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1. Kapitel
Pauls dunkler Start ins Leben

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1903 Ein kleines Dorf in Sachsen

Manche Menschen ziehen schon am Tag ihrer Geburt eine Niete, sann die Dorf-Hebamme Nina Golz. Dachte sie an den Hausbesuch, der heut vor ihr lag, wäre sie lieber im Bett geblieben und hätte den Tag ausfallen lassen. Pflichtbewusst verwarf sie den Fluchtgedanken. Stier bei den Hörnern packen, gebot sie und schwang sich auf.

Wenig später stand sie im Sprengel G. vor dem weißgetünchten kleinen Haus der Familie Freund. Die verwitterten Dachpfannen des eingesunkenen Giebels hatten im Laufe der Jahre silbrige Flechten besiedelt.

Ihr klappriges Fahrrad lehnte sie an den Holzlattenzaun, nahm ihre wettergegerbte Hebammen-Tasche vom Gepäckträger und klopfte behutsam an die angelehnte Haustür. Hermine, die junge Mutter, erwartete sie bereits. Ihr braunes, sorgfältig aufwärts frisiertes Haar hatte sie in einer weichen Rolle auf dem Kopf festgesteckt. Zu der taillierten Bluse mit gekräuseltem Stehkragen und dem langen engen Rock trug sie zierliche Schnürstiefel, deren Spitzen unter dem Rocksaum hervorlugten. Elegante Erscheinung, fand Frau Golz, aber hier im Dorf ein fremdartiger Paradiesvogel.

Die glaubt, was Besseres zu sein, redeten die Nachbarinnen verstohlen, wenn sie ihr unterwegs begegneten.

Durch die Schwangerschaft waren sich Hermine, die junge Mutter, und Nina Golz nähergekommen. Die Hebamme spürte die große Anspannung, die von Hermine ausging. Nina gab sich unbefangen, um Hermine zu beruhigen.

„Wie geht’s unserem Baby?“, redete sie deshalb munter drauflos. „Sieht ja prächtig aus, der Kleine.“ Hermine drängte ungeduldig: „Sie wollten nach den Augen sehen.“

Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Die kleinen Haarsträhnen, die wie ein Schleier Hermines Gesicht umrahmten, bebten leicht. Als Nina Golz ihrer Tasche ein Pendel entnahm und über Pauls Augen hin und her bewegte, blieb Hermine eng an ihrer Seite und vergaß das Atmen. Mit dem Zeigefinger wiederholte Nina die Schwingungen und sprach dabei sanft mit dem Baby, das mit weit geöffneten Augen strampelnd dalag, mit Händen und Armen ruckelnd und lächelte. Das Kind lächelte zum Schrank hin, wo niemand stand, nicht die Hebamme, nicht die Mutter oder Gustav, der Vater. Die Hebamme nahm eine kleine, sehr helle Stablampe und leuchtete in Pauls Augen. Er schaute in das grelle Licht und lächelte. Das Gesicht der Hebamme wurde ungewollt sehr ernst. Zögernd verstaute sie ihre Geräte. Die Augen der Mutter spürte sie angstvoll auf sich gerichtet. Nina Golz holte tief Luft und ließ sich Zeit, bevor sie so ruhig wie möglich antwortete. „Sie sollten bald mit Paul einen Augenarzt aufsuchen.“

Hermine erblasste bei diesem Satz. Noch versuchte sie, ihre Erregung im Zaum zu halten: „Was ist mit Pauls Augen?“ Die Verzweiflung in ihrer Stimme war unüberhörbar. Nina kramte weiter in ihrer Tasche. Sie hatte nichts Tröstliches für die junge Mutter und zögerte, deren verzweifelten Augen begegnen zu sollen. Schließlich hob sie ihren Blick. Die Augen der Mutter mit dem letzten Funken Hoffnung brannten in ihren. Die Hebamme legte den Arm um Hermines Mitte. Mit besänftigender Stimme sagte sie endlich: „Was mit Pauls Augen ist, muss der Augenarzt herausfinden. Davon wird abhängen, ob Hilfe möglich ist.“ Hermine konnte nicht mehr an sich halten. Ein herzbewegendes Schluchzen brach aus ihr heraus. Sie hielt beide Hände vor ihr Gesicht. Einfühlsam strich ihr Nina über den Rücken. „Paul ist blind, nicht wahr?“, wagte Hermine mit tränenerstickter Stimme zu fragen. Die Hebamme nickte nur. Sie ahnte, wie schwer diese Erkenntnis für die junge Mutter war. „Die Röteln während ihrer Schwangerschaft könnten der Auslöser gewesen sein.“

