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6. Kapitel
Unternehmen Ostpreußen

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1913

Im Juni hatte Gustav das Anwesen in Allenstein zum ersten Mal gesehen und fachmännisch in Augenschein genommen. Tief hatte er Atem geschöpft und entschieden, den großen Schritt zu tun, Anfang September mit seiner Familie nach Ostpreußen überzusiedeln. Sein Arbeitsverhältnis in Breslau kündigte er beizeiten. Bis zur Auszahlung der ersten Kreditrate sollten die Ersparnisse reichen.

Der alte vormalige Hausbesitzer hatte das Anwesen verlassen und lebte nun im Haus seiner jüngsten Tochter am anderen Ende der Stadt.

Arno hatte Gustav Matratze, Kissen und Decken gebracht, für die kommenden Wochen Schlafstätte des Freundes.

Gustav prüfte den Bestand an Farben, Lacken, Pinseln, Spachteln und Werkzeug für die Renovierung, bestellte im Ort das Fehlende und begann sein Werk.

Um die achtzehn Stunden war er täglich auf den Beinen, seine Arbeit nur für ein Schmalzbrot und ein Glas Wasser, der Pumpe im Hof entnommen, unterbrechend. Abends trank er Bier, das er aus einer Gastwirtschaft in der Nähe in einem Siphon herbeiholte, einziger Luxus in diesen Wochen. Danach schlief er tief und erquickend. An den Rhythmus aus sechs Stunden Schlaf und achtzehn Stunden straffer Arbeit gewöhnte er sich bald.

Er schleifte Fensterrahmen, reparierte, baute aus und bestellte neue Rahmen, Fenster und Türen. Morsche oder brüchige Dielenbretter und Bohlen ersetzte er fachkundig.

Spinnenweben und Staub fegte er von Decken und Wänden, wusch die alte, grau gewordene Farbe ab und strich nach dem Trocknen die gereinigten Flächen mit breitem Quast, dicken und dünnen Pinseln in gebrochenem Weiß. Fensterrahmen und Fassungen sowie die alten, noch verwertbaren Türen bemalte er in drei Brauntönen und lackierte sie später. Keller und Boden entrümpelte er bis auf ein altes, rostiges Fahrrad ohne Kette und Gummibereifung sowie einen rostigen Roller und sammelte im Hof den Abfall: angeschlagene Gläser, altersschiefe Regale, zerbrochenes Kinderspielzeug und undefinierbare Blechteile. Mit seinem Firmenlieferwagen, vom Vorbesitzer des Hauses günstig übernommen, beförderte er den Müll zur Kippe außerhalb des Ortes. Die Innenseiten des Daches sowie die Dielenbretter des Spitzbodens fegte er mit breitem, hartem Besen.

Staub rieselte in Augen und Nase, und er nieste prustend. Mit dem Jackenärmel wischte er Spinnweben fort, die sich wieder und wieder über Gesicht und Augen schmiegten. Sein blauer Arbeitsanzug war gesprenkelt von weißer Farbe. Sein Haar schützte er mit einem großen bunten Taschentuch, Knoten an den vier Ecken. Die alten ausgetretenen, vormals braunen Halbschuhe waren mit weißer Kalkfarbe und mit braunem Lack in den Farbtönen der Fenster und Türen bekleckert.

Den Außenanstrich besorgte Gustav von der Leiter aus, bis zum Abend etwa zwanzig Mal die Leiter umsetzend und mit dem Farbeimer auf- und abwärts steigend. „Gut für die Linie“, befand er, in seinen blonden Wikingerbart lachend, den er hatte wachsen lassen. „Wie ein Räuberhauptmann“, würde Ilse zu seinem verwilderten Äußeren wohl sagen. Zeit wollte er sparen, gleichzeitig den prickelnden Hauch von Abenteuer verspüren, dem er sich mit Bart, Matratzenlager, Fettschnitten und Brunnenwasser verwegen-lustvoll hingab.

Er sichtete in der Lagerhalle zugebundene, eingestaubte Papiersäcke, verschlossene Eimer und Dosen, Berge von Brettern und Bohlen, zerbrochene Dachpfannen, sonderte Ziegel und Fliesen aus, säuberte, was brauchbar und ordnete übersichtlich neu. Freier Platz für neues Baumaterial war geschaffen.

