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10. Kapitel
Paul besucht Tante Selma von Görlitz aus in Breslau

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Die rotierenden Pleuelstangen der Dampflok schufen den gleichmäßigen Takt, der sich im Zug rollend und vibrierend Holzbänken und Fußboden mitteilte. Er fuhr Paul in die Glieder und dünkte ihm wie ein zweiter Herzschlag neben dem eigenen. Herzschlag des Lebens, sinnierte er, von außen kommend, unabänderlich und als gegeben hinzunehmen. Eine Metapher für sein gegenwärtiges Leben, das sich anscheinend ohne sein Einwirken wundersam gefügt hatte. War alles Zufall? Er neigte dazu, an Schicksal zu glauben.

Vor seinem Bahnfenster waberten grauweiße Rauchschwaden aus dem Schornstein der Lok und vernebelten die Landschaft ganz oder teilweise. Auch hier Symbolik, glaubte Paul: Die Zukunft, sich teils andeutend, teils verborgen in Nebelschwaden. Zurückschauend ein ähnliches Bild: Manches klar leuchtend, anderes ganz oder in Teilen entschwunden.

Paul war auf dem Weg von Görlitz, seinem neuen Wohnort, zurück nach Breslau, der Stätte seiner Kindheit, die er vor dreizehn Jahren zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern verlassen hatte. Vater Gustav hatte in Allenstein seinen ersten eigenen Betrieb aufgebaut. Durch den Krieg, der den Polnischen Korridor aus Posen und Westpreußen als Ergebnis des Versailler Vertrages schuf, und die daraus entstandene Insellage Allensteins in Ostpreußen mit Zollschwierigkeiten an zwei neuen innerdeutschen Grenzübergängen, war sein Handelsbetrieb ins Schlingern geraten und nicht zu halten gewesen. Die Familie hätte vom Ertrag nur unter großen Opfern überlebt.

Mehrere Ereignisse waren eingetroffen, die sich so ineinanderfügten, dass Gustav und Hermine ein Schicksal, das ihnen hier den Ausweg wies, am Werke wähnten.

Als Arthur, im letzten Kriegsjahr verschüttet, kriegsversehrt dem Lazarett übergeben wurde, hatte Paul alle Pflichten seines älteren Bruders übernommen. Die beträchtliche Mehrbelastung war für einen Schüler der Oberstufe des Gymnasiums dauerhaft nicht durchzuhalten. Paul war durch die gesundheitlichen Belastungen während seiner frühen Jahre noch immer schmächtiger als seine Altersgenossen. So brach Paul ein Jahr vor dem Abitur schweren Herzens, aber notgedrungen und zum Bedauern seiner Lehrer, er war fleißig und begabt, die Schule ab. Seine ganze Kraft widmete er nunmehr dem väterlichen Betrieb und erhielt seinem Bruder bis zu dessen Rückkehr den Arbeitsplatz.

Als Arthur soweit genesen war, dass er, anfangs stundenweise im Büro, später wieder in allen Bereichen, wirken konnte, kam es zunehmend zu Reibereien zwischen den beiden nun erwachsenen Brüdern. Arthur, als der Ältere, versuchte wieder und wieder, sich als Juniorchef aufzuspielen. Paul, den Jüngeren, aber Begabteren von beiden, verdross zunehmend, dass Arthur aus seinem Altersvorsprung Vorrechte ableitete. Dem Vater glückte immer seltener, Frieden zwischen den Brüdern zu stiften. Seine Aussöhnungsbemühungen gab er eines Tages auf und überließ die Streithähne sich selbst.

Paul arbeitete gut und schaffte viel. Die Dauerspannung mit Arthur kostete ihn jedoch mehr wertvolle Kraft, als ihm zu Gebote stand.

Der Vater, seit Arthurs Rückkehr aus dem Krieg von dessen überheblichem Verhalten ungünstig beeinflusst, ließ zuweilen ebenfalls Paul gegenüber in herabwürdigender Weise eine Bemerkung fallen wie: ‚Geh mal weg, das kannst du nicht.‘ Damit traf der Vater die Achillesferse des jüngeren Sohnes.

Dieser hatte nicht vergessen, wie hilfsbedürftig er wegen seiner geringen Sehfähigkeit in der Kindheit gewesen war und wie er sich seitdem bemüht hatte, ein gleichwertiger Teilnehmer der Gesellschaft zu sein, ohne über Gebühr die Unterstützung und fürsorglichen Hilfe seiner Mitmenschen zu beanspruchen. Er spürte, er musste sich herauslösen aus diesem eingefahrenen Gleis von brüderlicher Anmaßung und gelegentlicher väterlicher Geringschätzung.

Seinem Vater hielt er Gedankenlosigkeit zugute, dem Bruder, für das Vaterland seine Gesundheit ruiniert zu haben, während er selbst zur Schule gehen und in seinem warmen Bett schlafen konnte.

Arthur hatte als Kriegsversehrter im Lazarett die Krankenschwester Sigrid kennengelernt und entschieden, sie zu heiraten. Sigrid wohnte bei ihren Eltern in Görlitz. Sigrids Großvater hatte ihr und Arthur angeboten, nach deren Heirat in seinem Haus zu leben. Ausreichend Platz war vorhanden, seit die Kinder auf eigenen Füßen standen und seine Frau verstorben war. Arthur sah sich vor dem Problem: Arbeitsplatz in Allenstein und künftige Frau mit Wohnung in Görlitz.

