Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 9

5

Оглавление

Ich besuche meinen Dad zwei bis drei Mal die Woche und sehe nach dem Rechten. Er kümmert sich weder um das Haus noch um den Garten. Es obliegt mir dafür zu sorgen, dass er nicht in einem riesigen Mülleimer lebt.

Ich koche ihm eine warme Mahlzeit.

Bezahle die Rechnungen.

Wasche seine Wäsche.

Er verbringt seine Tage damit, Videoaufnahmen über Sams Baseballkarriere anzusehen. Dad hat jedes Spiel, jeden Sieg aufgezeichnet.

Sams Erfolge erinnern ihn an eine glückliche Zeit. Er und sein ältester Sohn waren damals ein Herz und eine Seele. Darum hält er an diesen Erinnerungen so sehr fest. Mehr noch, inzwischen bestimmen sie Dads Leben. Er verleugnet, was in den letzten Jahren passiert ist. Für ihn ist Sam immer noch der ambitionierte, junge Sportler, für den es nur eine Leidenschaft gibt.

Nach dem Abendessen verabschiede ich mich von Dad, der bereits in eine andere Aufnahme vertieft ist. Als ich gehe, schließe ich die Tür hinter mir ab. Jedes Mal, wenn ich an meinem Wagen stehe, schaue ich noch einmal zurück. Dieses Haus war einmal mein Zuhause. Ein Wunsch in meinem Herzen gewinnt für kurze Zeit die Oberhand über die Realität: Wenn ich wieder herkomme, empfängt mich Dad und erklärt, dass er das Geschehene akzeptiere. Er habe sich lange genug in seine eigene Welt geflüchtet. Er möchte wieder in der Gegenwart leben. Und er wisse, dass er auf mich zählen kann.

Aber so wird es nicht sein. Dad wehrt sich gegen die Wahrheit und ich kann nichts tun.

Es ist kurz nach halb acht.

Der Grund, weshalb ich mittwochs niemals mit meinen Kollegen nach Feierabend ein Bier trinken gehen kann. Heute verspäte ich mich etwas.

Das weiß gestrichene Gebäude mit der großen Parkanlage ist bereits von weitem gut zu erkennen. Es liegt am Ende einer Straße, die mit Villen der Wohlhabenden dieser Stadt gesäumt ist. Die Vorgärten sind gepflegt und unterstreichen den Prunk der Immobilien.

Ich ordne mich in einer Parklücke in der Nähe des Haupteingangs ein. Als ich hineingehe, kommen mir zwei der weiß gekleideten Mitarbeiter entgegen. Sie steuern einen Aschenbecher am Eingangsportal an.

Der mir bekannte sterile Geruch erfüllt die Luft. Ich laufe die wenigen Schritte hinüber zum Fahrstuhl und fahre hinauf in die vierte Etage.

Am Empfang sitzt Ashley. Sie ist meistens hier, wenn ich am Mittwochabend herkomme. Ab und zu reden wir beide miteinander. Ich bilde mir inzwischen sogar ein, sie etwas zu kennen.

„Hallo Colby“, begrüßt sie mich freundlich.

„Hallo Ashley. Kann ich zu ihm?“

Ashley schaut mich betroffen an.

„Ist etwas passiert?“, frage ich wie aus der Pistole geschossen. Ich werde nervös.

„Nein, keine Sorge“, beruhigt sie mich. „Aber Sie sollten wissen, dass er heute keinen guten Tag hat. Es ist schlimmer als sonst.“

„Okay. Danke.“ Ich nicke und steuere eilig den Gang an, der rechts vom Empfang abzweigt.

„Warten Sie, ich komme mit Ihnen.“ Ashley schließt zu mir auf. Meine Augen fixieren die Tür mit der Nummer 418.

„Es tut mir Leid. Vielleicht wäre es besser, wenn ich Sie das nächste Mal vorher anrufe.“

„Nein, es ist in Ordnung. Ich komme jeden Mittwoch hierher. Das bin ich ihm schuldig.“

Ashley erwidert nichts. Als wir an der Tür angelangt sind, stellt sie sich vor mich.

„Wenn ich etwas für Sie tun kann, dann lassen Sie es mich wissen.“

Ich nicke. Wir bleiben einen Augenblick schweigend nebeneinander stehen, bis Ashley zum Empfang zurückkehrt. Meine Hände legen sich zitternd auf den Türknauf. Ich lausche, aber ich kann nichts hören. In dem Zimmer ist es völlig still.

