Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 15

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Je länger ich das Familienportrait betrachtete, desto stärker spürte ich die Spannung, die meine Finger plötzlich durchdrang. Meine Hände schienen regelrecht elektrisiert und mir gelang es nicht, sie länger ruhig bei mir zu halten. Mir war, als sei ich ferngesteuert und ohne weiter zu überlegen, griff ich hinter mich, wo ich bei einem Stapel alter Zeitschriften einen Notizblock und einen Bleistift fand. Ich wusste, was geschehen würde, denn der gleiche tranceartige Zustand hatte mich ereilt, als ich in Grandmas Atelier den See malen wollte. Wie einen Spiegel hob ich das Stück Papier vor meine Augen. Die leere weiße Fläche begann sich mit kleinen Farbpunkten zu füllen, die nach und nach ein klares Bild ergaben. Ich sah einen Garten, in dessen Mitte an einem Stangengerüst zwei Schaukeln langsam im Wind hin- und herschwangen. Ich lief darauf zu und wollte mich in eine der Schaukeln setzen, als ich hinter einem großen Beet weißer Rosen eine blaue Regentonne entdeckte. Von weitem erkannte ich bereits, dass sie bis zum Rand mit Wasser gefüllt war. Einem Magnet gleich zog mich die Tonne an. Mein Körper schien mir nicht selbst zu gehören und jegliches Widersetzen gegen die fremde Kraft, die mich lenkte, war vergebens.

Als ich mich über die Regentonne beugte, spiegelte sich mein Gesicht in der glatten, flüssigen Oberfläche. Das Wasser war so pechschwarz, dass ich nicht einmal den Boden der Tonne sehen konnte. Aber ein Gefühl sagte mir, dass sich ganz unten in der Dunkelheit etwas sehr bedeutsames befand. Ich hob meinen rechten Arm an und tauchte ihn langsam in das kalte Wasser ein. Ich streckte die Finger aus, doch waren diese noch viel zu weit vom Boden der Tonne entfernt, als dass ich ihn hätte abtasten können. Plötzlich zeichnete sich hinter meinem Spiegelbild eine andere Gestalt ab. Sie war so dunkel wie das Wasser selbst, doch nach und nach nahm der schemenhafte Schatten deutliche Konturen an, bis ich das Gesicht der Person erkennen konnte.

Es war Elizabeths Vater. Seine Haut war mit Spuren feuchter Erde überzogen und er trug eine Kampfuniform, so als befände er sich mitten in einer Militäroperation.

Nahezu zeitgleich durchzog auf einmal ein helles Leuchten das schwarze Wasser. Ein silberner Lichtkegel schien der Ursprung der Strahlen zu sein. Je stärker er wurde, desto näher bewegte er sich auf meine Hand zu.

Ich hörte, wie Elizabeths Vater schwer atmete. Seine Lippen senkten sich an mein Ohr. Unter Aufbringen seiner ganzen Kraft flüsterte er zwei Worte. Beschütze sie.

Im selben Moment berührten meine Finger den Lichtkegel. Als ob ich eine Tür durchschritt, kehrte ich zurück in die Küche. Nur stand ich nicht mehr vor dem Familienportrait, sondern saß auf einem Stuhl an dem runden Tisch.

Vor mir lag der Notizblock. Die einst leere Seite war nun völlig ausgefüllt. Der Bleistift in meiner Hand hatte den Moment, als ich die blaue Regentonne entdeckt hatte, festgehalten.

„Hast du das gemalt?“, schreckte mich eine Stimme auf. Hinter mir stand Elizabeth und betrachtete die Zeichnung. „Ist wirklich toll geworden. Du hast, wenn ich das beurteilen darf, eine Menge Talent“, fügte sie anerkennend hinzu.

„Weiß du wo diese Regentonne stehen könnte?“, fragte ich ohne auf ihr Kompliment einzugehen.

Elizabeth nahm meine Zeichnung in die Hände und schaute sich das Bild eine Weile an. Dann nickte sie. „Sie ist in unserem Garten. Aber wenn du sie gemalt hast, musst du sie doch schon einmal gesehen haben.“

Ich stand auf. „Bringst du mich hin?“

„Wieso…“

„Ich will etwas überprüfen“, unterbrach ich sie.

„Na schön.“

Elizabeth sah mich unsicher an. Sie schien nicht zu verstehen, was ich mir da in den Kopf gesetzt hatte. Und um ehrlich zu sein, wusste ich es selbst auch nicht genau. Ich vertraute auf ein Gefühl und wollte herausfinden, ob sich meine Vermutung tatsächlich bestätigen würde.

Elizabeth führte mich zum Wohnzimmer und öffnete die große Glasschiebetür, über die man die Terrasse und den Garten erreichen konnte.

„Da müssen wir hin“, sagte sie und deutete mit ihrem Finger zum hinteren Teil des Gartens, der an ein großes Maisfeld angrenzte. Bereits von der Terrasse aus sah ich das Gerüst, an dem die beiden Schaukeln befestigt waren. Mein ganzer Körper zitterte vor Nervosität. So rätselhaft die Dinge waren, die ich gerade eben gesehen hatte, so sehr wollte ich einen Beweis dafür finden, dass sie nicht pure Einbildung waren.

