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Ich stehe seit etwa zwanzig Minuten vor der Eingangstür zum Nomansland und schaffe es nicht hineinzugehen, fast als würde mich eine unsichtbare Barriere davon abhalten, den Türgriff in die Hand zu nehmen. Während ich vor dem Eingang herumstreiche, beobachtet mich ein anderer Besucher der Kneipe mit misstrauischem Blick. Vielleicht glaubt er, dass ich ein kaltblütiger Killer bin, der auf der Suche nach seinem nächsten Opfer durch die nächtlichen Gassen streift und sich dann irgendwo im Schutz der Dunkelheit auf die Lauer legt.

Ein älterer Mann gesellt sich zu ihm hinzu und sie verschwinden durch den Eingang. Für einen kurzen Augenblick kann ich in das Nomansland hineinsehen und entdecke Peyton, wie sie an ihrem Stammplatz sitzt und in ein Buch vertieft ist. Ob sie wohl auf mich wartet? Wie ernst kann ich ihre Einladung nehmen? Doch was mich am meisten beschäftigt, ist die Frage, weshalb sie sich mit mir abgeben möchte. Ich will mich nicht selbst bemitleiden oder unter Wert verkaufen, aber ich habe nicht das Aussehen eines Hollywoodstars, durch das ich auf sie faszinierend wirken könnte. Ich zähle wohl eher in die Kategorie Durchschnittstyp.

Glaubt sie tatsächlich, uns beide würde etwas verbinden? Immerhin kennt sie mich nicht. Sie weiß nichts über mich oder meine inneren Dämonen, die ich zu bekämpfen nicht fähig bin. Genauso ist sie für mich eine Unbekannte. Und ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass sie diese auch bleiben möchte, wüsste sie über den ganzen emotionalen Ballast, den ich mit mir herumtrage, Bescheid.

Weitere zehn Minuten verstreichen, bis ich mir selbst endlich einen Ruck gebe und mit eiligen Schritten das Nomansland betrete. Zuerst möchte ich so tun, als hätte ich sie nicht gesehen und mich an einen freien Stuhl an der Theke setzen. Aber da ich mich bereits zu genüge dämlich verhalten habe, bleibe ich direkt vor ihrem Tisch stehen und mache mich durch ein kurzes „Hey“ bemerkbar.

Peyton sieht von ihrem Buch auf und lächelt mich an. „Da bist du ja.“ Sie scheint sich wirklich zu freuen, mich zu sehen.

„Ich hatte noch einen Termin“, flunkere ich notgedrungen über mein spätes Erscheinen.

„Schon okay, wir haben schließlich keine Uhrzeit vereinbart.“

Ich nicke und schiebe die Hände nervös in meine Hosentaschen.

„Magst du dich nicht setzen?“, fragt sie und ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. Glücklicherweise ist die Kneipe schwach beleuchtet, so dass es Peyton nicht auffallen wird. Ich ziehe meine Jacke aus, hänge sie an die Stuhllehne und setze mich.

Peyton klappt ihr Buch zu und verstaut es in ihrer Tragetasche. „Du arbeitest also bei Fresh Food Daily“, erinnert sie mich an unsere letzte Begegnung.

„Ja, ich bin der Fachmann für alle Fragen rund um das Thema Konserven“, erwidere ich und bringe sie damit zum Lachen. In meinem Bauch beginnt es seltsam zu kribbeln und obwohl oder gerade weil Peyton nett ist, werde ich nervös. Ein belangloser Plausch oder gar Flirten sind nicht gerade die Disziplinen, in denen ich glänze.

„Dann nenn mich doch die Fachfrau für Paragraphen. Ich arbeite bei McAsher & Klein.“ Es sollte ein Witz sein, aber dennoch muss ich meine Mundwinkel regelrecht dazu zwingen, nach oben zu wandern. Peyton ist Anwältin. Sie hat studiert, ist – zumindest schließe ich das aus ihrer Arbeit bei einer der größten Kanzleien der Stadt – ehrgeizig und erfolgreich. Ich dagegen bin dafür verantwortlich, Regale mit Dosen aufzufüllen. Wieder begreife ich nicht, warum sie sich gerade mit mir abgeben möchte.

„Du hältst mich bestimmt, dem Klischee über Anwälte entsprechend, für langweilig und bieder. Aber ich kann dich beruhigen, ich bin nur langweilig.“ Offensichtlich hat sie meinen angespannten Gesichtsausdruck falsch gedeutet.