Ich öffne die Tür und trete ein.

Es brennt keine einzige Lampe. Der Raum liegt im Halbdunkel der angebrochenen Nacht. Nur der matte Schein der Straßenlaternen dringt durch das große Fenster auf der gegenüberliegenden Seite herein.

Sam sitzt auf der Fensterbank und schaut hinaus. Er trägt einen dunkelblauen Pyjama und darüber einen ebenfalls blauen Bademantel. Sein dichtes, dunkelbraunes Haar fällt ihm tief ins Gesicht. Die Arme um den Körper geschlungen, wiegt er sich langsam hin und her.

Leise schließe ich die Tür hinter mir.

„Hi Sam, ich bin’s“, begrüße ich ihn einen Moment später. Er dreht sich kurz zu mir um, dann widmet er sich wieder der Straße.

Ich setze mich zu ihm auf die Fensterbank. Er schaut demonstrativ zur Seite.

„Es tut mir Leid, dass ich dich so spät besuche. Aber ich hatte noch…etwas zu erledigen.“ Ich erzähle ihm nie, dass ich bei Dad war. Ein Gefühl sagt mir, es würde Sam nur aufwühlen. Sie haben sich seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen. Genauer gesagt, seit dem Tag, an dem Sam hier her kam.

„Wie geht es dir?“

Sam bleibt stumm. Er zieht seine Beine näher zu sich und stützt sein Kinn auf den Knien ab.

„Letzte Woche hast du mir von deinem Freund Mike berichtet und dass ihr im Gemeinschaftsraum zusammen mit Ashley und Will Karten gespielt habt.“ Nach zwei Jahren fällt es mir nicht mehr schwer, ein Gesprächsthema zu finden. Meistens knüpfe ich an die wenigen Dinge an, die mir Sam erzählt. So erhalte ich zumindest einen kurzen Augenblick seiner Aufmerksamkeit.

Aber dieses Mal reagiert er nicht. Ashley hat Recht. Heute hat mein Bruder keinen guten Tag.

„Ich nehme mir bald ein paar Tage frei und besuche vielleicht Onkel Steve“, versuche ich es erneut.

Sams Augen weiten sich und er sieht mich wie ein in die Enge getriebenes Raubtier an. Er zittert am ganzen Körper.

„Was hast du? Bitte sprich mit mir.“ Ich möchte ihm meine Hand auf den Arm legen, weil ich glaube, die Berührung könnte ihn beruhigen.

Da springt er auf, rennt aus dem Zimmer und brüllt „Ich bin nicht verrückt!“

Für einen Augenblick bin ich so perplex, dass ich gar nicht weiß, was ich tun soll.

Ich folge ihm so schnell es mir möglich ist. Zu meiner Überraschung wartet er auf dem Gang.

„Willst du mir etwas zeigen?“, frage ich ihn.

„Ich bin nicht verrückt.“ Sam rennt weiter und es strengt mich an, mit ihm mitzuhalten. Sein Körper ist kräftig und flink. Er ist noch immer in ausgezeichneter Form.

Sam führt mich in den Gemeinschaftsraum. Zu dieser Uhrzeit sitzen hier keine Bewohner. Die meisten sind in ihren Zimmern und hängen, wie auch Sam zuvor, ihren verworrenen Gedanken nach.

Wir bleiben vor einem riesigen Aquarell stehen. Es zeigt die Anstalt, portraitiert von einer Stelle im Garten. Im Fordergrund blüht eine Reihe von Blumen und in den Fensterreihen im Erdgeschoss spiegelt sich das Sonnenlicht wider.

Ein Ort der Ruhe und des Vertrauens.

Die Konstante für jene, deren Leben sich im Wahnsinn wiegt.

Sam tritt nahe an mich heran und flüstert mir etwas zu. „Ich bin nicht verrückt. Schau es dir an, Colby. Schau es dir ganz genau an.“

Mir wird bewusst, was Sam plant. Warum er mich hierher gebracht hat.

„Lass uns zurück in dein Zimmer gehen“, wende ich ein.

„Nein, du schaust dir das Bild an! Sie müssen es verstehen.“ Zorn liegt in seinen Worten.