Hin und wieder reckte sich Gustav aufstöhnend, beugte seinen Körper säbelartig nach hinten, beide Hände in die Seiten gestützt, krümmte ihn nach vorn, berührte den Boden mit den Fingerspitzen und brummte beim Aufrichten erleichtert: „Ah, Wohltat.“

War ein Tagwerk vollbracht und Gustav konnte ausruhen, summten seine Beine und Arme wie sei der Horch-Motor seines Autos. Stets hatte er gern und ausdauernd gearbeitet. Aber so kräftezehrend, ohne Ruhezeiten, stunden- und tagelang wie hier, das war auch für ihn neu. Erlebte er anfangs Tiefpunkte, die klares Denken eintrübten, gewöhnte er sich nach und nach an die Belastung und erwachte morgens nach sechs Stunden Schlaf erfrischt und frohgemut. Auch der anfänglich beißende Muskelkater war verschwunden.

Gustav plante, Mitte September den neuen Besitz einzuweihen und eine Feier aufzuziehen, die sowohl Werbung als auch Kennenlernen künftiger Nachbarn, Kunden und Handwerkskollegen bringen sollte.

Mitte August bestellte er den Möbelwagen zum ersten September, sodass seine Familie das Haus vor Einweihung des Betriebes in Ruhe beziehen konnte.

In Breslau packte unterdessen die Familie die Umzugskisten. Arthur, Paul und Ilse waren eifrig und ermutigten die vom gegenwärtigen Umzugswirrwarr zunehmend entnervte Mutter. Inmitten der Kartons empfand sie als schwierig, den Kindern Mahlzeiten zuzubereiten und eine gewisse Normalität und Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie schob zurück, räumte aus, schaffte fort, beseitigte, sortierte, packte ein, aber der Eindruck von Kraut und Rüben blieb. Ilse belustigte das ‚Chaos‘ eher, sie hatte viel zu gicksen, ihre Augen leuchteten, die Schleife rutschte ihr seitlich vom Kopf, sie schien innerlich zu brennen. Kaum erwarten konnte sie die Abreise und das Wiedersehen mit ihrem Papa.

Die behelfsmäßigen Mahlzeiten gefielen Arthur, Paul und Ilse. Den rauchwürzigen Schinkenspeck aus der Hand im gegenwärtigen Umzugsgewühl hätten sie gegen keinen Schmaus am Familientisch eintauschen mögen. Sie kauten das Weiche aus den Brotschnitten, hoben die Krusten auf, um sie danach genüsslich solange durchzumümmeln, bis sie süß schmeckten. Ihre Finger glänzten von Fett, sie hatten Fettbärte, schauten sich an und wieherten vor Lachen. „Ihr Ferkel müsstet euch mal sehen“, rief Ilse übermütig: „Eure Schmutzpfoten mit Fett und eure ungewaschenen Gesichter mit Speckbärten!“

„Guck dich doch mal selber an“, maulte Arthur, der nicht immer Spaß verstand und schob seine Schmollunterlippe vor. Paul bemerkte so gelassen und erhaben über den Dingen stehend wie möglich: „Irgendwie verrückt, das alles hier, ich schmettere ein volltönendes Halleluja, wenn es geschafft ist.“ Mit dem Unterarm, die Fettfinger waren dafür nicht zu gebrauchen, versuchte er, eine blondwellige Haarsträhne aus der Stirn zu schieben. Vergeblich, sie fiel in ihre alte Lage zurück. Er schmunzelte vor sich hin und beobachtete, wie sich seine beiden Geschwister giftige Blicke zuwarfen. „Deine vollen Töne kannst du ja schon mal üben“, meinte Arthur gallig.

„Und du kannst mal üben, ab und zu Spaß zu verstehen, alter Miesepeter.“

„Angenehm, Arthur“, sagte Arthur zu Paul.

Hermine, die im Hintergrund dem geschwisterlichen Geplänkel gelauscht hatte, zitierte: „Ihr Kindlein, liebet einander“ und griente belustigt.

„Genau“, fand Ilse und streckte Arthur mit verdrehten Augen und bestätigendem Kopfnicken die Zunge raus.

Ilse, je näher der Umzugstermin kam und die kaum abwarten konnte, ihren Papa endlich wiederzusehen, war nur noch mühsam zu bändigen.

In diesem angespannten Gewirre erwies sich Pauls Gabe als nützlich, wie sein Vater den Überblick zu bewahren und Dinge in sinnvoller Reihenfolge besonnen zu tun. Mit stillem Einfühlungsvermögen und Takt gab er der Mutter manch nützlichen Tipp. Vor allem nahm er ihr, wie seit früher Kindheit, das Fegen und Wischen ab.

Er hatte nicht vergessen, wie in seinen jungen Lebensjahren zahlreiche Augen-Operationen die Kräfte seiner Mutter bis an deren äußerste Grenze aufgesogen hatten. Auch wenn ihn keine Schuld traf, war er doch Ursache von viel Leid, Sorge und Mühsal gewesen. Damals gelobte er, die großen Mühen seiner Mutter, am Ende mit Erfolg gesegnet und ihm ein Mindestmaß an Sehfähigkeit für ein halbwegs normales Leben bescherend, im Gedächtnis zu bewahren und durch Gegenliebe in seinem ganzen Leben, soweit möglich, gutzumachen. Dieses Versprechen, sich selbst gegeben, trug er tief und ernst in seinem Herzen.