Gustav, Pauls Vater, hatte im Hintergrund des Zimmers das Geschehen verfolgt. Seine Anspannung löste sich wie bei seiner Frau Hermine in einem Strom von Tränen, die seine Wangen herunterliefen und deren er sich nicht bewusst war.

Leise öffnete sich die Tür.

„Darf ich reinkommen?“, fragte zaghaft Arthur, der fünfjährige Bruder des Babys. Seine braunen Haare waren verstrubbelt. Er hatte im Kinderzimmer in seinem Zeichenblock einen Bauernhof gemalt, fühlte sich einsam und wollte zu den anderen.

Die Hebamme legte das Baby in Hermines Arm. „Arthur, komm nur zu deinem kleinen Bruder.“

„Warum weinst du, Mama?“, fragte er arglos und sah, dass sich auch sein Vater soeben Tränen aus den Augen rieb. Statt zu antworten, zog Hermine ihren Sohn eng an sich und umarmte ihn.

Noch ahnen die Eltern nicht, welche Leidenszeit Paul und ihnen bevorsteht. Paul wird in den kommenden sieben Jahren siebenmal an den Augen operiert werden. Als Paul drei Jahre alt ist, wird Ilse geboren.

Sie ist Liebling und Trost der Eltern. Hermine und Gustav nehmen sich viel Zeit, mit ihr zu singen und Ball zu spielen. Ilse kennt bald die meisten Texte ihrer Kinderbücher auswendig und murmelt sie mit, wenn Hermine, Gustav oder Arthur vorlesen. Ilse ist für ihre Eltern der Seelentrost und die Glücksquelle nach den Kümmernissen mit Paul. Bei aller Liebe, die die Eltern dem kleinen Mädchen schenken, entgeht ihnen, wie sich der unglückliche Paul müht, einen Teil ihrer Liebe für sich zu gewinnen. Er sehnt sich danach, dass sie auch mit ihm spielen, ihm eine Geschichte vorlesen, ihn in den Arm nehmen. Er spürt, von seinen ständigen Kopf- und Augenschmerzen wollen sie nichts mehr hören. Er macht ihnen eine Freude, wenn er sagt: „Es geht mir gut.“ Wenn sie öfter eine Weile bei ihm blieben, die Mutter, der Vater, Arthur oder die kleine Ilse, das wünschte er sich von ihnen, spricht es jedoch nicht aus.

Hermine hat drei Freundinnen zum Kaffee geladen. Ihr hilft, ihnen ihr Leid klagen zu können, ihren Kummer mit Paul, der kein Ende nehmen will. Mit jeder neuen Operation haben sie und Hermine neu gehofft. Diese erneute Zuversicht hat ihnen Kraft gegeben und Mut. Nach dem Entfernen der Verbände im Krankenhaus dann wiederkehrend die Erkenntnis: vergeblich. Und die nachfolgende Aussichtslosigkeit, die Tränen und Depressionen bei Hermine. Neuer Anlauf zu neuer Hoffnung. Noch eine Operation. Zermürbendes Mühlrad aus Erwartung und Misslingen.

Paul und sein fünf Jahre älterer Bruder stehen vor der geschlossenen Wohnzimmertür. Dahinter hören sie Stimmen. Die beiden wissen, dass sie nicht stören dürfen, wenn Mutter ihre Freundinnen bei sich hat. „Was machen die da drin?“, fragt der siebenjährige Paul, einen Verband über beiden Augen nach einer erneuten Operation. Arthur hält ihn an der Hand.

„Weiß nicht, aber wart’ mal.“ Arthur schaut durchs Schlüsselloch. Er sieht, wie alle vier Frauen die Hände gespreizt auf dem Tisch liegen haben, sodass sich die Daumen und kleinen Finger der Nachbarinnen berühren. Mutter sagt: „Wenn du hier im Raum bist, so gib uns ein Zeichen.“ Alle schauen erwartungsvoll zur Kerze, die in der Mitte des Tisches steht.