In diesen Tagen ergaben sich zwei weitere denkwürdige Geschehnisse annähernd gleichzeitig.

Sigrids Eltern in Görlitz hatten in der Lokalzeitung gelesen, in ihrer Nähe stünde eine Baustoffhandlung vor dem Konkurs und würde zum Kauf angeboten.

In Allenstein suchte der dortige Ziegeleibesitzer Gewerbegelände für eine Betriebserweiterung. Diesen Teilbetrieb sollte später der jüngste Sohn übernehmen, sodass ein Zusammenhang des Gewerbegeländes mit einer Wohnung angestrebt wurde.

Gustav war bei diesen beiden Nachrichten hellwach geworden. Er erkundigte sich umgehend nach den Konditionen.

Das Ganze war für ihn ein Nullsummenspiel. Der Erlös aus dem Allensteiner Betrieb ermöglichte den Kauf der Görlitzer Baustoffhandlung. Durch längere Erkrankung des Inhabers und infolge schwerwiegender Fehler von dessen Bruder, der ihn ohne kaufmännische Vorkenntnisse vertreten hatte, war der Betrieb in eine unabwendbare Abwärtsspirale geraten.

Eine nennenswerte Anzahl an Stammkunden ließ sich mit einigem Geschick voraussichtlich zügig reaktivieren.

Angesichts der in Allenstein erworbenen Erfahrungen, einen eigenen Betrieb zu führen, machte ihm dieser Neustart im Alter von 49 Jahren keine Sorge. Im Gegenteil, durch das neuerlich zu bewältigende Werk fühlte er sich einmal mehr angefeuert und herausgefordert. Zwar würde der Weg noch einmal mit Schweiß und Anstrengung verbunden sein, aber, dessen war er sicher, mit seiner Familie im Rücken auch nach oben führen.

Hermine behagte durchaus der Gedanke, Allenstein wieder zu verlassen. Die Insellage, umgeben vom Land Polen, missfiel ihr seit deren Bestehen durch den Friedensvertrag von 1919. Auch die wortkarge Gemütsart der ostpreußischen Menschen war für sie, die rede- und erzählfreudige Sächsin, eine harte Nuss. Görlitz war keine hundert Kilometer von ihrer alten Heimat entfernt und von ihren sächsischen Landsleuten, die sprachen und sich verhielten wie sie und Gustav. Zudem reizte sie die größere Stadt. Wie sie einem Stadtplan von Görlitz entnehmen konnte, den ihr Sigrid, ihre Schwiegertochter, zugesandt hatte, war das ein Ort mit vielen Parks, an einem Fluss gelegen wie Breslau, einem Kegelberg, der Landeskrone, und zahlreichen Sehenswürdigkeiten wie der Peterskirche, der Muschel-Minna, dem dicken Turm, den Laubengängen am Unter- und Obermarkt und anderem. Sie freute sich darauf, ihre Freunde und Verwandten in der alten Heimat, mit geringerem Aufwand an Zeit und Fahrgeld nun des Öfteren per Bahn besuchen zu können und mit ihnen in ihrer Heimatsprache zu reden, ohne dass Umstehende ihres sächsischen Dialekts wegen einen mehr oder minder verborgenen Lachanfall bekamen.

Paul, der vom Sitzen auf seiner Holzbank allmählich steife Glieder bekam, erhob sich und öffnete das Abteil-Fenster. „Sie, junger Mann, entschuldigen Sie ock vielmals, es tut mir wirklich leid, aber das zieht“, rief eine ältere Frau hinter ihm mit weher, belegt-rauer Erkältungsstimme bescheiden, „tut mir wirklich leid, aber ich bin fürchterlich erkältet, müssen Sie wissen. Wären Sie so gutt, dass Sie vielleicht das andere Fenster gegenüber könnten aufmachen? Es tut mir wirklich leid, aber wenn es zieht, fang’ ich gleich wieder zu husten an, und dann kann ich nicht mehr mit dem blöden Husten aufhören.“ Jetzt hustete sie wirklich, und das klang nicht gut. Nachdem Paul das Fenster geschlossen hatte, wandte er sich der älteren Frau zu und entgegnete gebührlich und bedauernd: „Tut mir wirklich leid. Entschuldigung. Ich hab nicht überlegt. Ich hätt’ ja auch vorher fragen können.“ Die Frau mit dem weißen Kopftuch hinter ihm schaute ihn zutraulich aus ihrem gebräunten Gesicht mit den blanken, gütigen Augen und den vielen kleinen Lachfältchen an und hob, wie winkend, versöhnlich ihre Hand, die nach viel Arbeit aussah.

