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Das Ende des „Burgfriedens“

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In dieser Situation zerbrach der 1914 ausgerufene „Burgfrieden“. Die Empörung der Arbeiter machte sich schon seit dem Spätsommer 1916, verstärkt aber seit Januar 1917 in Streiks Luft. Dabei spielte es wohl auch eine Rolle, dass sich der rechtliche Rahmen durch das Vaterländische Hilfsdienstgesetz verändert hatte. Im Gegensatz zu den Herren an der Ruhr wussten Reichskanzler Bethmann Hollweg, das Kriegsministerium und vor allem das Kriegsamt unter General Groeners Führung, dass sie den Arbeitern in der Rüstungsindustrie Zugeständnisse machen mussten, um die Arbeitsmoral aufrechtzuerhalten. Dies wurde im Vaterländischen Hilfsdienstgesetz berücksichtigt. Besonders die neu eingerichteten Arbeiterausschüsse in den großen Betrieben pochten ab 1917 auf ihre Mitspracherechte. Die Arbeitgeberorganisation „Arbeitnordwest“ bekam es ab dem Frühjahr 1917 mit sehr selbstbewussten Gewerkschaften zu tun. Reusch spielte bei den sich verschärfenden Arbeitskämpfen auf Unternehmerseite zunächst keine zentrale Rolle. Innerhalb des GHH-Konzerns ließ er jedoch keine Zweifel daran aufkommen, wer „Herr im Hause“ war. Nebenbei wurde bei den Arbeitskämpfen im Frühjahr 1917 erneut deutlich, an welch kurzem Zügel Reusch seinen Vorstand führte. Sein Stellvertreter Woltmann holte auch bei Detailentscheidungen immer erst das Plazet seines ständig durch Deutschland reisenden Chefs ein.

Besonders erhellend – auch wegen des in Deutschland gängigen Sprichworts („Mit Speck fängt man Mäuse.“) – war die Strategie, in den Betrieben der GHH Speckzuteilungen ganz gezielt zur Beruhigung und Streikvermeidung einzusetzen. Die Vorgänge auf den beiden großen Zechen der GHH in Osterfeld im April 1917 sollen wegen ihrer exemplarischen Bedeutung deshalb ganz nah an den Quellen nachgezeichnet werden.

Solange es auf den GHH-Zechen ruhig blieb, ließ Reusch den Speck zurückhalten. Es ist anzunehmen, dass diese Vorgehensweise mit den Berliner Behörden abgesprochen war, da er sich Mitte April 1917 mit General Groener und dem Präsidenten des Kriegsernährungsamtes Freiherrn von Batocki traf, wobei es anscheinend in erster Linie um die Unterbindung des Schmuggels und des Schleichhandels ging. Auf welchen Wegen allerdings die Betriebsleitung der GHH sich den Speck besorgt hatte – es kann sich ja nicht um kleine Mengen gehandelt haben –, muss offen bleiben. Reusch benutzte für seine Anordnung, den Speck unter Verschluss zu halten, ganz stilvoll den Kopfbogen des „Russischen Hofes“ in Berlin – eines Hauses, das sich auch in diesen Steckrübenwintern seiner „anerkannt vorzüglichen Küche“ rühmte.211 Drei Tage später, als in Berlin am 16. April über 200.000 Arbeiter in den Streik traten und gleichzeitig ein Massenstreik in Leipzig für den folgenden Tag angekündigt war, hielt er sich in Stuttgart auf. Regierung und Militärbehörden wollten diese Massenbewegung zunächst durch Zugeständnisse ins Leere laufen lassen, schwenkten aber auf eine ganz harte Linie ein, als die Berliner Arbeiter die in Leipzig formulierten politischen Forderungen übernahmen.212


Abb. 12:Speckverteilung: Originalschreiben auf Kopfbogen des Russischen Hofs, in: RWWA 130-300193003/7


