Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 14

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Ich werde mich immer an den Tag erinnern, an dem ich Elizabeth Sawyer zum ersten Mal begegnet bin. Sie trug eine kurze Latzhose und hatte ihre langen braunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. In ihrem Gesicht zeichneten sich die letzten Spuren eines Sonnenbrandes ab und um ihre Nasenflügel formten Sommersprossen ein wildes Muster.

Die kleine Umhängetasche, deren Leder mit unzähligen bunten Perlen verziert war, baumelte an ihrer Taille. Wie ich später erfuhr, war diese Tasche einer ihrer beiden ständigen Begleiter.

Obwohl ich Elizabeth nicht kannte, hatte ich das Gefühl, als wären wir beide auf der Suche nacheinander gewesen. Und an jenem Tag wollte das Schicksal, dass wir uns endlich fanden.

Es waren inzwischen fast zwei Wochen vergangen, seit ich mit Grandma das letzte Mal gemeinsam außer Haus war. Ich hegte den Verdacht, sie wolle sich vor der Außenwelt verstecken. Wenn ich sie zu einem Spaziergang überreden versuchte, schob sie stets die hohen Temperaturen und ihre Kreislaufbeschwerden vor; Dinge, die in den ersten Wochen meines Besuchs niemals Probleme gewesen waren.

Obwohl mich ihre Buchsammlung faszinierte, entschloss ich mich, getrieben von dem Wunsch, die Sonne und den schwachen Wind auf meiner Haut zu spüren, einen Spaziergang zu machen. Viviane bat mich, auf ein Bad im See zu verzichten und ich versprach es ihr, auch wenn die Vorstellung, in das kühle Nass zu springen, verführerisch war.

Ich rannte die Treppe hinauf in mein Zimmer und zog meine Sandalen an. Als mein Blick die Bilder an der Wand streifte, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich nicht mehr das Gefühl verspürte, nachts beobachtet zu werden.

Meine Zeit bei Grandma war für mich schon fast zum Alltag geworden. Ich dachte selten an mein Zuhause, geschweige denn an Dad und Sam. Ich überlegte, ob der anfängliche Trotz, den Sommer bei Viviane zu verbringen, nicht Schuld an meinen unheimlichen Gedanken gewesen war. Nun, da ich mich hier wohl zu fühlen begann, stimmte mich die Gewissheit, am Ende der Ferien zurück in mein altes Leben in die Stadt zu kehren, traurig.

Ich verabschiedete mich von Viviane und lief nach draußen. Meine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das grelle Licht der Mittagssonne gewöhnt hatten. Ich schaute hinauf zum Himmel und fand vereinzelte Quellwolken in dem unendlichen Azurblau. Sie sahen aus wie große Segelschiffe, die ohne festes Ziel im Meer umher trieben. Während ich über die Frage, wann es wohl wieder regnen würde, nachdachte, folgte ich einem der Wege, die in Richtung der Felder jenseits des Sees führten. Mit jedem meiner Schritte wirbelten kleine Staubwolken auf, die sich langsam über das ausgedörrte, gelbe Gras am Wegrand legten. Unter einer kleinen Gruppe von Bäumen fand ich einen abgebrochenen Ast. Ich wog ihn kurz in meiner Hand und beschloss, das Holz wie ein Schwert bei mir zu tragen.

Der Pfad stieg etwas an und ich gelangte zu einer riesigen Wiese, auf deren Mitte drei große Trauerweiden standen. Der Schatten unter dem Blätterdach war äußerst einladend und so entschied ich mich, dort eine kurze Pause einzulegen. Mit meinem gefundenen Schwert vollführte ich einige Drehungen und tollkühne Lufthiebe. Die Vorstellung, ein mächtiger Krieger und Beschützer der Schwachen zu sein, gefiel mir. In meiner Fantasie waren Gwen und ihre beiden Freundinnen drei gefährliche und Furcht einflößende Drachen und ich war derjenige, der Grandma vor diesen Bestien verteidigt.