Wir folgten einem mit feinkörnigem Kies ausgefülltem Weg und mir fielen die zahlreichen Blumen auf, die in dem gepflegten Garten in verschiedenen Beeten blühten.

„Meine Mutter ist gelernte Floristin“, verriet Elizabeth. „Unser Garten ist ihr größtes Hobby. Wenn jemand einen grünen Daumen hat, dann sie.“

„Die Blumen bei der Hitze zu pflegen, macht bestimmt wahnsinnig viel Arbeit.“

„Ich helfe Mum am Abend die Beete zu gießen. Das Wasser dafür sammeln wir in der Regentonne, die du vorhin gemalt hast.“

Wir erreichten die Tonne und ich beugte mich über das ruhige Wasser. Es war bei weitem nicht so dunkel, wie ich es zuvor gesehen hatte. Wenn man sich konzentrierte, war der Boden auszumachen. Ich brauchte einen Moment, doch dann war ich mir sicher.

„Colby, was ist?“, fragte Elizabeth. Ihre Stimme spiegelte die Verwirrung wieder, in die ich sie mit meinem Verhalten versetzte.

„Komm zu mir und sieh selbst.“ Ich trat einen Schritt zur Seite und lies Elizabeth auf den Boden der Regentonne blicken.

„Das… das ist…“

„Dein Armband.“

Elizabeth umklammerte ihr Armband mit beiden Händen. Nun, da sie es wieder hatte, schien sie es niemals mehr loslassen zu wollen.

Wir saßen in der Küche und ich konzentrierte mich auf die Coladose vor mir auf der Tischplatte. Ich wollte Elizabeths Blick ausweichen, denn ich spürte, wie sie mich mit ihren braunen Augen musterte.

„Ich danke dir von Herzen“, sagte Elizabeth, als die beklemmende Stille zwischen uns unerträglich wurde. „Aber du musst mir erklären, woher du wusstest, dass ich mein Armband in der Regentonne verloren hatte.“

„Das kann ich nicht“, gestand ich ihr.

„Wieso nicht?“, hakte sie behutsam nach.

„Weil ich es selbst nicht begreife.“ Ich atmete tief durch.

Elizabeth deutete auf meine Zeichnung, die zwischen uns auf dem Tisch lag. „Du hast den Ort gezeichnet, an dem wir suchen mussten, ohne ihn zu kennen.“

Ich nickte. „Seit ich bei meiner Grandma zu Besuch bin, geschehen solche merkwürdigen Dinge.“

„Dann ist dir so etwas schon einmal passiert?“

„Nicht direkt. Etwas ähnliches.“

Ich dachte augenblicklich an den Abend im Atelier, als ich den See malen wollte. Die Bilder, die mir dabei zu Teil wurden, hatten nichts mit der Suche nach etwas verlorenem zu tun. Die einzige Gemeinsamkeit in den Visionen – oder wie man es nennen wollte – bestand darin, dass ich Personen begegnet bin, die eine unheimliche Ausstrahlung hatten. Einmal dem Mädchen, das mich unter Wasser zog und Elizabeths Vater, der mich bat, seine Tochter zu beschützen.

Ich hatte Elizabeth noch nicht erzählt, dass ich ihren Vater in seiner Kampfuniform gesehen hatte und ich hielt es für klüger, es auch weiterhin dabei zu belassen.

„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“ Elizabeth machte einen Schmollmund und lachte im selben Moment über ihre Grimasse. Offensichtlich hoffte sie, dass ich die Situation genauso komisch fand, wie sie.

Ich nippte an meiner Cola. „Lass uns nicht mehr darüber reden“, schlug ich vor. „Ich bin sehr froh, dass du dein Armband wieder hast. Das sollte das Einzige sein, was zählt.“

„Tut mir Leid, wenn ich dich mit meinen Fragen löchere oder dir auf den Keks gehe“, entschuldigte sie sich. „Ich habe nur noch nie jemanden kennen gelernt, der so etwas faszinierendes kann.“

Meine Wangen wurden rot und ich nahm erneut einen Schluck der Limonade in der Hoffnung, dass mir das kühle Getränk schnell wieder eine weniger verräterische Gesichtsfarbe verleihen würde.

Ich sah auf die Uhr und bemerkte, dass es bereits kurz nach sechs war. „Ich muss nach Hause. Meine Grandma macht sich bestimmt schon Sorgen.“

„Meine Mum müsste jeden Moment zurückkommen. Sie fährt dich bestimmt nach Hause. Oder willst du die ganze Strecke zu Fuß zurückgehen?“

Bevor ich etwas erwidern konnte, wurde die Haustür geöffnet und eine Stimme rief Elizabeths Namen. „Wenn das kein Zufall ist“, flüsterte Elizabeth und zwinkerte mir kurz zu. „Ich bin hier, Mum“, antwortete sie in Richtung des Hausflurs.