Abb. 13:Telegramm aus Stuttgart, in: RWWA 130-300193003/7

Reusch machte sich von Stuttgart aus über die weiche Welle der Behörden in Berlin lustig; diese seien „in den letzten Tagen sehr nervös gewesen“, weil sie einen Generalstreik befürchteten. Er habe aber „den maßgebenden Herren in Berlin gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass [er] für den Westen keine diesbezüglichen Befürchtungen hege“.213 Woltmann konnte sofort per Telegramm bestätigen, dass im Ruhrrevier alles ruhig sei; was die Betriebe der GHH anging, so gebe es nur auf der Zeche Jacobi gewisse „Schwierigkeiten“.214 Trotzdem drängte Reuschs Stellvertreter, u. a. zuständig für die betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen, auf Zugeständnisse: „Die Sonderzuteilung von Speck ist den Bergarbeitern in der vorigen Woche aufgrund unserer Besprechung zugesagt. Diese Zuteilung bildete eins der Mittel, um die Arbeiterschaft in dieser Woche ruhig zu halten. Wir müssen daher den Speck unbedingt in dieser Woche verteilen.“ Denn die Lage war in Osterfeld, das an das unruhige Bottrop angrenzte, immer noch angespannt. Auf Jacobi seien zwar zunächst nur die in Bottrop wohnenden Arbeiter wegen der unzureichenden Kartoffelversorgung in dieser Gemeinde nicht angefahren. „Das Ergebnis war eine Zuweisung an die Schwerarbeiter von 2 Pfund Kartoffeln auf die Schwerarbeiterkarte, außerdem Ersatz in Gries, Graupen und Sauerkraut.“ Diese Sonderzuteilungen kamen offenbar aus den Vorräten der GHH, denn prompt weigerte sich auch „der in Osterfeld wohnende Teil [der Jacobi-Belegschaft], welcher keinerlei Klagen vorzubringen hat“, anzufahren. Nach Anhörung des Arbeiter-Ausschusses werde er über das weitere Vorgehen entscheiden.215 Am folgenden Tag fuhren alle Arbeiter auf Jacobi wieder an.

Jetzt streikten aber die Kumpel auf der benachbarten Zeche Osterfeld, die von ihren Nachbarn sicher über die Zugeständnisse auf Jacobi informiert worden waren. „Die Leute sind zur Waschkaue gekommen, haben dann aber die Arbeit nicht angetreten.“ Die Mitglieder des Arbeiter-Ausschusses würden von „Agitatoren“ gedrängt, den Schlichtungsausschuss anzurufen. Die noch unschlüssigen Ausschussmitglieder sollten durch eine Belegschaftsversammlung „vergewaltigt“ werden.216

Einen Tag später klang alles schon viel weniger dramatisch: Woltmann hatte Reusch telegraphiert, dass auf den beiden Osterfelder Zechen wieder „alles zur Arbeit angefahren“ sei. Auf Jacobi habe der Arbeiterausschuss getagt, ohne aber irgendwelche Forderungen zu beschließen. Deshalb gebe es dort keine Notwendigkeit zum „Eingreifen“ des Schlichtungsausschusses. Auf Osterfeld habe sich eine große Arbeiterversammlung stundenlang nur mit der Einrichtung eines kommunalen Lebensmittelausschusses beschäftigt, zur Erörterung von Lohnfragen sei die Versammlung gar nicht gekommen.217 Noch am gleichen Tag gab Paul Reusch aus Stuttgart telegraphisch grünes Licht: „Speckverteilung kann vorgenommen werden. Preisfrage ist offen zu lassen.“ Darüber wollte er persönlich nach seiner Rückkehr nach Oberhausen entscheiden. Veranlasst durch die kürzlich in Berlin geführten Verhandlungen – konkreter wurde er dabei nicht – werde er voraussichtlich entscheiden, dass der Speck „zum Höchstpreise abzugeben“ sei.218 Ging ihm das von den Betriebsleitern vor Ort empfohlene Entgegenkommen schon wieder zu weit? Reuschs harte Haltung in der Preisfrage entsprach der Empfehlung des Gutachters Edler von Braun, wonach die Landwirte nur durch höhere Preise zu bewegen waren, mehr Nahrungsmittel für die offizielle Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.