Auf ihrem Schoß stand ein Korb mit einem lebenden Huhn, das sie bis zum Hals mit einem rot-weiß karierten Küchenhandtuch bedeckt hatte. Das Huhn gab bei ihren Worten einen langgezogenen, weinerlichen Ton von sich, und die alte Frau lachte Paul herzlich entgegen. „Das hier ist unser Paulinchen. Meine Tochter hat Geburtstag, und ich will ihr Paulinchen schenken. Sie wünscht sich schon lange eine Henne, nu ja, für ein Paar Eier in der Woche. Drei Kinder hat sie, müssen Sie wissen. Viele hungrige Mäuler sind da jeden Tag zu stopfen. Ne junge Mutter hat’s nicht leicht heutzutage, ne wah?“, sagte sie besorgt, aber tapfer lächelnd und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Paulinchen wird’s da gutt haben“, verbürgte sie sich und wischte erneut scheu eine Träne aus ihrem Augenwinkel.

Die gute alte Frau hatte ein helles Glöckchen aus Kindertagen in seinem Inneren zum Klingen gebracht. Ihm wurde warm ums Herz. Ja, so redeten die Leute hier. Das hatte er in den zehn Jahren in Ostpreußen fast vergessen.

Er legte seine Hände auf den Rücken und versuchte, zwischen den Rauchschwaden der Lokomotive hindurch etwas von der Landschaft wahrzunehmen. Er sah Getreide, noch grün, mit wildem Mohn gesprenkelt, an den Rändern Kornblumen und Margueriten. Dazwischen einzelne kleine Wäldchen wie eingestreut. Er sah hin und wieder die roten Dächer eines Dorfes, sah Kinder und Erwachsene an einem unbeschrankten Bahnübergang warten und winken, sah eine lange Reihe Kühe und eine Gänseherde auf einer Dorfstraße gemächlich entlangtrotten. Hinter den Gänsen lief ein kleines Mädchen barfuß mit einer Gerte. Aus einem Feldweg bog ein Leiterwagen in die mit Kopfstein gepflasterte Fahrbahn neben den Bahnschienen. Er war zur Hälfte mit frischem Grünfutter beladen, obenauf lagen Rechen, Sense und Heugabel. Den Wagen mit den kleinen Gummirädern zog gemächlich und schwerfällig eine Kuh. Wunderbare heile Welt, dachte Paul.

Kaum zu glauben, dass vor kurzem noch ein böser Krieg in anderen Teilen Europas gewütet hatte, der viel zu viele Menschen umgebracht oder für den Rest ihres Lebens an Leib und Seele beschädigt hatte. Mit den Vätern und Söhnen waren auch viele Pferde, die nun in der Landwirtschaft fehlten, auf den Schlachtfeldern gestorben, reflektierte Paul bei diesen Friedensbildern.

In der Fensterscheibe des Zuges sah Paul einen jungen Mann mit blond gewelltem Haar, weißem Sporthemd, roter Fliege, runder Nickelbrille und hoher Denkerstirn. ‚Guter Typ, intellektuell, nachdenklich, introvertiert‘, dachte er, bis er überrascht feststellte, dass ihn da sein eigenes Spiegelbild anschaute. ‚Merkwürdig‘, dachte er, ‚gerade war ich noch ein Knabe, dem Tante Selma vor den ersten Geigenstunden die Hände mit viel Seife wusch und die Fingernägel mit einer Nagelfeile reinigte.‘ Jetzt sah Paul einen jungen Mann vor sich, zwar nicht sehr groß, mit Brille, sonst aber ansehnlich und gut für einen zweiten Blick. Beinahe hätte er sich nicht erkannt und weiter über den jungen Mann im Fenster oder hinter sich gemutmaßt, wer oder was er wohl sei.

Die Entscheidung seiner Eltern, den Betrieb in Allenstein aufzugeben und in Görlitz einen gescheiterten Betrieb wieder aufzubauen, fand Paul richtig und mutig.

Arthur hatte Sigrid geheiratet, und sie hatten inzwischen ein kleines Mädchen, Betti. Gustav und Hermine, nun Großeltern, waren glücklich über ihr Enkelkind.

Paul hatte sich wieder auf der ratternden Holzbank im Zug niedergesetzt und nahm aus seinem Rucksack ein Päckchen mit einer Schnitte, dünn mit Margarine bestrichen. Dazu aß er, genüsslich und ausgiebig kauend, ein kleines Stück Knoblauchwurst, vor seiner Reise nach Breslau zu Tante Selma beim Metzger auf Lebensmittelmarken erstanden. Aus dem Becher, der Verschlusskappe seiner Thermosflasche, trank er Pfefferminztee. Der Duft der Knoblauchwurst und des Tees breitete sich aus und vermischte sich mit dem rauchigen Mief nach Kohlenruß aus dem Schornstein der Lok, der beim Öffnen des Fensters ins Abteil gedrungen war. Köpfe von Mitreisenden drehten sich neugierig für einen Moment in seine Richtung. Andere Reisende begannen nun ebenfalls, Proviant-Päckchen auszuwickeln und mit Appetit in ihre Brote zu beißen. Halblinks vor ihm kaute ein kleines Mädchen mit genüsslichem Knacken an einem schon etwas schrumpeligen Apfel. Der Tee seiner Nachbarin duftete nach Brombeerblättern. Sie nahm eine kleine Wasserrübe, deren weiß-lila Schale sie mit einem Taschenmesser zuvor sternförmig eingeritzt und so zurückgezogen hatte, dass die weiße Rübe wie eine glänzende Kugel in der Mitte des Schalensterns stand. Der Radieschen ähnliche Duft der Wasserrübe stieg Paul in die Nase. Gern hätte auch er jetzt eine solche weiße Wasserrübe gegessen. Als die Nachbarin hineinbiss, hörte Paul, wie saftig die Rübe war. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und er schluckte.