Ab Anfang September enthielten die zwei wichtigsten Zeitungen der Stadt Anzeigen seines Unternehmens, der Baustoffhandlung Gustav Freund, der nicht nur Baumaterial im Groß- und Einzelhandel, sondern auch Dienstleistungen, wie Verfliesen, Kacheln und entsprechende Reparaturen anbot. Er lud die Inhaber von Handwerksbetrieben mit ihren Ehefrauen und Kindern, sowie den Bürgermeister und Pfarrer seiner Kirche zu seiner Eröffnungsfeier am 15. September mit einem persönlich gehaltenen Schreiben ein.

Dreißig Personen meldeten sich an, einschließlich der Ehefrauen und Kinder.

Gustav glühte vor Freude und Erregung, seine Hände zuckten in die Hosentaschen und zurück, seine Füße tänzelten eigenmächtig, als er am Bahnhof seine Familie erwartete. Immer und immer wieder schaute er angespannt in Richtung des erwarteten Zuges. Sein Haar, vom Wind zerzaust, strich er wiederholt zurück. Die leicht säuselnde Brise verwehte seine Frisur sogleich von neuem.

Als der Personenzug mit Hermine und den Kindern eintraf, hörte er: „Mein Papi“, Ilse stürmte los und hing an seinem Hals. Hermine umarmte ihn warm und liebevoll. Arthur verzog, seinem Vater herzhaft die Hand reichend, seine Mundwinkel nur zu einem sparsamen Lächeln, von Mann zu Mann sozusagen, auszudrückend, wie das Gewirbel seiner kleinen Schwester ihm, dem mannhaften Fünfzehnjährigen, hochgradig peinlich und zuwider war. Paul mit seiner Brille lächelte seinen Vater auf seine stille Art offen und glücklich an. Gustav drückte ihn wie einen zerbrechlichen, kostbaren Schatz behutsam an sich.

„Seid willkommen, meine Guten“, sagte Gustav, sich verdächtig räuspernd. Tief gerührt, sein geliebtes Rudel endlich wieder bei sich zu haben, bröckelte seine Stimme bedenklich.

Mit seinem Horch fuhren sie zu ihrem Haus, dass die Familie erstmals sah.

Er war herzensfroh, mit seiner Arbeit so vorangekommen zu sein, dass das Anwesen wie neu vor ihnen stand: Die Außen- und Innenwände strahlend weiß, Fenster und Türen erneuert und aufgefrischt, die Dielen braun und blank.

Seine Freunde Arno und Lore hatten zur Begrüßung seiner Familie eine Girlande aus Fichtenzweigen mit Astern und Zinnien-Blüten geflochten mit einem Schild „Herzlich Willkommen im eigenen Heim.“

Mit einladender Handbewegung stellte sich Gustav seitwärts zum Eingang, verneigte sich tief und sagte ehrerbietig: „Treten sie näher, meine Herrschaften.“

„Oh, ich bin eine Herrschaft“, tönte Ilse begeistert, erhob ihren Kopf königinnengleich und stolzierte gravitätisch, mit ihrem kleinen Hinterteil wackelnd, an Gustav vorbei. Nur Arthur konnte darüber nicht lachen.

Gustav durchschritt zusammen mit Hermine die Räume, die Kinder preschten voraus und musterten bereits die kleinen oberen Stuben, die wie Kinderzimmer aussahen. Sie liefen in den Keller, die Waschküche, sausten über den Hof in die offenstehende Lagerhalle, dann hinter das Haus und betrachteten den großen Garten. Sie hätten vom tagelangen Packen und der weiten Fahrt müde sein müssen, waren aber nun, nach all den Eindrücken der langen Fahrt und dem Anwesen vor ihnen vollkommen überwältigt.

Großen Jubel löste die Wasserpumpe im Hof aus, der steinerne Trog, innen halbrund, mit klarem Wasser gefüllt. Arthur bewegte den geschweiften Eisenschwengel, ein breiter Strahl Wasser quoll aus der Traufe und ergoss sich in den Steinbehälter. Mit der Hand schöpften die Kinder von dem Wasser und schlürften es durstig. Mit nassen Händen fuhren sie sich durch ihre Gesichter, quietschten feuchtglänzend vor Vergnügen und bespritzten einander.