Bei der Rückkehr an seinen Schreibtisch in Oberhausen fand der Konzern-Chef ein Schreiben vor, in dem auf der ganzen Linie Entwarnung signalisiert wurde. Der Arbeiterausschuss der Zeche Jacobi habe keine Anträge an die Betriebsleitung beschlossen. Bei der stundenlangen Arbeiterversammlung auf Osterfeld sei auch nichts herausgekommen. Der Amtmann der Gemeinde Osterfeld habe die Leute dadurch beruhigt, dass er die Einrichtung eines Lebensmittelausschusses zusagte. Auf beiden Zechen wurde am 19. April wieder voll gearbeitet. „Das Einstellen der Arbeit sowohl auf Jacobi als auch in Osterfeld kennzeichnet sich als ein ganz unüberlegtes Unternehmen.“219 Das besonnene Verhalten der Arbeiterausschüsse und der offenbar geringe Einfluss radikaler Agitatoren mussten den Schluss nahelegen, dass man mit den durch das Vaterländische Hilfsdienstgesetz eingerichteten Arbeitervertretungen durchaus zusammenarbeiten konnte und dass Zugeständnisse sich auszahlten. Zu diesem Schluss kam Reusch jedoch nicht; denn schon im Sommer 1917 fuhr die Konzernleitung der GHH gegenüber den Forderungen der Arbeiter eine ganz harte Linie.

Reusch hielt alle Zugeständnisse an die organisierte Arbeiterschaft für schädlich. Als durch das Hilfsdienstgesetz Schlichtungsausschüsse ohne Beteiligung der gelben Werkvereine eingerichtet wurden, versuchte er deren Arbeit zu behindern, indem er empfahl, diese in Angelegenheiten der Mitglieder von wirtschaftsfriedlichen Werkvereinen als befangen abzulehnen.220 Nach den Aprilstreiks wurde seine Haltung auch gegenüber den friedlichen Werkvereinen härter, als diese es wagten, kollektiv die Beibehaltung der Kriegszulage zu fordern. Die „Gelben“ bekamen es jetzt zu spüren, dass „die Arbeiterschaft durch die Wahlen zu den Ausschüssen gezeigt hat, dass sie vollständig in den Händen der Gewerkschaften ist.“ Zwar wusste Reusch, dass Lohnerhöhungen nicht ganz zu vermeiden waren, er legte „aber Wert darauf, dass die Arbeiterschaft individuell behandelt wird, dass also nur derjenige eine Lohnzulage bekommt, der sie auch verdient hat.“ Woltmann erhielt den Auftrag, die Lohnforderungen des – gelben (!) – Werkvereins zurückzuweisen.221

Im Juni 1917 versuchten die Arbeiter des Walzwerks Neu-Oberhausen, ihre Forderung einer 100% igen Zulage für Sonntagsarbeit mit einem Streik durchzusetzen. Reusch hatte seinem Stellvertreter Woltmann und dem Betriebsdirektor Lueg eingeschärft, auf keinen Fall dieser Forderung nachzugeben.222 Im Arbeiter-Ausschuss sorgte Woltmann denn auch persönlich dafür, dass die Betriebsleitung keine Zugeständnisse machte. Daraufhin riefen die Arbeiter den Schlichtungsausschuss an und weigerten sich, sonntags zu arbeiten.223 Ob die Betriebsleitung bereits im Juni Repressalien gegen einzelne Arbeiter, d.h. die Einberufung an die Front, einsetzte, um sie gefügig zu machen, ist nicht bekannt. Im Herbst würde dieses Druckmittel dann rigoros angewandt werden: Wer streikt, kommt an die Front!