Als ich die Trauerweiden erreichte, sah ich, dass sich ein Schatten in den Kronen bewegte. Vorsichtig spähte ich nach oben. Ein Mädchen, etwa in meinem Alter, saß auf einem Ast und schaute sich prüfend um. Es dauerte nur wenige Sekunden, in denen sich unsere Augen trafen, aber der Moment, in dem wir uns ansahen, schien ein Jahrhundert auszufüllen. Erst als der Ast versehentlich aus meiner Hand fiel, schreckte ich auf.

Das Mädchen kletterte am Stamm hinab und landete neben mir auf den Füßen. Ihr Gesicht sah besorgt aus.

„Ist alles okay?“, war das erste, was ich herausbrachte.

„Ich suche mein Armband“, antwortete sie.

„Und du hast es hier verloren?“

Sie nickte. „Ich war gestern fast den ganzen Tag hier. Heute Morgen habe ich bemerkt, dass es weg ist. Ich konnte es nirgendwo finden. Es muss einfach hier sein.“ Ich sah, dass sie mit den Tränen kämpfte.

„Wenn du magst, helfe ich dir beim Suchen“, schlug ich vor, in der Hoffnung sie damit etwas beruhigen zu können. Ihre dunkelbraunen Augen weiteten sich und auf ihre Lippen legte sich ein kurzes, scheues Lächeln.

„Das wäre wirklich nett von dir.“

„Zusammen finden wir es bestimmt“, sagte ich mit voller Zuversicht und sie beschrieb mir das Armband. „Es ist ein silberner Reif mit einem kleinen Anhänger in der Form eines Segelschiffs daran.“

Gemeinsam suchten wir das noch grüne Gras unter den Bäumen ab. Ich bemerkte, dass ihr Haar nach Vanille und Pfirsichen roch und genoss den dezenten, sommerlichen Duft.

Als wir nach etwa zwanzig Minuten nichts fanden, lehnte sie sich erschöpft gegen einen Baumstamm und schaute betrübt zu Boden.

„Es hat keinen Sinn“, sagte sie mit trauriger Stimme. „Mein Armband ist weg.“

Ich kratzte mir den Kopf und überlegte, was ich erwidern könnte. Mein Optimismus schien sich als Reinfall erwiesen zu haben.

„Wo bist du gestern hingegangen, nachdem du von hier weg bist?“, fragte ich.

„Zurück nach Hause“, antwortete sie leise.

„Dann lass uns den Weg dorthin absuchen“, schlug ich vor. Eine bessere Idee wollte mir im Moment nicht einfallen.

„Das sind über fünf Meilen“, gab sie zu bedenken.

Ich klopfte mit dem Ast auf meine rechte Schulter. „Darum sollten wir gleich losgehen.“ Meine Zuversicht, bei der ich mich fragte, woher ich sie nahm, ermutigte sie erneut und gemeinsam liefen wir, das dürre Gras unter unseren Füßen vorsichtig musternd, zurück zu dem gekiesten Weg.

„Wir müssen da lang“, zeigte sie mir die Richtung, als wir den Pfad erreicht hatten. Einen Moment überlegte ich, ob ich vorher nicht Grandma Bescheid geben sollte, schließlich ging sie davon aus, dass ich einen Spaziergang am See mache. Andererseits hätte das Mädchen bestimmt nicht darauf warten wollen, bis ich wieder zurück war. Und mit ihrer aufkeimenden Verzweiflung konnte ich sie unmöglich alleine lassen.

Entschlossen nickte ich ihr zu und während sie die rechte Seite des Pfads absuchte, widmete ich mich dem linken Teil.

Nach einer Weile fiel mir auf, dass sie immer wieder kurz zu mir herübersah.

„Ich kenne keinen Jungen aus meiner Schule, der mir bei der Suche helfen würde“, sagte sie.

Meine Wangen wurden plötzlich heiß und ich konnte mir gut vorstellen, dass ihre Farbe eine ungeheure Ähnlichkeit mit einer reifen Tomate aufwies. Um mein Gesicht zu verstecken, drehte ich ihr den Rücken zu und musterte den Weg noch akribischer.