„Papa, schön ist das hier“, rief Ilse mit ihrer hellen Stimme, „ganz, ganz wunderschön!“

„Und wie gefällt es euch, meine Herren?“, fragte Gustav seine Söhne, denen Wasser aus den Haaren auf die Hemden tropfte.

„Gut“, knurrte Arthur mit seiner Stimmbruchstimme, die noch von kinderhell zu Männerbass unkontrolliert auf und ab hüpfte und gerade wieder bei knurrigem Bass angekommen war. „Ganz gut“, steigerte er sich und seine Stimme hopste aufwärts.

„So viel Platz“, strahlte Paul. „Der Brunnen vor dem Tore, der große Garten! Herrlich die alten Bäume, aber alles andere auch.“ Sein Gesicht glänzte nass und bezaubert, obgleich er ebenso müde war wie die anderen.

Hinter dem Haus entdeckten sie das Häuschen mit dem ausgesägten Herzen in der Tür aus braunem Holz, glänzend lackiert und dem Duft frischer Holzfarbe.

„Wahnsinn!“ Arthur hatte sich für eine Sache selten so begeistert. Er riss die Tür auf und gebot: „Ihr bleibt draußen!“ Die Geschwister standen vor der innen verriegelten Tür und fingen an, von einem Bein auf das andere zu treten.

„Beeil dich, lahme Ente“, rief Ilse drängelnd und übermütig.

Als Arthur wieder raustrat, grinste er aufgeheitert und meinte: „Das ist doch mal was!“ Die Holzbank im Inneren war in der Mitte rund ausgeschnitten, weich geschmirgelt und hatte einen abnehmbaren Holzdeckel mit Handknauf zum Anfassen. Unter dieser Bank, vorn mit Holz verschalt, stand eine Zink-Wanne, die von Zeit zu Zeit ganz hinten im Garten auf dem Komposthaufen, geschichtet mit Torf und Küchenabfällen, zu entleeren war. Aber auch Bauern der Umgebung waren am Inhalt der Wanne interessiert und holten ihn auf Wunsch ab, wie Gustav erläuterte. Dabei grinste er Hermine an, die das ganze Arrangement im Moment, besonders aber die aufgekratzte Reaktion der Kinder, zum Kringeln fand und sich buchstäblich schieflachte: Sie stand mit überkreuzten Beinen, seitlich schräg gehaltenem Oberkörper da und sauste nun ihrerseits hinter die Herzchen-Tür. Dass alles auch eine Kehrseite hatte, die keineswegs nur lustig war, sollte die Familie im Winter bei Minustemperaturen noch rechtzeitig erfahren. Im Moment überwog die allgemeine Witzelei.

Während sie das Innere des Hauses anschauten, traf der Möbelwagen ein. „Klappt ja perfekt“, fand Gustav hochzufrieden.

Die Möbelpacker trugen die Schränke, Bettgestelle, Tische und Stühle an ihren Platz und stellten die Kisten in die markierten Räume. Gustav und Hermine richteten die Betten für die Kinder. Gustav hatte auf dem vorhandenen Kohleherd eine Kartoffelsuppe mit kleingeschnittener Fleischwurst zubereitet.

Die Familie nahm an ihrem alten Küchentisch, auf ihren gewohnten Stühlen in ihrem ersten eigenen Haus Platz. Der Vater füllte jedem mit der alten Familienkelle Suppe auf den Teller, setzte sich, sprach das Tischgebet, sie reichten einander die Hände, und er wünschte seiner Familie einen gesegneten Appetit.

Diese erste Mahlzeit im neuen Leben hatte einen besonderen Geschmack. Sie schmeckte nach Hoffnung, nach Zukunft, nach dem ganz einzigartigen Gefühl, in einem Familiennest warm aufgehoben und auf eine unvergleichliche Weise geborgen zu sein. Sie würden diesen Abend, dieses erste Mahl im eigenen Haus mit Vaters Kartoffelsuppe nie vergessen.

„Unser neues Zuhause“, sagte Gustav, stolz, bewegt und vollkommen glücklich. „Danke euch für eure Umzugs-Plackerei. Bin froh, dass wir dieses Stück Wegstrecke geschafft haben.“ Gustav schaute seine Lieben an. Seine Kinder hatten Augenränder von der Anstrengung der vergangenen Tage, ihre Wangen waren gerötet von der Aufregung und der heißen Suppe, die ihnen schmeckte und guttat. Hermine hatte müde Augen, aber Erwartung und Wiedersehensfreude hatten sie ebenfalls wieder aufgemöbelt. Mit ihren graugrünen Märchenaugen schaute sie in die Runde, dann aus dem Fenster, das den Blick zum großen Garten freigab. Sie lächelte beim Schauen und Essen zu Gustav hin. „Wie fleißig du warst, wie viel du geschafft hast! Du musst doch völlig erledigt sein!“ Gustavs Gesicht leuchtete bei diesem Lob von Hermine. Im Augenblick war er viel zu glücklich, um noch an irgendeine Art von Anstrengung aus der zurückliegenden Zeit zu denken.