Die Herren der Schwerindustrie, Reusch eingeschlossen, machte die innenpolitische Krise im Frühjahr und Sommer 1917 nicht nachdenklich. Im Gegenteil: Sie hielten umso hartnäckiger an ihren alten Positionen fest. Trotzdem lagen manchmal die Nerven blank. Mitte des Jahres zum Beispiel ließ sich Reusch aus nichtigem Anlass zu einer erstaunlichen verbalen Entgleisung hinreißen: Er hatte in der „Kölnischen Zeitung“ gelesen, dass ein Ingenieur, der einem Bekannten seine Brotkarte abgetreten hatte, dafür zu sieben Wochen Gefängnis verurteilt worden sei. In einem Brief an den Redakteur fragte er, ob dies stimme, ob wirklich „auf Gottes Erdboden ein solcher Schafskopf herumläuft“, der derartige Urteile spreche. Reusch verlangte, „für dieses Menschenexemplar einen besonderen Galgen auf dem Potsdamer Platz zu errichten. Dummköpfe sind in der heutigen Zeit viel gefährlicher wie Verbrechernaturen.“224 Die Zeitungsmeldung wurde richtiggestellt: Der Mann hatte keine Brotkarte verschenkt, sondern angeblich 14 Brotkarten verkauft.225 Reuschs gereizte Reaktion zeigt, wie angespannt die Ernährungslage war und wie groß deshalb die Angst der Mächtigen vor Unruhen in der Arbeiterschaft. Die Unternehmer des Reviers erwarteten – besser: befürchteten – weitere harte Arbeitskämpfe um die Herabsetzung der Arbeitszeit, Lohnerhöhungen und die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpartner. Um diese Fragen, aber auch um die Gleichstellung der Handwerker und Maschinisten mit ihren Kollegen auf den Walzwerken, ging es Ende Juli bei einer großen Arbeiterversammlung auf der Eisenhütte Oberhausen der GHH.226

Dies hing zweifellos mit der innenpolitischen Krise zusammen, die sich im Sommer 1917 immer mehr zuspitzte. Die Lage in den Industriebetrieben hatte sich nach den April-Streiks nur für kurze Zeit beruhigt; im Sommer wurde in Schlesien, wo die Gewerkschaften bis dahin kaum hatten Fuß fassen können, wochenlang gestreikt; gleichzeitig traten, nach dem Mitgliederschwund der ersten Kriegsjahre, die Arbeiter wieder massenweise in die streikbereiten Gewerkschaften ein, und dies stand in direktem Zusammenhang mit einem rasanten Mitgliederschwund bei den „Gelben“; zwar meinte die politische Rechte mit dem Rücktritt des „schlappen“ Reichskanzlers Bethmann Hollweg einen Erfolg verbuchen zu können, aber wenige Tage später setzten SPD, Zentrum und ein Teil der Liberalen im Reichstag die Friedensresolution durch, was die Oberste Heeresleitung und die Herren der Schwerindustrie in höchstem Maße empörte; ihre unmittelbaren Interessen wurden noch stärker durch die „Denkschrift über die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs zur Regelung der Unternehmergewinne und Arbeiterlöhne“ berührt, die General Groener, der Chef des Kriegsamtes, Ende Juli 1917 dem neuen Reichskanzler überreichte; der Zorn der Mächtigen in Militär und Industrie richtete sich deshalb nach Bethmanns Sturz vor allem gegen das Kriegsamt, das seine Kompetenzen in Konkurrenz mit dem Kriegsministerium und der OHL angeblich zu stark ausgeweitet hatte, und gegen General Groener, der als Leiter des 1916 eingerichteten Kriegsamtes immer auf die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gesetzt hatte. Noch im August 1917 setzten Groeners Gegner seine Entlassung durch.227