Gleichmäßig ruckelte und rumpelte der Wagen.

Allein zu wirtschaften als möbliert wohnender Herr war für Paul eine neue Erfahrung, immer noch merkwürdig und ein wenig befremdlich. Für die gewonnene Unabhängigkeit nahm er die Notwendigkeit in Kauf, seine Wäsche in der Waschküche der Vermieterin selbst zu waschen und für Nahrungsmittel anzustehen.

Die jetzige Wohnung seiner Eltern war klein. Das beengte Kinderzimmer bewohnte zunächst seine Schwester, die inzwischen den Molkereibesitzer Eugen geheiratet hatte und ausgezogen war. Die Wohnung war auch für die Eltern klein im Vergleich zu Allenstein. Ansonsten war sie in vielem ähnlich: Kein fließendes Wasser, die Pumpe vor dem Haus, das Klohäuschen auf der Hinterseite des Hauses, dahinter der kleinere Garten. Da Gustav und Hermine nun allein lebten, genügte ihnen der Wohnraum. Vorrangig war, den Betrieb in Gang zu setzen und ihr Auskommen in der Nähe ihrer alten Heimat zu haben, umgeben von Landsleuten, deren Sprache und Lebensart ihnen vertraut war. Sparsam und einfach zu leben waren sie gewöhnt.

Paul erinnerte sich, wie er Tante Selma, die er heut wiedersehen würde, erstmals gegenüberstand. Er war sieben Jahre alt. Seine Mutter Hermine hatte seine Liebe zu klassischer Musik bemerkt und wollte ihm ermöglichen, ein Instrument zu erlernen. Ein Element von Kostbarkeit und Schönheit sollte dadurch in Pauls neues Leben kommen, in dem er nach sieben Augenoperationen endlich sehen konnte. Schule und Geigenunterricht waren für Paul ein Erwachen zu einem hellen, glücklichen Leben mit unendlich viel Neuem, was es zu sehen und kennenzulernen gab.

Tante Selma hatte damals vor ihm gestanden wie ein Geistwesen aus einer anderen Welt. Wie zart sie war, wie durchsichtig ihre Haut, blaugeädert Schläfen und Handrücken, wie weich und warm ihre eher leise, etwas brüchige Stimme. Als sie Paul die Hand gab, war ihm ein sanfter Schauer in die Seele gefahren. Wie schlank und fein diese Hand war. Er nahm sie vorsichtig und drückte sie nur leicht, um ihr nicht wehzutun.

Diesen ersten Augenblick würde er nie vergessen. Dieses wirkliche und gefühlte Bild hatte sich als eines der klaren Bilder eingegraben, einem scharfen Bild zwischen all den unscharfen oder undurchsichtig gewordenen Nebel- und Rauchschwadenbildern seiner Erinnerung.

Er liebte diese Frau von diesem Augenblick an, und er würde sie ein Leben lang lieben. Sie war seine Seelenverwandte, das fühlte er hellsichtig und tief. Einmal hatte er ihr gesagt, wenn er groß wäre, würde er sie heiraten. Sie hatte ihm mit einem wehmütigen Lächeln, das eher einem großen Schmerz glich, still geantwortet: ‚Ich bin keine Frau zum Heiraten.‘ Mehr musste sie nicht sagen. Paul sah selbst, dass sie verwachsen war. Sie hatte linksseitig einen Buckel, weil die Kinderfrau sie als Baby fallengelassen hatte. Damit war ihre Zukunft besiegelt. Sie hatte ‚ja‘ zu ihrem Schicksal gesagt und sich damit eingerichtet. Sie erlernte die Grafologie und arbeitete als vereidigte Grafologin am Amtsgericht Breslau. Jungen, Mädchen und Frauen, die aufgeschlossen waren für Musik, Kunst und Literatur, gab sie Geigen- und Lautenunterricht und hatte auf diese Weise ihre besondere Schar von Kindern und Jugendlichen um sich versammelt. Für diese jungen Menschen war Tante Selma die Eintrittspforte in eine neue Welt mit vielen wunderbaren weiteren Toren, die es zu öffnen und zu durchschreiten galt. Sie lernten Bücher kennen, Autoren, Noten und Komponisten, spielten Theater, diskutierten und schlossen Freundschaften fürs Leben. Tante Selma blieb für sie die gute Fee, die auch dann noch ihr Leben aufwertete und bestrahlte, als sie längst in oder über den Wolken webte als sublimierter Geist des Guten in ihrem Leben.

Wenn Paul an Tante Selma dachte, so ahnte er, dass es im Leben etwas gäbe wie eine weise Hand, die Geschicke lenkt, und dass es gut sei, darauf zu vertrauen. Dieser Gedanke war ihm zum ersten Mal gekommen, als er nach Jahren der Dunkelheit entgegen jeder Hoffnung doch noch eines Tages das Licht dieser Erde erblicken durfte. Und er für seine Dankbarkeit und sein Glück keine Worte fand. Er konnte nur die Hände falten und sagen: „Danke, lieber Gott.“ Er hatte sich vorgenommen, ein Leben lang dafür dankbar zu sein und sich dieses Himmelsgeschenks würdig zu erweisen.