Die Kinder bekamen zur Feier des Einzugs Zitronensprudel, den Ilse wegen der perlenden Kohlensäure ‚Kitzelbier‘ nannte.

Die Müdigkeit kam nach dem Essen ganz plötzlich. Die Augen fielen Ilse zu und beinahe wäre sie von ihrem Stuhl gerutscht. Arthur und Paul waren sehr still geworden. Versponnen wie im Traum glänzten ihre Augen, Pauls Kopf tunkte einige Male vor und zurück. Ihr Atmen klang wie Schlafen.

„Schlaft schön in eurer ersten Nacht in der neuen Heimat. Und merkt euch, was ihr träumt. Vielleicht geht es in Erfüllung.“ Diese geflüsterten Worte der Mutter hörten die Kinder nicht mehr. Der Schlaf hüllte sie bereits ein. Als Gustav und Hermine wieder in ihrer Wohnküche ankamen, war oben in beiden Kinderzimmern vollkommene Stille.

Gustav und Hermine tranken noch ein Glas Wein zusammen. Die erste Nacht im neuen Heim war für sie inniger als ihre Hochzeitsnacht. „Meine süße Liebste“, sagte Gustav zart, als Hermine später ihren Kopf in seine Armbeuge bettete. Halb schlief sie schon, als sie „Mein lieber, guter Gustav“ murmelte.

Die Einweihungsfeier war Neuland für Hermine und Gustav. Eine schöne Feier sollte es werden. Viel kosten durfte sie nicht. „Wann werde ich unser erstes Geld verdienen?“, sagte er. „Das ist die große Frage und Unbekannte.“ Die Schulden wollten sie so niedrig wie möglich halten.

„Mein Vorschlag“, sagte Hermine, „wir machen das meiste selbst und leihen, was wir sonst kaufen müssten.“

„Meine Idee wäre ein Spanferkel. Vielleicht kann uns der Fleischer einen Drehspieß leihen.“

„Das Sauerkraut koche ich auf schlesische Art. Die Bauernsemmeln kann ich selbst backen, die Kuchen sowieso. Ein saftiger Kartoffelsalat müsste auch noch zu schaffen sein.“ Gersten- und Bohnenkaffee würden sie in Kannen mit Kaffeemützen auf die Tische stellen.

Sie platzierten zwei Sägeböcke im Abstand von einigen Metern, legten dazwischen feste, breite Bohlenbretter, deckten das Ganze mit weißen Bettlaken und kleinen quadratischen, von Hermine in ihrer Jugendzeit gestickten Tischdecken. Der Wirt aus der nahen Gaststube hatte ihnen einige Stehtische, Sektgläser sowie Bierkrüge mit Zinndeckeln geliehen. Sie erwarben bei ihm das Bier in Dreilitersiphons sowie Sekt und Wein. Auf die Tische verteilten sie kleine Vasen mit Astern, Zinnien und Dahlienblüten.

Als am Spätnachmittag die Gäste eintrafen, wehte ihnen ein Hauch frischen Hefe-, Apfel- und Mohnkuchens sowie der Duft goldblonder Hefesemmeln entgegen und mischte sich mit dem von würzig dampfendem Sauerkraut und dem knusprig braunen Spanferkel am Drehspieß, dessen Fett dann und wann zischend ins Holzfeuer tropfte, die glühende Asche zu rotglühendem Wirbel aufstiebend.

Auch nicht geladene Gäste, von den Wohlgerüchen angelockt, kamen herbei.

Lore, Arnos Frau, brachte Utensilien für Kinderwettspiele, neue Säcke zum Sackhüpfen, gekochte Eier und große Löffel für Eierwettläufe, ein buntes Tuch für Blindekuh. Hermine hatte zusammen mit Ilse Papierwundertüten vorbereitet, in die sie kleine Geschenke für die Schule, wie Buntstifte, Bleistifte, Radiergummi, Anspitzer gegeben hatten. Dazu Karamell-Bonbons, Lakritz-Schnecken, Marzipan-Kugeln und bunte Glaskugeln für das Schippel-kugelspiel, das bei den Mädchen gegenwärtig die Nummer Eins war. Bei diesem Spiel ging es darum, als erster seinen Anteil Kugeln in eine kleine Erdhöhle nur mit Daumen und Zeigefinger zu ‚schippeln‘, wie sie in Breslau oder ihrer alten sächsischen Heimat sagten.

