorbereitet und einen dumpfen Knall gehört.

Ich sah noch einmal in die Ecke, in der ich den Fremden vermutet hatte.

„Colby, ist alles in Ordnung?“

Jemand musste dort gewesen sein. Ich war mir sicher.

„Colby?“

„Ich bin aus dem Bett gestürzt“, behauptete ich.

Viviane fragte, ob ich mich verletzt habe. Ich versicherte, dass mir nichts fehle, doch mein Gesicht verriet die Irritation, die mich gerade beschlich.

„Lass uns nach unten gehen. Wir können gleich essen. Du musst sicherlich großen Hunger haben“, versuchte mich Grandma zu beruhigen.

Als wir aus dem Zimmer gingen, erklang das Windspiel.

Das Echo der Verstorbenen

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