Heut würde er Tante Selma wiedersehen nach dreizehn Jahren. In der Zwischenzeit war ein böser Weltkrieg verwüstend und vernichtend über Europa gerollt; die Menschen hatten gehungert, hungerten noch und erholten sich nur langsam. Millionen Soldaten waren auf den Schlachtfeldern verblutet. Kinder hatten ihre Väter, Mütter ihre Söhne verloren. Herbes Leid war in viele Gesichter geschrieben. Deutschlands Wirtschaft und Moral lagen am Boden. Die Friedensbedingungen der Siegermächte nahmen den Deutschen die Luft zum Atmen und die wirtschaftlichen Bedingungen, sich wieder zu erholen.

Er war herangewachsen. Aus einem Knaben mit ungewaschenen Händen und unsauberen Fingernägeln war ein gepflegter junger Mann mit scharfen Bügelfalten geworden.

Was Tante Selma wohl dazu sagen würde, dass er mit 23 Jahren der jüngste Geschäftsstellenleiter der größten Krankenkasse geworden war? Glücklich war er und ein wenig stolz, so gut vorangekommen zu sein. Immer wieder erlebte er Augenblicke, in denen er glaubte, aufzuwachen und alles sei nur ein wunderbarer Traum gewesen.

Als Paul vor Selmas Wohnungstür stand, die Hand nahe der Klingel, hämmerte sein Herz zum Bersten. Ein letztes Mal holte er tief Luft, dann klingelte er.

Da stand seine Seelenfreundin vor ihm, zart und viel kleiner als das Bild seiner Erinnerung und lächelte ihm voller Liebe entgegen. Als sie sich die Hand gaben, spürte er ein leichtes Beben. Ihn tröstete, auch Tante Selma war bei seinem Besuch nicht seelenruhig geblieben. Sein inneres Beben versuchte er nicht zu verbergen. Die Freude des Wiedersehens überwältigte ihn vollkommen. Gern hätte er Selma in beide Arme genommen und fest an sich gedrückt. Aber er spürte klar, das durfte nicht sein. Sie war kein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie war Selma, ein Wesen, das einer anderen Sphäre angehörte.

Sie bedeutete alles Feine, Unkörperliche. Sie nahm seine Hand mit ihren beiden Händen, die sich seidig und zart anfühlten. Auch Paul wagte, seine zweite Hand um ihre beiden Hände zu legen. So blieben sie einen Moment und sahen scheu auf ihre Hände. Paul vernahm seinen eigenen Herzschlag so dröhnend, dass er bangte, Selma könne dieses Hämmern hören. Was für wunderbar große Augen sie hatte, Augen, die mehr sahen, die intensiver wahrnahmen, Goethe-Augen, sann er.

Ihre Frisur trug sie noch wie damals, das aschblonde, glatte Haar in zwei schwere Zöpfe geflochten, die sie als Krone auf dem Kopf hochgesteckt hatte. Diese schweren Zöpfe hatten ihr schon früher an manchem Tag Kopfschmerzen bereitet. Aber keiner ihrer Schüler-Freunde hätte zugestimmt, sie abzuschneiden.

Während Selma Pauls Erscheinung und Ausstrahlung, seine Liebe zu ihr wahrnahm, durchbebte sie sekundenlang der Schmerz über ihren körperlichen Mangel. Ein dunkler Schleier überzog einen Augenblick lang ihr Gesicht. Schon in ihren jungen Jahren hatte sie entschieden, sich niemals zu beklagen, war ihr Leben doch auf eine andere, wundersame Weise ausgefüllt und gut. Dass sie auch ein Mensch aus Fleisch und Blut war und kein übermenschliches Wesen, hatte sie soeben verspürt. Sie schob diesen verstörenden Gedanken so schnell beiseite, wie er aufgetaucht war, und ihr Gesicht hellte sich wieder auf.

„Mein lieber Paul“, sagte Selma mit ihrer weichen, leisen, etwas brüchigen Stimme schließlich, „wie groß du geworden bist.“