Als um die dreißig Gäste eingetroffen waren, schenkten Hermine und Arthur den Sekt ein und reichten die Gläser auf Tabletts herum.

Die Kinder, fünf Mädchen und drei Jungen waren gekommen, bekamen in bunten Gläsern roten, frisch zubereiteten Saft aus letzten Himbeeren und ausgereiften Brombeeren, von Arthur und Ilse am Vortag am nahen Waldrand gepflückt, der ihnen herrlich schmeckte. Der große runde Glaskrug musste wiederholt nachgefüllt werden. Paul hatte Hermine beim Backen geholfen.

Gustav begrüßte die Gäste und unterstrich, wie wichtig für ihn und seine Familie ihre Unterstützung beim Start sein würde. „Mein Herz klopft schneller, wenn ich insbesondere an die nähere Zukunft denke, bis mein erster Kunde hier eintrudelt. Bis dahin werde ich wie eine Spinne im Netz auf mein erstes Opfer warten.“ Er erläuterte, was er anzubieten haben werde, Baustoffe aller Art mit seinem Schwerpunkt Ziegel, Klinker, Kacheln und Fliesen, aber ebenso Edelhölzer aus Süd-Amerika und Asien, Marmor aus Italien, selbstverständlich auch weißen Carrara-Marmor.

Der Bürgermeister wünschte ihm und der Familie Glück und Erfolg und versprach seine Unterstützung.

Gottes Segen erbat der Pfarrer von oben, mit dem Zeigefinger zum Himmel weisend, für das mutige Unternehmen der Familie.

Die Stimmen wurden im Laufe des Spätnachmittags in dem Maße lauter, wie der kugelige Glaskrug mit der Bowle sich leerte und die leeren Biersiphons zunahmen. Das Feuer war heruntergebrannt, die Buchenscheite schwarz geworden mit einem silbrig-porösen Aschepelz. Unter ihnen glomm ein Rest orangeroter Glut. Das Spanferkel, ein Skelett aus Kopf, Wirbelsäule und Knochen, wurde nur noch von knusprigen Hautlappen zusammengehalten, auf die Arthur und seine neuen Freunde bereits ein Auge geworfen hatten.

Hermine lud die Kinder zu Wettspielen ein, mit denen die kleinen Gäste die vielsagenden Wundertüten gewinnen konnten, die auf einem kleinen Tisch auslagen und die Neugier der Kinder anregten. „Was da wohl drin ist?“, fragte die kleine stupsnasige Tochter des Bürgermeisters, braunhaarig mit zwei dicken Zöpfen, mit rosa Schleifen zusammengebunden. Ilse zuckte, scheinbar nichtsahnend mit den Schultern, vielsagend und sich windend verdrehte sie die Augen. Natürlich würde sie nichts verraten.

Die Kuchentabletts hatten sich geleert. Fröhlich hatten die Kinder zugegriffen. Sie hatten rote Saft- und braune Kaffeebärte, Zucker und Kuchenkrümel hingen auf ihrer Kleidung, an Lippen und Wangen. Die Mütter hatten aufgehört, ihre Kinder mit Taschentüchern und Spucke zu bearbeiten.

Die Sahneschalen enthielten noch Überbleibsel. Die Geschwister hofften, niemand, außer ihnen, möge die Reste in den Schüsseln bemerkt haben und freuten sich auf das Ausschlecken später, unbeobachtet, natürlich mit den Fingern oder direkt mit der Zunge, soweit der Kopf in die Schale passte. Ilse rechnete sich gute Chancen aus.

Alle Kinder freuten sich auf die Spiele, bei denen sie endlich die kleinen, geheimnisvollen Wundertüten gewinnen konnten.

Jeweils zwei und zwei hüpften in einem unter den Armen zugebundenen Sack um die Wette, von der Start- zur Ziellinie. Der erste hatte seine Tüte sicher. Dann folgte der Eierlauf. Auf einem Esslöffel musste das Ei bei dem Wettlauf balanciert werden. Wer die Ziellinie mit Ei auf dem Löffel als erster erreichte, war Sieger und Gewinner einer Wundertüte. Danach durfte sich jeder sein Lieblingsspiel wünschen.

