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SÄKULARISIERUNG DER GESELLSCHAFT UND „ETWAS-ISMUS“?

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Die „Stadt ohne Gott“ („the secular city“) war für die religiöse Gegenwartsanalyse des amerikanischen Theologen Harvey Cox bereits in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Realität (Cox 1969). Doch heute ist eine gegenläufige Tendenz sichtbar: Viele Menschen in Deutschland bezeichnen sich noch „irgendwie“ als religiös – nach dem Religionsmonitor 2008 sind es immerhin 70 % der Befragten (Religionsmonitor 2008; vgl. Religionsmonitor 2013). In manchen Ländern sind die Zahlen höher (USA und Indien über 90 %), in anderen geringer (Frankreich 40 %). Befinden wir uns deshalb gar nicht, wie vermutet, in der Säkularität, sondern in einem Prozess der „Desäkularisierung“ (Berger 1999)? Wird also unsere Gesellschaft nicht immer säkularer, sondern, im Gegenteil, immer religiöser?

Viele Religionssoziologen sind der Auffassung, dass die Säkularisierungsthese – Modernisierung führt automatisch zur Säkularisierung – nicht mehr haltbar ist (u.a. Berger/Pollack 2013; Gabriel 2011; Joas 2012, S. 16). Doch kann von einer vieldiskutierten „Wiederkehr der Religion“ keine Rede sein, denn diese Begrifflichkeit suggeriert, dass etwas so wiederkommt, wie es vorher war (zusammenfassend und Überblick zur Diskussion: Altmeyer 2013a). Das „christliche Abendland“ im Sinne einer kirchlich und politisch gestützten christlichen Einheitskultur kehrt gewiss nicht wieder, auch dann nicht, wenn in Europa auf neue Weise religiöse Elemente in der Gegenwartskultur auffindbar sind und man von einer „neuen Sichtbarkeit von Religion“ sprechen kann (Hoburg 2010). Prozesse der Pluralisierung des Religiösen in unserer Gesellschaft, religiöse Individualisierung und Detraditionalisierung im Sinne einer Abkehr von institutionell verfasster Kirchlichkeit sind unumkehrbar.

postsäkulare Gesellschaft

Dennoch, bei einer religionssensiblen Betrachtung der Gegenwartslage kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir uns in den westlichen Gesellschaften (Europa und USA) in einer „postsäkularen“ Situation befinden (Basisthese: Habermas 2001; s. auch Habermas/Ratzinger 2005; religionsphilosophische und theologische Weiterführung der Diskussion v.a. bei: Höhn 2010, 2007; Johannsen 2010; Walter/Eckholt 2007). Religion und Religiosität, so die grundsätzliche These, sind gesellschaftlich keine marginalen Phänomene (Religionsmonitor 2013, 2008). Sie sind nicht kirchlich gebunden, sondern auf neue Weise präsent, und zwar vor allem auf zwei Ebenen, der politischen, öffentlichen und der persönlichen, biografischen, privaten:

• Religion ist vermehrt präsent im öffentlich-gesellschaftlichen Bewusstsein und auf der politischen Bühne – global wie lokal. Weltweit sind Krisen und Spannungen zu verzeichnen, die religiöse Unter- bzw. Obertöne haben. Konflikte zwischen verschiedenen Religionen (z.B. im Nahen Osten, in Indien oder Afrika) sind ebenso an der Tagesordnung wie Machtkämpfe innerhalb von religiösen Großsystemen, etwa zwischen Sunniten und Schiiten. In den meisten dieser Krisensituationen sind Politik und Religion auf komplizierte Weise miteinander verquickt, klar aber ist, dass religiöse Argumente und Handlungsmotivationen nicht nur äußerlich als politischer „Vorwand“ dienen, sondern der innersten Verfassung und tiefsten Überzeugung der Handlungs- und Entscheidungsträger entspringen. Die subkutane Dimension militärisch-politischer Konflikte ist sehr häufig eminent religiös aufgeladen.