„Und ich hatte dich so ehrerbietig groß in Erinnerung“, entgegnete Paul schmunzelnd. „Wie sich die Relationen wandeln, wenn aus einem Knaben ein junger Mann wird“, sann Selma und öffnete die Tür zu ihrem Wohnzimmer, das vom Nachmittags-Licht, durch das geöffnete Fenster dringend, durchflutet war. Der Tisch war mit ihrer handgestickten Tischdecke in Blau und Weiß fein gedeckt, an die er sich von früher erinnerte. Auch das Service in Blau-Weiß aus Arzberg erkannte er wieder. Paul nahm alles in sich auf wie Bilderbuchblätter aus seiner Kindheit. Auf dem Tisch stand ein Erdbeerkuchen, eine Schale mit geschlagener Sahne daneben, und ein herrlicher Kaffeeduft erfüllte den Raum. Paul fühlte sich allein durch den Duft des Kaffees erfrischt und belebt nach seiner Bahnreise. „Die Zutaten sind allesamt Geschenke von meinen Schülern“, bemerkte Selma lächelnd. „Es macht Freude, wenn weißes Mehl, Eier, Zucker und Erdbeeren nebeneinander in der Küche stehen und man nur noch anzufangen braucht mit Backen. Ich weiß, ein Luxus in diesen Tagen. Komm, wir wollen ihn genießen zur Feier unseres Wiedersehens.“ Selma nahm Paul an der Hand, führte ihn zu einem Stuhl, den sie zurechtrückte und forderte ihn herzlich auf, Platz zu nehmen. Sie schenkte den Kaffee ein, der unter einer Kaffeehaube auf der Tischmitte stand, stülpte die ebenfalls passend zur Tischdecke gearbeitete Kaffeemütze wieder über die Kanne mit dem geschwungenen Griff und setzte sich Paul gegenüber.

Nachdem die beiden Freunde gemeinsame Erinnerungen ausgetauscht hatten und sich den wunderbaren Erdbeerkuchen mit Sahne hatten munden lassen, bat Selma, Paul möge nun berichten, wie es in Görlitz beruflich mit ihm weitergegangen war.

Paul erzählte, wie er sofort nach der Ankunft der Familie in Görlitz mit einem Bank-Volontariat begonnen hatte. Sooft als möglich half er noch bei seinem Vater, wo jede Hand benötigt wurde. Im zweiten Jahr erkrankte Paul an einer Gelbsucht, die sechs Monate anhielt und ihn so schwächte, dass er kaum für einfachste Verrichtungen Kraft hatte.

Jede Woche ging er zu seiner Krankenkasse, um sein Krankengeld, drei Mark fünfzig pro Woche, abzuholen. Durch die häufigen Besuche bei der Kasse kam er mit den dort tätigen Damen ins Gespräch, auch mit der Leiterin, Fräulein Hauf. Sie klagte ihm ihr Leid, sie habe zu wenige Mitarbeiter und die Fülle ihrer Aufgaben, vor allem die Mitarbeiterführung und Gesamtverantwortung, bereite ihr häufig schlaflose Nächte. Zuweilen fühle sie sich schlicht überfordert.

Paul bot ihr seine Hilfe an, sobald er wieder arbeiten könne.

Als Paul genesen war, ging er, wie versprochen, allabendlich nach Dienstschluss zur WKK-Geschäftsstelle und half, Rückstände aufzuarbeiten. Sein Volontariat neigte sich dem Ende zu. Er konnte bei der Bank anfangen. Fräulein Hauf fragte ihn, ob er nicht als Vollzeitmitarbeiter in der WKK arbeiten wolle. Das lockte ihn mehr als das Geschäft mit Geld, und er sagte zu.

Paul verschaffte sich zunächst einen Gesamtüberblick über die Arbeitsrückstände. Sie waren größer als befürchtet. Für ihn erschütternd waren die Zustände in der Buchführung. Immer wieder blieb ihm nur ein Kopfschütteln. Ob Gehälter oder Mitgliedsbeiträge, das Durcheinander war beängstigend. Als Paul mit Fräulein Hauf darüber sprach, sagte sie mit resigniertem Schulterzucken: ‚Ich weiß, könnten Sie sich vorstellen, die Geschäftsleitung zu übernehmen?‘ Ja, Paul konnte sich das durchaus vorstellen, und er stimmte zu. Er traute sich zu, innerhalb einer angemessenen Frist Ordnung zu schaffen. Fräulein Hauf schrieb an die Zentrale, die Paul ein Jahr nach seiner Einstellung die Geschäftsleitung probeweise übertrug.

Zu seinen ersten Leitungs-Aufgaben gehörte, den Ist-Zustand zu erheben und diesen der Zentrale mitzuteilen. Gleichzeitig beantragte er eine Buchungsmaschine, die bewilligt wurde. Die Revisoren erhielten den Auftrag, die Geschäftsstelle scharf zu beobachten, weil Paul der jüngste leitende Mitarbeiter im damaligen deutschen Reich war. Oft bekam er Besuch von den Revisoren, und gewann den Eindruck, dass sie intensiver prüften als üblich. Die Berichte, die sie anschließend schrieben und mit ihm besprachen, konnten sich sehen lassen. Nach einem Jahr wurde er endgültig als Geschäftsführer bestätigt.

„Inzwischen klappte das meiste, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Buchungsmaschine war eingetrudelt, und in mühsamer allabendlicher und sonntäglicher, schweißtreibender Sisyphusarbeit habe ich herumgeknobelt, die Funktionen zu verstehen und mir beizubringen. Fragen konnte ich ja leider keinen“, Paul hatte stakkato-artig einzelne ihm wichtige Wörter betont und musste nun selbst über die Darstellung seiner Heldentaten lachen. Tante Selma, die während der Erzählung Pauls kerzengerade dasaß, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf den Knien gefaltet, nur hin und wieder wie zustimmend mit dem Kopf genickt hatte, lehnte sich nun in ihrem Stuhl zurück. Ihr Körper entspannte sich, und auch sie lachte herzlich. Paul erzählte gut. Es machte ihr Spaß, ihm zuzuhören. Paul nahm sich bei aller Leistungskraft und Arbeitsfreude nicht wichtig, neigte eher zum Tief- statt zum Hochstapeln. Das gefiel ihr. Er war bescheiden geblieben.