Die miserable Stimmung in der Zivilbevölkerung nahm Carl Duisberg, der Generaldirektor der Bayer-Werke in Leverkusen, im August 1917 zum Anlass, zwanzig führende Industrielle von Rhein und Ruhr, u. a. Reusch, zu einer Besprechung in den Industrieclub zu Düsseldorf einzuladen. In der Liste der bekannten Namen fehlte nur Stinnes, aus welchem Grund auch immer. Neben den Unternehmern waren acht Offiziere, u.a. der mächtige Oberstleutnant Bauer von der Obersten Heeresleitung eingeladen, aber bemerkenswerter Weise kein Zivilist als Vertreter der Reichsregierung. Duisberg kritisierte in seiner Begrüßungsansprache zunächst die deutschen Friedensangebote, vor allem das jüngste des Reichstages, die von den Gegnern alle nur „als Schwäche ausgelegt worden“ seien. Duisberg meinte zu wissen, dass die Stimmung an der Front immer noch gut sei: „Militärisch steht es sehr gut. Der U-Boot-Krieg übt … seine Wirkung aus.“ Die schlechte Stimmung in der Heimat dagegen habe verheerende Auswirkungen auf die Arbeitsleistung in den Fabriken. Hauptgrund dafür sei die mangelhafte Ernährung, obwohl die Lage durch die neue Ernte „bedeutend besser geworden“ sei. Als weiteren Grund der Unzufriedenheit erwähnte Duisberg kurz Überstunden und Sonntagsarbeit, um dann lang und breit über die schädlichen Auswirkungen des Hilfsdienstgesetzes zu klagen. Für die Unternehmer besonders ärgerlich war der § 9 dieses Gesetzes, der zwar den Arbeitern Beschränkungen beim Arbeitsplatzwechsel auferlegte, ihnen aber gleichzeitig ein Beschwerderecht vor einem von Arbeitgebern und Gewerkschaften paritätisch zu besetzenden Schlichtungsausschuss einräumte. Duisberg sah in diesem Paragraphen nur „den Ausgangspunkt für die Agitationstätigkeit der Gewerkschaften und für alle möglichen Bestrebungen, auch den Arbeitgebern Verpflichtungen aufzuerlegen“. Durch die Karenzzeit von zwei Wochen gebe man „den renitenten Leuten Gelegenheit, sich durch Wechsel der Arbeitsstelle ohne Abkehrschein einen 14-tägigen Urlaub zu verschaffen“. Auch die im Hilfsdienstgesetz vorgeschriebenen Arbeiterausschüsse in den Betrieben dienten nur den Gewerkschaften als Forum für ihre Agitationstätigkeit. Ganz am Ende seiner Ansprache ging Duisberg auf den verbreiteten Ärger über die hohen Kriegsgewinne ein, ohne allerdings die im Kriegsamt verfasste Denkschrift ausdrücklich zu erwähnen. An der Höhe der Gewinne selbst hatte er nichts auszusetzen, er betonte im Gegenteil, dass Gewinne und Dividenden dem Staat durch höhere Steuereinnahmen nutzen würden; er bat seine Unternehmerkollegen nur darum, bei den Dividenden die Wirkung in der Öffentlichkeit im Auge zu behalten und möglichst das Niveau der Friedensdividenden nicht zu überschreiten. In der anschließenden Aussprache empfahl Reusch, „die Aufhebung des § 9 eventuell durch den Bundesrat vornehmen zu lassen“, musste darauf aber die Belehrung eines anwesenden Amtsrichters hinnehmen, dass dies verfassungsrechtlich gar nicht zulässig sei. Nur der Braunkohlenindustrielle Silverberg plädierte vorsichtig dafür, mit den Gewerkschaften Fühlung aufzunehmen, da eine Verbesserung der Stimmung in der Arbeiterschaft nur zu erreichen sei, wenn die Gewerkschaften mitwirkten. Er erntete damit in der Runde massiven Widerspruch. Die Niederschrift verzeichnet eine weitere Wortmeldung von Reusch, ohne jedoch festzuhalten, zu welchem Thema er sich äußerte.228