Ilse entschied sich für ein Ballspiel, das jeweils zu zweit gegeneinander zu spielen war. An ihrer Lagerhalle hatten sie die ideale fensterlose große Fläche. Der Ball wurde auf unterschiedliche Weise gegen die Wand gespielt, beginnend mit zehnmal der ersten Figur: mit beiden Händen gegen die Wand werfen und fangen, neunmal ohne Abzusetzen mit rechts, achtmal mit links, siebenmal ‚Bete‘ mit aneinandergelegten ausgestreckten Händen, sechsmal mit runden Gebetshänden, fünfmal mit der rechten, viermal mit der linken Faust, dreimal mit der Stirn, zweimal mit dem Knie, einmal über die rechte Schulter hochgeworfen, sich umdrehen und den Ball wieder fangen. Wer den Ball fallenließ, musste ihn abgeben und beim nächsten Wechsel da weitermachen, wo er vorher den Ball hatte fallen- lassen. Die Figuren ließen sich erweitern oder schwieriger gestalten, je nach dem Können der Mitspieler.

Das Spiel fand großen Beifall. Aber Bärbel wollte auch noch ihr Lieblingsspiel erklären.

Sie zeichnete ein großes Rechteck mit einem abschließenden Bogen auf den Hof. Das Rechteck wurde unterteilt in acht Kästchen. Ein flacher Stein musste, auf einem Bein hopsend, mit dem Fuß jeweils weiterbefördert werden. Wer auf eine Linie trat oder den Stein auf eine Linie schob, musste an den Mitspieler abgeben. Wer als erster den Parcours durchlaufen hatte, Wendepunkt der Bogen am oberen Ende, war Sieger. Auch dieses Spiel regte den Ehrgeiz der Kinder an. Alles sah leichter aus, als es dann beim Probieren tatsächlich war.

Da inzwischen alle ihre Wundertüten geöffnet hatten und jeder wunderschöne, bunt-leuchtende Schippelkugeln vorgefunden hatte, folgte auf Wunsch von Ulla noch das Schippeln. Ilse grub mit einer kleinen Schaufel eine kleine, runde Höhlung in den glatten Boden des Hofs, drückte sie innen und an den Rändern glatt und fest. Alle Kinder hockten nun ringsherum, auch die Jungen, und versuchten ihre Schippelkugeln der Reihe nach als erster ins Loch zu schippeln. Wer als erster alle Glaskugeln versenkt hatte, war Sieger.

Die Jungen langweilten sich bald zwischen den Mädchen und gingen mit Arthur, der ihnen was Tolles zeigen wolle. Sie liefen zum Lager, wo in einer Ecke verborgen das alte, verrostete Herrenfahrrad ohne Kette und Gummireifen stand. Die Jungen waren kaum zu halten und beförderten das Rad auf den Hof. Jeder versuchte, ein Bein unter der Stange hindurch gesteckt, von den anderen geschoben, damit zu fahren. Es quietschte, die Metallräder ohne Schlauch und Mantel schepperten auf dem festgefahrenen Boden des Hofes, aber die Jungen fanden dieses Gefährt großartig und beschlossen, demnächst dieses Gefährt zu reparieren, zu entrosten, zu ölen und soweit flott zu machen, dass nur noch der Vater neue Schläuche und Reifen spendieren musste, was allerdings kein kleines Problem darstellte. „Aber bis dahin können wir alles machen, was nichts kostet“, entschied Arthur, der Älteste der Jungengruppe und dachte daran, auf irgendeine Weise Geld zu verdienen, vielleicht mit Zeitungaustragen. Auch der Roller musste entrostet und geölt werden. Das gäbe zwei prima Fahrzeuge.

In diesem Stadium der Feier ging Arno mit seiner sechsjährigen Tochter Hilde zu seinem Lieferwagen, mit dem er und seine Familie gekommen waren. Er hob einen kleinen Korb heraus, mit einem rotweißkarierten Tuch bedeckt, hing sich sein Akkordeon um, ging zu den Gästen zurück und spielte einen Tusch, um die Aufmerksamkeit auf sein Mädchen zu lenken. Als sich ihnen alle Blicke zuwandten, überreichte Hilde der gleichaltrigen Ilse den Korb.

Die beiden blonden Mädchen mit ihren Rieselhaaren und der hellen Schleife auf dem Kopf, den langen gekräuselten Röcken mit Schärpe und den Spangenschuhen glichen einander wie Zwillingsschwestern. Hilde lächelte Ilse an. Ilse war so überrascht, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen, dass sie ganz ernst wurde. An ihrem Hals pochte der eilige Puls. Ihre losen Härchen, ihr Gesicht umspielend, bebten.

Bevor sie das Tuch von dem Korb nehmen konnte, rührte sich dieses wie von Geisterhand bewegt, und eine schwarze, feuchtglänzende Nase schob sich hervor, das rotweißkarierte Tuch über dem Kopf wie der Wolf in Großmutters Bett im Märchen. Unter der Nase glucksten kleine klagende Stoßseufzer hervor.