Vor dem Fenster sang eine Amsel hingebungsvoll und volltönend ihr Nachmittagslied. Selma und Paul schauten beide zum Fenster und lächelten sich an. „Schön, nicht wahr?“, sagte Selma, leuchtend vor Freude.

„Möchtest Du noch Kaffee oder eventuell einen kleinen Likör, ebenfalls ein Geschenk?“

„Wenn noch Kaffee da ist und ich dich nicht schädige, gern.“ Selma nahm die Mütze von der Kanne und goss Paul den Rest ein. Sie stellte Kanne und Mütze seitlich auf einer Anrichte ab und eine bauchige Glas-Vase mit wilden Margueriten und Kornblumen auf den Tisch. „Hat mir gestern eine Schülerin mitgebracht. Vom Feldrain gepflückt. Ich mag Wildblumen so gern. Sie weiß, dass ich Kornblumen und Margueriten besonders liebe. Kleine Alltagsfreuden.“ Tante Selma sah die Blumen an, dann wieder Paul und ermunterte ihn, weiterzuerzählen.

„Ja, so ganz viel gibt’s da nicht mehr zu erzählen. Ich kämpfe noch jeden Tag mit den Tücken der Technik, was meine Buchungsmaschine anbelangt, gebe aber die Hoffnung nicht auf, dass wir beide, meine Buchungsmaschine und ich, eines Tages gute Freunde werden.“ Wieder lachten beide herzerfrischend. „Ich bin nun mal kein ausgemachter Technikfreund und würde in der Zeit lieber im Garten meiner Eltern umgraben oder Stachelbeeren pflücken und essen. Aber ein Beruf ist nun mal kein Kinderzoo. Eines Tages werde ich die Buchungsmaschine lieben, wenn wir uns noch nähergekommen sind und unsere beidseitigen Talente zu schätzen wissen. Möge dieser segensreiche Morgen bald anbrechen.

Wenn ich nicht mit meiner Buchungsmaschine im Clinch liege, besuche ich Betriebe, um viele neue, junge und aus Kostengründen möglichst gesunde Mitglieder zu werben und unsere Leistungen, die sich sehen lassen können, anzupreisen.“

Paul kniff Selma lachend ein Auge, um sicherzugehen, dass sie den Scherz erkannt hatte. Selma schmunzelte vergnügt, und er fuhr beruhigt fort: „Ich fahre zu den Zahlstellen, um die Zahlstellenbetreuerinnen anzuleiten und deren Fragen zu klären. Ich schule wie ein jugendlicher Oberlehrer meine Mitarbeiter in der Geschäftsstelle und rede mit schwierigen Kunden, die durch ihre cholerische Ader meine braven Mitarbeiter allzu sehr nerven würden. Mein Ziel ist, meine Geschäftsstelle schnell auszubauen. Ich sehe das sportlich. Spätestens in zehn Jahren möchte ich die Nummer Eins hier im Osten sein.“ Paul war aufgestanden, straffte sich, trommelte mit beiden flachen Händen auf seine Brust wie ein Silberrücken und grinste verschwörerisch mit Siegermiene in Selmas Richtung.

„Ich wünsche Dir dabei alles Glück der Welt.“ Selma nickte zustimmend und sagte freudestrahlend, während sie seine Hand nahm: „Ich bin vollkommen sicher, dass du das erreichen wirst.“

„Und was macht die Liebe?“, fragte Selma. Bei dieser Frage wurde Paul heiß. Er liebte sie, das wusste Selma. Sie war nicht zu haben. Das hatte sie klar gesagt. Jemand anderen liebte er nicht, und das konnte er sich auch nicht vorstellen. Andererseits würde er gern heiraten. Deshalb sagte er in einem inneren Zwiespalt, der ihm unüberbrückbar schien: „Ja, ich würde gern heiraten. Jetzt sind die finanziellen Grundlagen da. Ich möchte Kinder, eine Familie, ein Traum wäre das. Ein ganz wunderbarer Traum.“

„Und warum heiratest du dann nicht?“ Selma kannte die Antwort, versuchte jedoch, so unbeteiligt wie möglich auszusehen. „Wie, wann und wo sollte ich eine Frau finden? Erstens bin ich klein, zweitens trage ich eine Brille …“

„… und drittens bist du ein wunderbarer junger Mann, ein Glücksfall für jede junge Frau“, vollendete Selma seinen Satz, wohl wissend, dass die schwierigen Anfangsjahre ihm noch immer zu schaffen machten. Er fühlte sich trotz aller Leistungen in der Schule, bei seinem Vater, der Bank, seinem Weg bei der WKK noch immer minderwertig. Sie fand es wichtig, ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit Selbstvertrauen zu vermitteln, wichtig für sein Wohlbefinden und sein künftiges Glück.