Ich hörte, wie jemand mit schnellen Schritten die Treppe hinauf rannte.

„Kate, zieh bitte deine Schuhe aus“, mahnte Elizabeths Mum. Nur einen Moment später kam sie in die Küche. Überrascht schaute sie in meine Richtung. „Oh, wir haben Besuch?“

„Das ist mein Freund Colby“, stellte mich Elizabeth vor.

Elizabeth nannte mich ihren Freund. In meinem Bauch begann es zu kribbeln.

„Hallo Colby“, sagte ihre Mutter.

„Hallo“, antwortete ich.

Elizabeths Mum lächelte mir zu, doch war ihr Gesicht von großer Sorge gezeichnet. Ihre Augen sahen müde aus und verrieten, dass sie seit mehreren Tagen kaum geschlafen haben durfte. Ich fragte mich, welche Last sie zu tragen hatte.

„Mum, könnten wir Colby nach Hause fahren?“, fragte Elizabeth vorsichtig. „Wir haben heute Mittag beim Spielen die Zeit vergessen.“

Elizabeths Mum stellte ihre Tasche auf der Kochfläche ab und löste das Zopfgummi, mit dem sie die Haare glatt nach hinten gebunden hatte, nur um sich einen neuen Pferdeschwanz zu machen.

„Natürlich. Sag deiner Schwester Bescheid, dann können wir losfahren.“

Elizabeth nickte und bat mich, einen Moment in der Küche zu warten.

„Wohnst du schon lange hier?“, fragte mich Elizabeths Mum.

„Ich besuche meine Grandma über die Sommerferien.“

„Verstehe.“ Ihr Blick fiel auf den Anrufbeantworter, der auf einer Kommode bei der Wohnzimmertür stand. Die blinkende Leuchtdiode signalisierte, dass jemand auf dem Band eine Nachricht hinterlassen hatte.

„Entschuldige, ich möchte nur schauen, wer angerufen hat.“ Hastig verschwand sie und einen Moment später hörte ich eine leise, unverständliche Stimme aus dem Wohnzimmer erklingen.

Während ich wartete, sah ich mir noch einmal meine Zeichnung an. Die Worte von Elizabeths Vater hallten in meinen Gedanken wieder.

Beschütze sie.

Was und vor allem wen meinte er damit? Vielleicht Elizabeth?

„Colby, wir können los!“, rief mir Elizabeth aus dem Hausflur entgegen. Kate stand neben ihr und machte ein ziemlich missmutiges Gesicht. Sicherlich hätte sie ihre Zeit lieber damit verbracht, in ihrem Zimmer zu spielen, als die neue Bekanntschaft ihrer Schwester nach Hause zu begleiten.

Elizabeths Mum kam aus dem Wohnzimmer. Ihre Augen schimmerten glasig und beinahe hätte ich erwartet, dass sie in Tränen ausbrechen würde. Sie strich sich kurz über die Lider und schien damit ihre Fassung wieder zu gewinnen.

Ich sah hinüber zu Elizabeth und Kate, doch schienen die beiden nichts bemerkt zu haben.

Da ich nur den Fußweg zurück kannte, dirigierte Elizabeth ihre Mutter.

„Deine Grandma wohnt in dem Haus am See?“, fragte mich Elizabeths Mum, als wir die Abzweigung von der Straße in Richtung des Sees nahmen und damit nur eine Adresse in Frage kam.

„Ja“, antwortete ich so kurz und unverfänglich wie möglich. Ich hatte auf einmal das Gefühl, ich müsste mich dafür entschuldigen, dass meine Grandma hier draußen lebt. Nachdem wir die Einfahrt erreichten, hielt Elizabeths Mum den Wagen an.

„Das war ein schöner Nachmittag“, sagte Elizabeth. Sie deutete so schnell und unmerklich auf ihr Armband, dass nur ich verstand, was sie mir eigentlich sagen wollte.

„Auf Wiedersehen und danke, dass Sie mich nach Hause gefahren haben.“

Elizabeths Mum nickte. Nachdem ich die Autotür hinter mir geschlossen hatte, fuhr sie so eilig davon, als ergreife sie vor etwas die Flucht.

Ich sah dem Wagen noch eine Weile hinterher und versuchte mir zu erklären, weshalb Elizabeths Mum sich beim Abschied so seltsam verhalten hatte. Offensichtlich – so kam mir langsam der Verdacht – gab es hier in der Gegend einige Menschen, die Viviane nicht sonderlich mochten. Was konnte sie ihnen nur angetan haben, dass die Leute sich so distanziert oder feindselig verhielten?

Während ich die Stufen hinauf zur Veranda ging, fiel mir auf, dass der Himmel fast vollständig von einem dünnen Wolkenband durchzogen war.

Der Regen, bei dem ich mich am Mittag fragte, wie lange er noch ausbleiben würde, sollte kommen. Noch diese Nacht.

Das Echo der Verstorbenen

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