„Ich bin schuld, dass sich nichts tut“, sagt Hermine, „ich kann mich heut nicht konzentrieren. Das gestrige Gespräch mit dem Augenarzt lässt mir keine Ruhe. Ihr wisst schon, der Paul zum siebenten Mal operiert hat.“

Arthur schaut Paul an. Deutlich kann man jetzt durch die geschlossene Tür vernehmen, was Mutter mit ihrer nicht zu überhörenden Stimme sagt: „Das linke Auge wird niemals sehen können. Ein Missgeschick bei einer Operation. Er wird ein Kunstauge bekommen.“ Bei diesem Satz springt die temperamentvolle Käthe auf, fährt sich mit ihrer Rechten in die Haare, die sie mit einem Kopfschwung nach hinten geworfen hat und ruft empört: „Ein Missgeschick?“ Ihre Haut glänzt vor Aufregung, ihre Wangen sind gerötet: „Und das nimmst du so einfach hin?“

„Ich habe unterschrieben, dass ich über das Risiko aufgeklärt wurde. Ich bin dankbar, dass der Arzt für das rechte Auge Hoffnung macht. Aber noch ist alles offen.“ Hermine hat keine Kraft mehr, sich zu ereifern. „Wie viel Hoffnung?“, fragt Henriette. „Wenn alles gut läuft, wird Paul ein Drittel Sehfähigkeit auf dem rechten Auge haben.“ Auch Henriette ist nun empört wie Käthe. „Nur ein Drittel?“ Hermine bleibt ruhig. Seit Jahren lebt sie mit Ungewissheit und Unglück. „Das wäre ein Glücksfall, wenn du bedenkst, dass er bis heute seinen Vater, seine Mutter, seine Geschwister noch nicht gesehen hat. Ein Segen wäre das nach seinem siebenjährigen Leben im Dunklen. Mehr ist nicht zu erwarten. Aber ob dieses Mal alles gut gegangen ist, wissen wir erst in drei Tagen, wenn der Verband entfernt wird.“

Hermine wagte kaum daran zu denken. Dieses Wechselbad zwischen Zuversicht und Misslingen in den letzten Jahren hatte ihren Nerven beträchtlich zugesetzt. Sie spürte, ihre Nervenkraft musste sie einteilen, wenn sie nicht schlappmachen wollte. Nicht auszudenken bei drei Kindern!

„Und wie geht’s nun weiter?“, will Henriette wissen. „Sobald der Verband entfernt werden kann, wird Paul eingeschult. Hoffentlich nicht auf einer Blindenschule.“

„Wie alt ist er jetzt?“, fragt Käthe.

„Sieben. Aber in seiner Entwicklung weit zurück, etwa wie ein Fünfjähriger. Er ist zu klein und viel zu zart. Die vielen Spritzen vor und nach den Operationen, die Medikamente, vor allem die Schmerzmittel. Die vor allem haben seinem Magen geschadet, sodass es mühevoll ist, ihn zu ernähren. Sport hätte gutgetan. Das geht auch nur, wenn ein Kind genug Kraft dafür mitbringt. Er ist einfach zurück. Die Strapazen waren für Paul enorm. Und für mich. Pauls Augenerkrankung hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet. Mindestens.“ Hermines Stimme klingt müde und resigniert, bevor sie aufseufzend weiter spricht: „Die schlaflosen Nächte; die Arzt- und Krankenhausbesuche; Pauls Unselbständigkeit. Er braucht einfach viel Hilfe. Er ist ja nicht allein da. Ein solches Arbeitspensum mit diesen seelischen Belastungen wünsche ich niemandem.“ Hinter der Tür ist eine große Stille eingetreten.

Paul, der mit Arthur vor der Tür gestanden hat, kaum noch atmend, fasst nach Arthurs Hand: „Komm, weg.“

Paul lässt die Hand seines Bruders los und tastet sich an den Möbeln und Wänden entlang zu dem Zimmer, das er mit seinem Bruder teilt. Dort hockt er sich in die Ecke, legt die Arme um die Knie und den Kopf auf die Arme. Er schaukelt vor und zurück, hin und her, als wenn er sich wiegt. Dann wird sein kleiner Körper von verzweifeltem Weinen geschüttelt. „Zehn Jahre … ihres Lebens … große Belastung“, flüstert er leise. Weder seine Mutter noch Paul selbst ahnen an diesem Tag, dass diese Worte wie ein Brandmal Pauls Leben prägen werden.