„Das ist es nicht“, gebe ich zu. „Ich frage mich nach wie vor, weshalb du so begierig darauf bist, mich zu treffen.“

Peyton streift sich eine Locke aus dem Gesicht und schaut kurz hinab zur Tischplatte. „Ich vertraue da einfach meinem Gefühl. Irgendwie sagt es mir, dass es sich lohnt. Dass ich die Chance habe, einen interessanten Menschen kennen zu lernen.“

Eine junge Frau, die ein T-Shirt mit dem Schriftzug der Kneipe trägt, kommt an unseren Tisch. Wir bestellen uns zwei Bier und sie verschwindet wieder in Richtung der Theke.

Interessant ist das falsche Wort für mich. Es passt wohl eher Problem beladen.“

Peyton rückt ihren Stuhl näher an den Tisch.

„Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich fünfzehn Jahre alt war. Ich kann kaum glauben, dass sie sich einmal geliebt haben, bedenkt man die Schlammschlacht, die sie sich während der Scheidung lieferten. Jeder wollte den anderen blutend am Boden liegen sehen. Ihre vier Kinder waren ihnen dabei völlig egal. Wir wurden eher als Ware betrachtet, die es zu ergattern galt.

Mein ältester Bruder sitzt im Gefängnis, weil er einen Polizisten vor acht Monaten mit einem Messer lebensgefährlich verletzt hat. Das Schlimme ist, das er überhaupt keine Reue erkennen lässt und sogar noch Stolz darauf ist, es einem der verfluchten Cop-Ratten richtig gezeigt zu haben. Und dann hätten wir da noch meinen langjährigen Freund – jetzt Exfreund – Damian, der mir kurz vor unserer Hochzeit gestand, dass er mich mit insgesamt fünf Frauen betrogen hat. Ich habe ihm natürlich nicht das Ja-Wort gegeben.“ Demonstrativ deutet Peyton auf ihren Ringfinger. „Jeder von uns hat seine Bürde zu tragen, glaub mir. Und wenn in deinem Leben schlimme Dinge passiert sind, dann brauchst du dich dafür nicht zu schämen oder denken, sie würden mich abschrecken. Ich möchte dich wirklich kennen lernen. Wie gesagt, ich vertraue auf mein Gefühl.“

Auf einmal wird mir klar, dass ich auf Peyton verdammt ichbezogen wirken muss, immerhin habe ich versucht, sie mit der Menge an Problemen in meinem Leben auf Distanz zu halten. Ihr eigenes scheint jedoch genauso kompliziert.

„Das tut mir leid. Ich hätte wissen müssen, dass ich nicht der Einzige bin, dessen Leben schwierig ist“, gestehe ich und schaue betroffen zu Boden.

Peyton berührt mich sanft am Unterarm und ich sehe schnell zu ihr auf. „Das ist schon okay. Mir scheint nur, dass dir jemand fehlt, dem du deine Sorgen anvertrauen kannst. Es liegt natürlich ganz bei dir, aber wenn du magst, höre ich dir gerne zu.“

Die Bedienung bringt unsere Getränke und ich nehme einen kräftigen Schluck. Das Bier ist kühl und mild.

„Es ist eine Weile her, seit ich jemandem…Du brauchst das aber nicht tun, Peyton.“

Sie nippt an ihrem Bier. „Erzähl mir einfach etwas über dich, einverstanden?“, schlägt sie vor.

„Na schön“, stimme ich zu. „Ich habe einen älteren Bruder. Sein Name ist Samuel. Er hat ziemlich erfolgreich Baseball gespielt. Seine Coaches haben ihm eine goldene Zukunft prophezeit. Zahlreiche Talentscouts sind während seiner Collegezeit auf ihn aufmerksam geworden und wollten ihn nach dem Abschluss seines Studiums für ihre Mannschaft unter Vertrag nehmen. Mit jedem Sieg, den er gemeinsam mit seinem Team erringen konnte, stieg der Erfolgsdruck. Sam mag nach außen selbstsicher und willensstark wirken, aber er kaschiert damit nur seine Unsicherheit. Auch wenn wir uns nie besonders mochten, so kenne ich meinen Bruder doch besser als jeder andere. Sam hatte Angst vor der Zukunft, vor den Veränderungen, die nach dem College auf ihn warten würden. Er hatte Angst zu versagen, plötzlich in die Ungnade seiner Coaches zu fallen und damit auf einen Schlag alles zu verlieren. Es gab niemanden, mit dem er über diese Sorgen sprechen konnte. Oder sprechen wollte. Sam suchte deshalb nach etwas, das ihm Trost spenden würde, etwas das die Zweifel in seinem Herzen auslöschen konnte. Er hat angefangen, Drogen zu nehmen. Ich meine, richtig harte Sachen. Eine kurze Zeit lang ging es ihm besser und er glaubte, ein Heilmittel gegen seine Ängste gefunden zu haben. Doch stattdessen wurde er süchtig. Die Drogen stellten auf einmal das Zentrum seines Lebens dar. Er vernachlässigte das Training und lief sogar Gefahr, seine Abschlussprüfungen nicht zu bestehen. Als einer der Coaches herausfand, dass Sam Kokain nahm, drohte er ihm mit dem Rausschmiss aus der Mannschaft und dem Verlust seines Stipendiums. Unser Dad war außer sich, nachdem er über Sams Drogenkonsum informiert wurde. Mir kam es vor, als ginge es ihm nicht nur um das Leben meines Bruders, sondern hauptsächlich um seine ins Wanken geratene Karriere. Ich habe einmal in Frage gestellt, ob Sam nicht vielleicht glücklicher wäre, wenn er mit dem Baseball aufhören könnte. Die Antwort meines Dads war, dass ich als einer der unsportlichsten Menschen dieser Welt nicht verstehen könne, wie wichtig für Sam das Spiel sei. Ich war mir nicht sicher, ob Dad von meinem Bruder oder eher von sich selbst sprach.