Somit darf man wohl annehmen, dass er die in der Runde vorherrschende Meinung teilte: D.h. er glaubte auch nach drei Kriegsjahren und nach dem Kriegseintritt der USA noch an den Sieg; er lehnte jegliche Friedensangebote ab; obwohl er es durch seine Tätigkeit im Kriegsernährungsamt besser wissen musste, widersprach er nicht, als Duisberg von einer Verbesserung der Lebensmittelversorgung sprach; er war gegen jegliche Zugeständnisse an die Gewerkschaften; er hatte an den hohen Kriegsgewinnen im Prinzip nichts auszusetzen und er sagte nichts zur Verteidigung seines schwäbischen Landsmannes Groener, den er doch für einen „prächtigen Menschen“229 hielt.

Die Industrie stand keineswegs einmütig in Opposition gegen General Groener; vor allem in der verarbeitenden Industrie, aber nicht nur dort, gab es durchaus Sympathien für seine Strategie der Einbindung der Arbeiterschaft. Zu seinen Verbündeten zählten der Berliner Industrielle von Borsig und in Süddeutschland MAN-Chef von Rieppel sowie Dr. Sorge von der Firma Krupp.230 Unter den im Düsseldorfer Industrie-Club Anwesenden zeigte Reuschs Kollege Silverberg, später immer als enger Freund des GHH-Chefs bezeichnet, Rückgrat, als er seine abweichende Meinung zum Ausdruck brachte. Reusch trat ihm im Kreise der führenden Industriellen des Rhein-Ruhr-Reviers nicht zur Seite. Deshalb liegt der Schluss nahe, dass er sich ohne Vorbehalte mit dem harten Kurs der Schwerindustrie und der OHL identifizierte.

Die Tatsache, dass diese Besprechung stattgefunden hatte, blieb natürlich nicht geheim. Der Reichstagsabgeordnete Scheidemann (SPD) war offenbar gut informiert: Er wies bei der Debatte im Hauptausschuss des Reichstags auf den Zusammenhang zwischen der Denkschrift des Kriegsamtes über die Kriegsgewinne, der im Industrieclub laut gewordenen Kritik und der Entlassung Groeners hin.231 Auch im „Vorwärts“ äußerte sich Scheidemann zur Entlassung Groeners, der keineswegs „freiwillig“ gegangen, sondern durch eine Intrige der Obersten Heeresleitung gestürzt worden sei, weil er das Haupthindernis für eine Revision des Hilfsdienstgesetzes darstellte. Die von Duisberg ausgegangene Einladung zu der Besprechung vom 19. August beweise eindeutig, dass in den Kreisen der Industriellen schon bekannt war, dass Groeners Tage als Leiter des Kriegsamtes gezählt waren.232 Duisberg antwortete auf Scheidemanns Vorwürfe im Hauptausschuss des Reichstages mit einer öffentlichen „Richtigstellung“: Abgesehen davon, dass derartige Vorwürfe ihm einen Einfluss zuschrieben, den er nicht besitze, stellte er fest, dass er mit Groener immer bestens zusammengearbeitet habe und den General nach wie vor persönlich sehr schätze. Ein Wort des Bedauerns über seine Entlassung findet sich in der Gegendarstellung jedoch nicht.233 Über die von den Unternehmern geforderte Novellierung des Hilfsdienstgesetzes wurde in den folgenden Monaten zäh verhandelt. Industrie, Militärbehörden und Reichsregierung konnten sich aber nicht auf eine Gesetzesvorlage einigen.