„Das werde ich nicht, Sam.“ Ich möchte ihn am Arm nehmen. Er schlägt meine Hand beiseite und hält sie im selben Moment fest.

„Lass mich bitte los.“

„Erst wenn du dir das Bild ansiehst!“

Tränen steigen mir in die Augen.

„Sam, bitte!“ Auf einmal bin ich wieder sein kleiner, schwacher Bruder. Er hat die Oberhand.

Ich schaue zur Seite und halte nach einem Pfleger Ausschau. Doch niemand ist zu sehen.

Sam verpasst mir eine Ohrfeige. „Ich bin nicht verrückt!“ Er knurrt und fletscht die Zähne. Schließlich presst er mir die Hand in den Nacken und zieht mein Gesicht in Richtung des Bildes. Ich habe keine andere Wahl, als mir das Aquarell anzusehen.

Vor meinen Augen beginnen die Farben und Konturen zu verschwimmen. Die Blumen verlieren ihre Blütenblätter und an der Fassade des Hauses entstehen Risse. Aus der Mitte breitet sich Finsternis aus, bis die Leinwand tintenschwarz schimmert.

Inmitten der Dunkelheit zeichnet sich die Silhouette eines Gesichts ab. Es ist ein Mann, dessen Augen weit aus den Höhlen treten und der verzweifelt um Hilfe schreit. Sein Körper wird sichtbar. Er trägt eine Zwangsweste und wird von zwei Männern an eine Bank geschnallt. Sein Mund wird mit Klebeband versiegelt. Die Schreie ersticken. Der Körper des Geknebelten beginnt heftig zu zucken. Die Panik in seinen Gesichtszügen wird immer größer.

Die Männer reißen ihm das Hemd auf und befestigen mehrere Elektroden an seiner Brust. Eine weitere Person tritt hinzu. Sie gibt den Übrigen Anweisungen und zählt mit ihren Fingern einen Countdown. Am Ende durchfährt den Gefesselten einen Stromstoß. Er ist so stark, dass ich die Schmerzen an meinem eigenen Körper spüre.

Ich schreie laut auf. Schweiß tritt mir auf die Stirn und mein Herz hämmert wild gegen meine Brust.

Plötzlich löst sich der Druck an meinem Nacken und ich sinke erschöpft zu Boden. Ich wische mir über die Augen und sehe wieder die Anstalt und den Garten auf der Leinwand.

Sam wird von zwei Pflegern festgehalten. Er tritt wild um sich und versucht, aus dem Griff zu entkommen.

„Ich bin nicht verrückt!“, brüllt mein Bruder aus tiefster Kehle. Dann fängt er laut an zu lachen. „Sag es ihnen, Colby. Sie müssen es alle erfahren.“

Ein weiterer Pfleger kommt angerannt. In seiner Hand hält er eine Spritze, deren Nadel sich einen Augenblick später in Sams Arm bohrt. Wie von Zauberhand verfliegt seine Rage und er sinkt müde zusammen.

Ashley betritt den Gemeinschaftsraum. „Colby, ist Ihnen etwas passiert?“ Besorgt kniet sie neben mir nieder.

„Mir geht es gut“, behaupte ich.

Die Pfleger tragen Sam zurück in sein Zimmer und ich komme mit Ashleys Hilfe wieder auf die Beine.

„Sam hat den ganzen Tag über behauptet, Sie wären mit Abstand genauso verrückt wie er.“

„Er…er wird sich doch wieder beruhigen?“

Ashley scheint überrascht von meiner Frage zu sein. Sicherlich versteht sie nicht, weshalb ich mir Sorgen um Sam mache, nachdem er mich so drangsaliert hat.

„Jeder Tag ist anders. Morgen haben sich die Wogen in Sams Welt wieder geglättet.“ Ashleys Worte spenden mir etwas Trost.

Als wir das Gemeinschaftszimmer verlassen, werfe ich noch einmal einen Blick auf das Bild. Die Konturen verändern sich erneut, doch dieses Mal wende ich mich rechtzeitig ab.

Was ich gesehen habe, erinnert mich an meine Entscheidung. An die Gründe, warum ich sie getroffen habe.

Ich werde nie wieder malen. Mich nie wieder der Schönheit eines Bildes widmen.

Es ist keine Gabe. Es ist ein Fluch.

Das Echo der Verstorbenen

Подняться наверх