Sam riss sich am Riemen und schaffte seinen Abschluss. Nach außen versicherte er, von den Drogen los zu sein, auch ohne einen richtigen Entzug. Aber eigentlich bestimmte das Kokain nach wie vor sein Leben. Er nahm es heimlich weiter und schaffte es, alle zu täuschen. Dad. Seine Coaches. Die Mannschaft. Die Bluttests, denen sich Sam unterziehen musste, besagten, er sei clean. Später kam heraus, dass der betreuende Arzt des Teams Sams Dealer war.

Es ist jetzt fast drei Jahre her, seit er beinahe an einer Überdosis gestorben wäre. Er war mehr als acht Minuten klinisch tot. Wie durch ein Wunder konnten sie ihn reanimieren, aber sein Gehirn hat irreparable Schäden genommen. Mein Bruder befindet sich seither in einem geistig verwirrten Zustand, ist entweder aggressiv oder ängstlich. Die Ärzte pumpen ihn mit Medikamenten zu und unterdrücken jeden Rest seiner Persönlichkeit. Er wird nie wieder Baseball spielen, was gleichzeitig auch die Ursache für mein zweites Problem darstellt. Mein Dad konnte nicht verkraften, das Sam nicht mehr der Spitzensportler, nicht mehr sein ganzer Stolz sein würde. Seither schirmt er sich buchstäblich von der Außenwelt ab, verkriecht sich zuhause und schaut sich den ganzen Tag Aufnahmen aus Sams Kindheit an. Er klammert sich verbissen an eine Zeit, in der noch alles gut war. Eine Zeit, in der Sam ihn glücklich gemacht hat.“ All die Dinge, die mir wie Blei auf der Seele liegen auszusprechen, fühlt sich seltsam an. Peytons Augen betrachten mich sanft. Sie legt ihre Hand auf die meine und drückt sie vorsichtig.

„Das ist furchtbar“, sagt sie nach einer Weile. „Aber wieso trägst du diese Bürde alleine mit dir? Gibt es niemanden, der dich unterstützt?“

„Nein, ich bin alleine.“ Ich leere fast den ganzen verbliebenen Rest Bier in einem Zug und versuche damit, die Bitterkeit meines Eingeständnisses zu vertreiben.

„Dann lass mich dir helfen“, schlägt Peyton mit entschlossener Stimme vor.

Überrascht ziehe ich meine Hand weg.

„Ich meine das ernst“, bestätigt sie noch einmal.

„Das geht nicht“, wehre ich ihren Vorschlag ab. „Wirklich. Du willst damit nichts zu tun haben.“

Peyton reibt sich die Stirn. „Colby, gib mir doch einfach eine Chance. Mehr erwarte ich gar nicht. Lass es uns versuchen. Danach kannst du dich immer noch dazu entschließen, mich aus deinem Leben… na ja, auszuschließen. Das versuchst du nämlich schon die ganze Zeit, aber ich bin hartnäckig.“ Sie lächelt kurz und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich mustere sie vorsichtig und versuche herauszufinden, ob es an ihrem Vorschlag einen Haken gibt. Etwas, das ich bisher übersehe. Aber ich kann an ihrem Wunsch, mir helfen zu wollen, nichts Falsches, nichts Heimtückisches entdecken.

„Bitte verzeih mir, dass ich so ablehnend reagiere. Aber diese Situation…sie ist einfach ungewohnt für mich.“

Peyton schenkt mir erneut ein Lächeln. „Was hältst du davon? Ich bestelle uns noch eine Runde Bier.“

„Das klingt gut“, antworte ich und lächele selbst.