Es gab im letzten Kriegsjahr verstärkt Kontakte der Gewerkschaften mit Großunternehmern, die die Zusammenarbeit der Arbeiterführer bei der Demobilisierung nach Kriegsende suchten. Ab dem Sommer 1918 wurde in diesen Gesprächen auch das Thema Arbeitszeit immer wichtiger. Bei allen diesen Kontakten mit den Vertretern der Arbeiterschaft spielte Reusch keine Rolle. Er mag die de-facto-Anerkennung der Gewerkschaften als Verrat an den wirtschaftsfriedlichen Werkvereinen aufgefasst haben. Mit diesem Argument jedenfalls begründete er im November 1918 seine harte Kritik an der Zentralarbeitsgemeinschaft von Unternehmern und Gewerkschaften.234

Nicht weniger katastrophal als die Lebensmittelnot wirkte sich nach drei Jahren Krieg der Kohlemangel aus. Wieland berichtete seinem Kollegen Reusch im August 1917 von einer sehr hitzigen Debatte im württembergischen Landtag, bei der die mangelhafte Kohleversorgung Süddeutschlands einmütig kritisiert worden war. Reusch antwortete – am selben Tag, an dem er die Niederschrift von dem Treffen im Düsseldorfer Industrie-Club erhielt – in einem elfseitigen Schreiben, bei dem am Ende sein ganzer Ärger über die Zugeständnisse an die Arbeiter und die Friedensresolution des Reichstags vom Juli durchbricht. Inhalt und Stil seiner Äußerungen sind entlarvend und müssen deshalb im Originalton wiedergegeben werden. Nach dem einleitenden Hinweis auf seine eigenen Vorschläge für die Kohleverteilung, die aber „Excellenz Gröner“ in den Wind geschlagen habe, erläutert er lang und breit die Transportprobleme auf der Schiene und auf dem Rhein. 45.000 gelernte Bergarbeiter, davon die Hälfte aus dem Ruhrrevier, seien bereits vom Militärdienst freigestellt worden. Genau dort aber, bei den Arbeitern, lag nach Reuschs Überzeugung das Problem: „Notwendig ist nun aber vor allem, dass die Arbeiter etwas in die Hände spucken und mehr als bisher ihre Schuldigkeit tun. Hätten wir heute die Friedensleistung eines Bergarbeiters, so könnten wir spielend 20–25% mehr Kohle fördern! Diese Mehrleistung kann erreicht werden, wenn die Behörden die systematische Verhetzung der Arbeiterschaft nicht wie bisher weiter unterstützen. Meines Erachtens ist schuld an der ganzen Misere die vollständig verfehlte Behandlung der Massen und der Arbeiter und insbesondere der Arbeiterführer, die unter dem Vorwande, nationale Politik zu treiben, ihre ganze Tätigkeit darauf richten, Unruhe und Unzufriedenheit in die Arbeiterschaft zu tragen.“ Und einmal in Fahrt, nahm Reusch anschließend die Politiker von SPD und Zentrum aufs Korn: „Ebenso wie die schwarzen und roten Brüder die Verhältnisse hinter der Front auf das allerungünstigste beeinflussen und uns das wirtschaftliche Durchhalten erschweren, werden sie schließlich durch ihr ewiges Friedensgerede und durch die unglückseligen Verhandlungen im Reichstag … erreichen, dass wir einen schmählichen Frieden schließen. Deutschland mag zu Grunde gehen, wenn nur die schwarze und rote Internationale triumphiert.“235 Ganz am Ende kommentiert er noch kurz General Groeners Abgang: Dieser sei „persönlich zweifellos ein prächtiger Mensch, der aber an seinem Idealismus und an der teilweisen Verkennung der wirtschaftlichen Verhältnisse scheiterte.“ Einzelheiten zu seinem Abtritt wollte er aber nur mündlich mitteilen.236

Dem General „Idealismus“ zu attestieren, war kein Kompliment. „Idealismus“ war für Reusch gleichbedeutend mit „Naivität“. „Realisten“ im Gegensatz dazu hielten, in Reuschs Weltsicht, an den extremen Annexionsforderungen fest und lehnten im Innern jegliche Zugeständnisse an die Gewerkschaften ab.