„Und wenn ich jemanden für Dich wüsste?“, fragte Selma sehr leise, sehr behutsam, ihm zugewandt und voll freundschaftlicher Zuneigung. Paul stockte einen Moment lang der Atem, und wieder durchfuhr es ihn heiß. „Sie müsste sein wie du“, erwiderte er nach einigem Nachdenken sehr leise und sah sie einen Momentlang scheu und sehr traurig an. „Nein, Paul, sie muss nicht sein wie ich. Es gibt in jedem Leben nicht nur einen Menschen, den wir lieben können. Sie kann ganz und gar anders sein. Es braucht nur eines: das eigene Herz zu öffnen. Ja, und Mut gehört dazu. Die Frage ist, willst du dir und einer Frau die Chance geben?“

Er hatte mit dem Herzen zugehört. Er wollte Selma verstehen. Er konnte sich nicht vorstellen, einen anderen Menschen jemals zu lieben, wie er sie liebte. Ihm erschien als Verrat, die übergroße Liebe in seinem Herzen, die nur ihr galt, aufzuteilen. Ihm war elend und zum Weinen. Ja, sie hatte sicher Recht, dass es Mut brauchte, um sich einem ganz neuen, fremden Menschen zuzuwenden und sein Herz nach und nach aufzutun. Er wollte in ihren Augen kein Feigling sein. Doch er fühlte sich innerlich noch ewig weit entfernt von diesem nötigen Mut. Andererseits, wenn Tante Selma eine Frau kannte, niemandem außer ihr traute er mehr zu, zu wissen, welche Frau gut und richtig für ihn sein könnte.

Beide hatten sie lange geschwiegen. In seinem Kopf und Herzen tobten wild zwei Gegenkräfte. ‚Ich möchte ja‘, schrie die eine, ‚ich kann aber nicht‘, die andere. Selma hatte tiefes Mitgefühl mit Paul. Und noch einmal versuchte sie, nicht an sich selbst zu denken, nicht seine ungeteilte Liebe für sich behalten zu wollen. ‚Nein und nochmals nein!‘, gebot sie sich energisch. Sie stand auf, ging zum Fenster und schaute scheinbar gleichgültig hinaus. Paul brauchte jetzt Zeit. Und sie auch.

Sie kam zurück, nahm die leere Kaffeekanne und Kaffeemütze von der Anrichte und trug beides in ihre kleine Küche nebenan. Dann kam sie zurück, setzte sich wieder zu Paul und lächelte ihn so gleichmütig wie möglich an.

In bewusst sachlichem Ton, aber von tiefer Zuneigung getragen, sagte sie: „Ich denke an zwei Frauen, die miteinander befreundet sind und die mehrere Jahre bei mir waren. Beide lernten bei mir Laute zu spielen. Dann blieben sie in der Literatur- und Theater-Gruppe. Beide sind interessiert an Kultur, Musik, Kunst und Literatur. Beide sind ohne Vater und ohne heile Familie aufgewachsen. Beide haben dennoch alle Voraussetzungen, eine gute Familienmutter zu werden. Ich erzähle deshalb von beiden, weil du die Wahl haben sollst. Ich werde dir später sagen, welche ich mir für dich wünsche. Dein Herz soll herausfinden, ob und zu welcher du dich hingezogen fühlst.“

Paul fing an zu schnupfen, zog sein Stofftaschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich. „Ich könnte bei beiden anfragen, ob sie interessiert sind, zunächst einen Briefkontakt mit dir aufzunehmen, wenn du willst.“

Paul seinerseits stand nun auf, ging zum Fenster, verharrte dort eine Weile, drehte sich dann langsam um, seine Brille hatte er abgenommen und hielt sie in der Hand. Um die Augen glänzte es feucht. Er räusperte sich und ging zu seinem Stuhl zurück. „Ich wusste schon immer, dass du mein guter Engel bist.“ Seine Stimme klang belegt. Er atmete mit ganzer Kraft wie aus tiefster Seele ein und sagte nach einer Pause, als wenn es ihn hohe Überwindung kostete: „Ja, Tante Selma, ich möchte die beiden Frauen kennenlernen.“

Er schüttelte verwundert den Kopf, legte seine Hand auf ihre, als er sagte: „Das wird deine größte Menschentat, wenn ich durch dich die Frau für mein Leben, die Mutter meiner Kinder finde.“ Ihm fiel auf, dass er gerade von seinen Kindern gesprochen hatte. Welcher Gedanke! Eigene Kinder! Bisher nur ein Traum, schmerzlich bewusst geworden, als Arthur sein kleines Mädchen bekam. „Eine Frau und Kinder, eine Familie“, sagte Paul noch einmal leise wie zu sich selbst, schüttelte wieder ungläubig den Kopf und lächelte Selma in großer Verwirrung an. „Es wäre mein höchstes Glü...“, da brach ihm die Stimme, und er musste endgültig weinen. In einem großen, nicht enden wollenden Tränenstrom nahm er Abschied von seiner einzigen Liebe und wurde bereit, sie dieser geliebten Selma zuliebe mit einer anderen Frau zu teilen.

Selma hielt seine rechte Hand mit ihren beiden Händen, schaute auf dieses Händebündel und ließ Paul weinen und Abschied nehmen von seinem unerfüllbaren Jugendtraum.

Liebe und Tod im Grenzland

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