Nachdem wir mit unserem zweiten Bier in der Hand angestoßen haben, gibt sich Peyton große Mühe unser Gespräch auf weitaus fröhlichere Themen zu lenken. Sie erzählt über einen kuriosen Fall, der sich vor einigen Monaten bei McAsher & Klein ereignet hat. Ein Klient wollte seine Ehefrau auf Schadensersatz verklagen, nachdem sie ihn fünf Tage lang mit einer Handschelle ans Bett gefesselt hatte, bis er sich dazu bereit zeigte, endlich wieder mit ihr zu schlafen.

„Je länger ich als Anwältin arbeite, desto mehr verrückte Geschichten erlebe ich. Ab und an zweifle ich sogar, ob die Leute ihre Vorgeschichte, mit der sie eine Klage anstreben, tatsächlich ernst meinen.“

„War es schon immer dein Traum Anwältin zu werden?“

Peyton schüttelt den Kopf und ihre Locken wippen wild umher. „Es war eher der Traum meiner Eltern. Mein Vater ist ebenfalls Anwalt. Und als ich mich entscheiden musste, welches Gebiet ich studieren möchte, habe ich Jura gewählt.“

„Mein Plan war es eigentlich Kunstgeschichte zu studieren, aber…es kommt eben anders, als man denkt. Und so bin ich zwischen den Dosenregalen gelandet.“ Sicherlich vermutet Peyton, dass Sam der Grund ist, weshalb ich meinen Plan aufgeben musste. Ihr zu gestehen, dass ich mit Geistern in Kontakt trete – dass die Verstorbenen mir durch jedes Bild, das ich ansehe, eine Botschaft zu senden versuchen – halte ich für keine kluge Entscheidung. Denn anders als mit dem Schicksal meines Bruders und meines Vaters wird sie diesen Teil meines Lebens nicht verstehen können, geschweige denn mir glauben.

„Ich würde gerne sagen, wir alle sollten nur das tun, was uns glücklich macht, aber wir wissen beide, dass es nicht so einfach ist.“ Peyton leert ihr Glas, schiebt es beiseite und beginnt mit den Fingern ihrer linken Hand sachte auf die Tischplatte zu trommeln. „Wenn ich die Erwartungen meiner Eltern ignoriert hätte und meinem Wunsch gefolgt wäre, ich bin sicher, ich wäre jetzt auch nicht glücklicher. Mein ältester Bruder ist auf die schiefe Bahn geraten und deshalb war es mir wichtig, dass meine Eltern nicht noch einmal enttäuscht werden. Zu sehen, dass sie mit mir im Großen und Ganzen zufrieden sind, lässt mich auch auf eine bestimmte Art mit mir selbst zufrieden sein, unabhängig davon, ob ich vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen hätte.“

„Was war dein Wunsch? Was wolltest du anstatt Jura zu studieren tun?“, frage ich und ihre Augen beginnen regelrecht zu glänzen. „Ich wollte Schauspielerin werden. Während der Highschool habe ich Theater gespielt und dabei gemerkt, dass ich nichts lieber mache. Es ist ein tolles Gefühl, in die Identität einer anderen Person zu schlüpfen und den Zuschauern eine Geschichte erzählen zu dürfen.“

Ich nehme meinen letzten Schluck Bier und sage: „Es ist schade. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem wir uns von diesen Träumen verabschieden.“

„Ganz habe ich es noch nicht aufgegeben“, gesteht Peyton. „Und das solltest du auch nicht.“

Das Kribbeln im meinem Bauch lässt kaum nach. Es liegt nicht daran, dass ich noch immer etwas nervös bin, sondern weil ich merke, wie wohl ich mich in Peytons Gegenwart fühle. Nachdem wir bezahlt haben und das Nomansland verlassen, wünsche ich mir, unser Treffen würde jetzt noch nicht enden.

„Was machst du am Samstagabend?“, fragt Peyton und mein Herzschlag gerät kurz aus seinem Rhythmus. Ich kann mir ein Lächeln nur schwer verkneifen und lasse es deshalb einfach zu. Genauso wie ich Peyton eine Chance geben werde.

„Noch habe ich nichts vor.“

„Wenn du magst, können wir zusammen ins Kino gehen. Vielleicht in den neuen Film mit Johnny Depp?“ Ich habe zwar keine Ahnung, welchen Film sie meint, aber ich nehme ihren Vorschlag sofort an. Wir tauschen unsere Telefonnummern aus und Peyton verabschiedet sich mit einer kurzen Umarmung.

Als ich nach Hause laufe und die Euphorie meinen ganzen Körper federleicht wirken lässt, kommt mir ein Gedanke. Möglicherweise leben bald zwei einsame Seelen weniger in dieser Stadt.

Das Echo der Verstorbenen

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