In beflissenem Ton pflichtete Wieland seinem mächtigen Unternehmerkollegen aus dem Ruhrgebiet bei: „Je höher die Löhne steigen, desto geringer wird die Leistung.“ Zu Reuschs Informationen über die Ernährung der Bergarbeiter meinte er: „Diese sind sogar in dieser Richtung bevorzugt und es ist daher umso unverantwortlicher, wenn sie so wenig leisten.“ Diese Tatsache sei in der Öffentlichkeit nicht bekannt. „Landauf wie landab ist die Ansicht verbreitet, dass überall die Minderleistung auf die mangelhafte Ernährung zurückzuführen sei.“237

Wieland revanchierte sich durch Stimmungsberichte aus Süddeutschland, die allerdings wenig beruhigend gewirkt haben dürften. Die „Missstimmung“ gegen Preußen wegen des Kohlemangels, der neuen Kriegsanleihe, aber auch wegen provozierender Äußerungen von Stinnes wachse ständig. Stinnes hatte angeblich eine ungeschickte Bemerkung über die „Ausschaltung der süddeutschen Industrie“ bei Kriegslieferungen gemacht.238 Reusch gelang es sicherlich, den Zorn seines württembergischen Kollegen zu dämpfen, als er sich Anfang November einen ganzen Tag Zeit nahm, um ihm die Werke der GHH in Oberhausen zu zeigen.239

Das Walzwerk Neu-Oberhausen war vermutlich nicht Teil des Besuchsprogramms. Denn wie schon im Sommer wurde dort in diesen Tagen der nächste erbitterte Arbeitskampf ausgetragen. Betriebsdirektor Dr. Ernst Lueg hatte für Sonntag, den 4. November 1917, Nachtarbeit angeordnet. Als der Arbeiter-Ausschuss seine Zustimmung verweigerte, kam es als Folge zu einem Produktionsausfall von 200 Tonnen Rohstahl für Granaten – für Lueg Anlass für eine bittere Klage über die schlimmen Folgen des Hilfsdienstgesetzes: „Im vergangenen Jahr, als noch kein Arbeiterausschuss eingesetzt war, haben die Arbeiter des Stahlwerks ohne jeden Einspruch an etwa 25 Sonntagen nachts gearbeitet.“240 Woltmann nahm sofort Kontakt auf mit dem Generalkommando, um die Einberufung streikender Arbeiter zu erreichen. Die Militärs zögerten jedoch, nachdem sie ihrerseits zwei Abgesandte des Arbeiterausschusses in Münster empfangen und eindringlich ermahnt hatten, und sandten einen Offizier nach Oberhausen. Ihm gegenüber vertrat Woltmann „nochmals scharf den Standpunkt, … dass eingezogen werden muss“.241 Er hatte zuvor von den dringend benötigten Facharbeitern und Maschinisten, die auf Drängen der Unternehmer vom Militärdienst freigestellt worden waren, „28 Mann aufgegeben“.242 Das Ersticken von Streiks durch Einziehung der Streikführer zum Militärdienst – das dürfte den Arbeitern ein Jahr später, als der Krieg zu Ende war, noch gut in Erinnerung gewesen sein!

Die Verbitterung in der Arbeiterschaft ließ sich im vierten Kriegswinter auch durch zusätzliche freiwillige Leistungen für die Wohlfahrtseinrichtungen des Konzerns nicht mehr besänftigen. Der Geschäftsbericht verzeichnete 11,7 Millionen Mark (499,70 Mark pro Kopf der Belegschaft) – in bereits inflationiertem Geld – für diesen Zweck. Reuschs Freund Wieland, der den GHH-Geschäftsbericht auch erhalten hatte, gratulierte allerdings ausschließlich zu dem „außerordentlichen Aufschwung des ganzen Unternehmens im letzten Kriegsjahr“.243

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch

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