„Woher kommst du?“, fragte sie, nachdem mir keine Antwort auf ihre Aussage, von der ich mir wünschte, sie als Kompliment verstehen zu dürfen, eingefallen war.

„Ich besuche meine Grandma über die Sommerferien. Sie wohnt in dem Haus am See.“ Die Hitze wich endlich wieder aus meinem Gesicht und ich sah zu ihr hinüber.

„So was dachte ich mir schon“, gestand sie. „Ich habe dich hier noch nie gesehen und eigentlich kenne ich jeden aus der Gegend.“ Eine tollkühne Behauptung, der ich nicht ganz glauben wollte. Sie bemerkte meinen skeptischen Blick.

„Oh, das ist keine Kunst. Wenn es hoch kommt, sind es vielleicht 800 Leute. Die meisten meiner Freunde aus der Schule wohnen höchstens fünf Minuten von mir entfernt.“

„Ich kenne gerade mal einen Teil meiner Nachbarn“, gestand ich.

„Du wohnst bestimmt in der Stadt? Ich versuche meine Mum dazu zu überreden, das wir auch dorthin ziehen.“

„Wieso? Mir gefällt es hier. In der Stadt ist nichts als Hektik und Lärm.“

„Mit anderen Worten: Dort ist das Leben. Da wo ich wohne, sieht man zu, wie jeder Tag an einem vorbei zieht.“

Wir unterhielten uns eine ganze Weile über die Vor- und Nachteile eines Lebens in der Stadt und auf dem Land. Dabei stellten wir fest, dass jeder von uns genau das begehrte, was er nicht hatte und wir am liebsten miteinander getauscht hätten.

Von weitem kamen die ersten Häuser in Sicht und mir wurde bewusst, dass wir einen Großteil des Weges hinter uns gebracht hatten. Während unserer Debatte hatte ich die Zeit vergessen. Mit jedem weiteren Schritt verschwand nun die Hoffnung, das Armband zu finden. Sie versuchte es sich zwar nicht anmerken zu lassen, aber die bittere Gewissheit, dass das Schmuckstück unauffindbar bleiben würde, verdrängte die Motivation, weiter nach ihm zu suchen.

Die Vorgärten und auch die Häuser sahen allesamt sehr gepflegt aus. Es war ein schönes Dorf, wie ich fand. Überall waren der leise Gesang der Vögel und das schwache Rauschen der Blätter an den Bäumen zu hören. Die Leute, die auf der Veranda saßen oder sich um die Blumenbeete in der Nähe der Straße kümmerten, grüßten uns und wir erwiderten die Geste. Ihr neugieriger Blick folgte uns, wie wir die Straße entlang gingen und den Boden absuchten.

Vor einem mit weißem Holz verkleideten Haus blieben wir plötzlich stehen. Es lag am Rand des Dorfes und dahinter erstreckten sich große Maisfelder, zwischen denen der Weg verschwand.

„Hier wohne ich“, sagte sie leise, ohne vom Boden aufzusehen.

„Es tut mir Leid“, antwortete ich, selbst betrübt, dass unsere Mühen ohne Erfolg blieben.

„Das Armband habe ich von meinem Papa geschenkt bekommen. Er arbeitet beim Militär und ist sehr selten zu Hause. Ich habe ihn schon über ein Jahr nicht mehr gesehen. Er hat es mir geschenkt, damit ich, wenn ich ihn vermisse, weiß, dass er trotzdem immer bei mir ist.“ Ihre Augen schimmerten glasig und eine kleine Träne rann ihr über die linke Wange.

„Manchmal bekommen wir Briefe, in denen er uns schreibt, wie sehr er Mum, meine Schwester Kate und mich vermisst“, sprach sie weiter. „Ich verstehe nicht, warum er uns immer wieder verlässt. Wieso kann er nicht wie die Väter meiner Freunde hier arbeiten?“ Nun weinte sie bitterlich und mir war, als könnte ich selbst ihren Kummer spüren.