„Unser Geschenk für eure Familie“, sagte Hilde mit heller Stimme. „Das Geschenk heißt Ronja.“ Ilse stellte das Körbchen auf den Boden, nahm Ronja behutsam heraus und konnte nicht verhindern, dass ihr vor Freude Tränen über beide Wangen liefen. Sie legte sich Ronja in die Armbeuge, streichelte mit zwei Fingern behutsam das Hunde-Baby, drückte ihr Gesicht gegen die Hundenase und küsste sie. Dann drehte sie sich einmal in die Runde, damit jeder sehen konnte, was sie auf dem Arm hielt und lief zu Papa und Mama; Paul und Arthur waren herbeigeeilt. Die anderen Kinder kamen. Jeder wollte das kleine Tier anschauen und einmal anfassen. „Ronja wird mal viel größer sein als du jetzt bist“, erläuterte Arno, „ein stattliches Riesenschnauzer-Mädchen wird das mal. Sie wird euer Haus bewachen und dafür sorgen, dass jeder Tag im Jahr ein fröhlicher Hundstag wird.“

Arno setzte sich auf eine umgedrehte Kiste vor dem Haus und fing an, auf seinem Akkordeon zu spielen. Er spielte: „ Land der dunklen Wälder “, und die Besucher, zuerst nur summend, stimmten nach und nach in ihr Heimatlied ein. Um seinem Freund und dessen Familie eine besondere Freude zu machen, spielte er noch „ Blaue Berge, grüne Täler, mittendrin ein Häuschen klein “, das Lied, das Gustav, Hermine und die Kinder zusammen mit ihren neuen Landsleuten in Breslau kennen- und liebengelernt hatten. Einige der ostpreußischen Gäste kannten es und sangen mit. Zuletzt folgte „ Guten Abend, gute Nacht “, und die Gäste wussten, das Ende einer wunderschönen Einstandsfeier ihrer neuen Mitbürger war gekommen, und man verabschiedete sich.

Die Kinder hatten sich um Ilse und den Hundewelpen auf die Wiese gesetzt. Ronja wackelte im Kreis umher, den die Kinder mit ihren Körpern bildeten und genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Ab und zu kippte sie um und fiel auf ihr weiches, pummeliges Hinterteil. Schnell waren Kinderhände da, sie wieder auf ihre Beine zu stellen. Ronja japste, gickste, gluckste, schnaufte, sabberte, während sie neugierig die Knie der Kinder, ihre Hände und Kleidung beschnupperte und beschlabberte. Den Gastkindern fiel es schwer, nun mit ihren Eltern nach Hause gehen zu sollen. Beim Verabschieden sagten alle, sie würden wiederkommen, um mit Ronja zu spielen und auch mit den Kindern zusammen die Spiele zu machen, die sie heute kennengelernt hatten.

Gustav und Hermine saßen noch eine Weile in ihrer Wohnküche, Arme und Beine müde und entspannt von sich gestreckt, hinter ihnen Berge beschmutzter Teller und Gläser, von Besteck und Schüsseln. „Hat alles Zeit bis morgen“, stellte Hermine seelenruhig fest.

„Heut ist unser Anwesen zum Leben erwacht“, bemerkte Gustav. „Die Kinder haben allem Leben eingehaucht, dem Tor der Lagerhalle mit ihrem Ball, dem alten Fahrrad und Roller, dem Hof mit den Schippel-Kugeln, dem aufgemalten Rechteck für das Hoppe-Kästel-Spiel und der Wiese, auf der sie mit Hundebaby Ronja gespielt haben“, sagte Hermine verträumt, Gustav anlächelnd.

Ronja lag eingerollt auf Hermines Schoß, war sanft eingeschlummert, nachdem sie vorher Haferflocken mit Milch geschleckt hatte und gab im Schlaf hin und wieder traumtrunken einen kinderhellen, gicksenden Babybeller von sich, bei dem ihr Pummelkörper bebte. In dieser Nacht würde sie zum ersten Mal ohne die Nestwärme und den vertrauten Geruch ihrer Mama Manja und ihrer Geschwister sein, schien sich aber in ihrem neuen Zuhause schon wohlzufühlen. „Gut wird sie es bei uns haben“, sagte Gustav liebevoll, und Hermine nickte ihm beipflichtend zu.

Auch die Kinder hatten erste Kontakte geknüpft. Ronja würde ihren Teil beitragen, dass die neuen Freunde gern wiederkämen.

Der zweite Schritt in die neue Zeit mit neuen Menschen und vierbeinigem Familien-Zuwachs war getan, dachte der Familienvater, nahm Hermines Hand und ging mit ihr schlafen. Satt waren sie, satt von Zufriedenheit und Freude und redlich müde.

Liebe und Tod im Grenzland

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