• Auch innerhalb westlicher Industriestaaten ist die öffentliche Bedeutung von Religion in den vergangenen Jahren neu bewusst geworden, insbesondere durch die Präsenz von Menschen muslimischen Glaubens. Die globalen Krisen haben nicht selten ihre lokalen Spiegelungen (z.B. in der Angst vor Terroranschlägen). Aber schon allein die friedliche Präsenz von Gläubigen und Glaubensgemeinschaften, die beispielsweise einen würdigen Versammlungsraum und Gottesdienstraum fordern, um ihre Religion frei ausüben zu können, wird zum gesellschaftlichen Diskussionsanlass, der nicht selten bis hin zu hasserfüllten und gewalthaltigen Abwehrreaktionen hervorrufen kann (z.B. beim Streit um den Moscheebau). Dabei sind nicht allein rechtsradikale Organisationen beteiligt, auch zahlreiche eher unpolitische Bürger melden sich zu Wort, weil sie sich durch die Gegenwart des Islam in ihren Ängsten bestärkt sehen.

• Doch nicht nur in öffentlichen Debatten, gerade auch im alltäglichen Leben wird den Menschen heute die religiös höchst heterogene Situation immer deutlicher. Der Arbeitsplatz ist vielfach ein Spiegel der Gesellschaft und oft genug ein deutliches Abbild der pluralen Wirklichkeit. Muslime, anders Konfessionelle, Ungetaufte gehören selbstverständlich zu den Mitarbeitern in Betrieben, Firmen und Dienstleistungsunternehmen. Auch Bildungseinrichtungen sind „multireligiös“ geworden, selbst wenn über Religion nicht viel gesprochen wird.

• Schließlich ist der zweite Bereich nicht unerheblich, der die persönliche Sphäre betrifft. Der große Anteil der Bevölkerung, der sich als „irgendwie“ religiös bezeichnet (s. oben), lebt seine Religiosität auf höchst individuelle Weise: sei es reflexiv, aktiv-praktizierend, implizit, unbewusst, reaktiv oder distanziert, aber trotzdem oft nicht uninteressiert. Nicht nur an biografischen Eckpunkten, auch im Alltag tauchen religiöse Muster im privaten und persönlichen Bereich auf, die längst nicht alle explizit werden, da Kommunikation über Religion nur von darin geübten und diskursfähigen, bildungsnahen Menschen gesucht wird. Manche Erwachsene wissen selbst nicht genau „wo bei mir Religion anfängt“ (Reese 2006), sind aber in bestimmten Kontexten und unter bestimmten Voraussetzungen bereit, darüber ins Gespräch zu kommen.

„Somethingism“ – ein neuer Glaube?

Dennoch, die meisten Menschen fühlen zwar, dass die Dimension der Religion zu ihrem Leben irgendwie dazu gehört, können dieses religiöse Gefühl aber nicht genau verorten. Sie können oder wollen sich nicht an eine bestimmte religiöse Tradition binden und geben an, dass sie an „irgendeine“ höhere Macht, an „Irgendetwas“, das unsere Welt übersteigt, glauben. Lieven Boeve spricht von „Something-ism“, „Etwas-ismus“ als einer neuen „Glaubensrichtung“ (Boeve 2012; 2007, S. 139ff.). Nicht wenige Menschen glauben an „Something“, können aber dieses „Etwas“ nicht genauer benennen. Sie geben in Befragungen an zu glauben, dass es „etwas mehr“ gibt, das die Welt und die Wirklichkeit umgreift, sind aber weder Willens noch in der Lage, dieses „Etwas“ genauer zu benennen oder gar reflexiv zu bestimmen. Dieser „Etwas-ismus“ hat die religiöse Landschaft in Europa von Grund auf verändert.

„Etwas-ismus“ ist das Resultat von Enttraditionalisierung und Pluralisierung, so lautet die zentrale These von Boeve. Die unbestimmte Akzeptanz, dass es etwas mehr geben muss als ein Leben in Zahlen und Fakten, ist deshalb weit verbreitet, weil die traditionellen Instanzen, die dieses Etwas näher charakterisierten und mit dem Gott Jesu Christi verbindlich und eindeutig identifizierten, nämlich die Kirchen, nicht mehr selbstverständlicher Ort der religiösen Identitätsbildung sind. Religiöse Identität wird heute weitgehend unabhängig von traditionellen Vorgaben gebildet. In fast allen postmodernen Milieus wird die Kirche auf dem Markt der Sinnstiftungsangebote zu einem Anbieter unter vielen (MDG-Milieuhandbuch 2013).

Einführung in die religiöse Erwachsenenbildung

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