„Meine Mum hat meinen Dad, meinen Bruder und mich verlassen und ich weiß, dass sie niemals mehr zurückkommen wird. Sie hat uns eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen, damit wir wissen, dass sie fort ist.“ Es tat weh, diese Worte laut auszusprechen, auch wenn sie seit Mums Verschwinden wie eine undurchdringliche, schwarze Wolke auf meinem Herzen lagen.

Die Augen des Mädchens weiteten sich. „Sie ist einfach gegangen? Ganz ohne Grund?“

Ich nickte. „Vielleicht hatte sie einen Grund. Ich weiß es nicht, aber inzwischen ist es auch egal, denn ich werde ihn nie erfahren.“

Die Sorge um das verschwundene Armband schien plötzlich nebensächlich zu sein und nun war sie es, die einen Vorsprung an Optimismus hegte.

„Komm, wir gehen ins Haus. Du hast doch bestimmt Durst nach der langen Suche?“ Sie lud mich mit einer Handbewegung ein, ihr zu folgen und ich nahm das Angebot an.

Die Tür zum Haus war abgeschlossen und aus einem Blumentrog, der an einem Holzbalken an der Veranda befestigt war, fischte sie einen kleinen Schlüssel heraus. Mit einem kurzen Klicken öffnete sich das Schloss.

„Ich heiße übrigens Elizabeth.“

„Ich bin Colby“, sagte ich, dann traten wir ein.

Wie auch bei Grandma zuhause, waren die meisten Rollos heruntergelassen und eine angenehme Kühle empfing uns. Elizabeth führte mich in die Küche und nachdem sie aus dem Kühlschrank zwei Dosen Limonade geholt hatte, setzten wir uns an einen runden Tisch.

Die Limonade war eiskalt und herrlich erfrischend. Mit dem ersten Schluck merkte ich, wie groß mein Durst durch die Mittagshitze geworden war.

„Mum und Kate sind nicht da. Ich glaube, sie besuchen meine Tante Leoba“, erzählte Elizabeth. „Mum weiß noch nicht, das ich mein Armband verloren habe. Vermutlich wird sie sehr sauer sein, wenn ich es nicht finde. In den letzten Wochen reagiert sie auf alles, was mit Dad zu tun hat, sehr seltsam.“

„Und wenn wir im Haus noch einmal zusammen danach suchen? Möglicher-weise hast du es doch hier irgendwo liegen lassen.“

Elizabeth nickte. Wir beide wussten, dass ihr Zuhause der einzige Ort war, an dem sich eine Suche jetzt noch lohnte.

Während sie kurz auf die Toilette verschwand, wanderte mein Blick durch die Küche und blieb an einem großen, gerahmten Portrait hängen. Von weitem konnte ich bereits erkennen, dass die Aufnahme Elizabeth zusammen mit ihrer Familie zeigte. Ich stand auf und sah mir das Bild näher an.

Elizabeth, ihre Schwester und ihre Mum saßen auf Stühlen. Sie waren allesamt zu recht gemacht und trugen schöne Kleider. Der Vater, ein groß gewachsener, durchtrainierter Mann, stand hinter ihnen und hatte seine Hände behutsam auf die Schultern seiner Frau gelegt. Seine Haltung und die Entschlossenheit in seinen Augen signalisierte, dass er seine Familie – all die Menschen die er liebt – beschützen würde, koste es, was es wolle.

Die Aufnahme war ein Zeugnis darüber, wie glücklich sie alle waren. Mir fiel auf, dass Elizabeth ihrer Mum sehr ähnlich sah. Doch das war nicht das Einzige, was mir plötzlich klar wurde. Ein eisiges Kribbeln zog sich an meinen Armen entlang und ich bekam eine Gänsehaut.

Ich hatte Elizabeths Mum schon einmal gesehen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich erinnern konnte, doch dann bestand für mich kein Zweifel mehr. Sie war die Frau mit den traurigen Augen und dem Mädchen an der Hand, die Grandma auf einer Seite ihres Skizzenblocks portraitiert hatte.

Das Echo der Verstorbenen

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