Als sich Paul beruhigt hat, tappt er leise, mit beiden Händen an Stühlen, Schränken, Türrahmen entlang tapernd, zur Küche und zum Spülbecken. Er fühlt die Tassen und Teller vom Kaffeekränzchen der Mutter. Er lässt Wasser einlaufen, tastet nach dem Spülmittel und gibt vorsichtig einen Tropfen hinein. Er beginnt, das Geschirr zu spülen, abzutrocknen und einzuräumen. Er braucht weit mehr Zeit als sein Bruder benötigen würde.

Arthur hat ein Buch geholt und ist auf den Boden geklettert. Dort hockt er auf einer staubigen Matratze, seinem Lieblingsleseplatz und schmökert. Er liest in jeder freien Minute ziemlich wahllos alles, was er vorfindet. Heut liest er „Der Hungerpastor“ von Wilhelm Raabe.

Paul hat den Abwasch beendet. Behutsam holt er den Besen aus dem Schrank und fegt die Küche. Das Küchenhandtuch, das auf den Boden gefallen ist und das er mit den Hausschuhen berührt, hebt er auf und hängt es über den Handtuchhalter. Dann fegt er weiter die Küche, wobei er wieder und wieder mit der linken Hand nach den Möbeln tastet. Mit dem Handfeger fegt er den Schmutz auf das Blech und fühlt, ob alles auf der Kehrschaufel ist. Er entleert den Kehricht in den Mülleimer, hängt Kehrschaufel und -besen wieder an ihren Platz, wäscht sich die Hände und tapert langsam und vorsichtig aus der Küche. Er greift kurz nach dem Verband auf seinen Augen, tapst die Treppe hoch in sein Zimmer und legt sich auf das Bett.

Währenddessen hört er, wie Mutter ihre Freundinnen verabschiedet, lautstark und aufgemuntert. Als alle gegangen sind, ruft sie nach Paul.

Er wäre gern in der Stille liegengeblieben, da hört er Mutter die Treppe hochstapfen. Sie betritt sein Zimmer, schiebt ihren Arm unter seinen Kopf, drückt ihn an sich und küsst ihn auf beide Wangen. „Mein Kleiner“, sagt sie liebevoll, „hast du dich hingelegt?“ Bevor er antworten kann, küsst sie ihn erneut und verlässt sein Zimmer.

Gern würde er mit jemandem bereden, was er heut erlebt hat. Aber mit wem? Vater ist selten da. Wenn Hermine ihren Kreis bei sich hat, spielt Gustav gern mit seinen Freunden in seiner Stammkneipe Skat. Oder ist im Baubetrieb seines Chefs, dessen rechte Hand er ist. Wenn Vater zu Hause ist, will Mutter mit ihm über ihre Anliegen reden. ‚Ist ja auch in Ordnung‘, denkt Paul. Und Arthur? Paul würde ihn nur beim Lesen stören. Arthur würde sich kaum für Pauls Kummer interessieren. Arthur findet sowieso, dass sich die meiste Zeit die Gespräche um Paul drehen. Wer will schon von Pauls Kopfschmerzen oder Augenschmerzen hören? Oder davon, was er heut durch den Türspalt mit angehört hat und lieber nicht gehört hätte?

Heut ist der Tag, den die Familie herbeigesehnt hat mit neuem Glauben, neuer Hoffnung und neuer Bangigkeit. Bereits sechsmal haben sie ein solches Ereignis hinter sich gebracht. Jedes Mal hieß es, auf das nächste Mal zu hoffen. Hermine und Gustav haben sich für den neuen Hoffnungstag gut angezogen, auch die beiden Kinder wollen mitkommen und haben ihre Sonntagssachen an.

„Wie geht’s, Paul?“, fragt ihn der Augenarzt. Paul ist so aufgeregt, dass ihm übel ist, was man ihm ansieht. Er ist sehr blass. Die blauen Adern an seiner Schläfe treten hervor. Er schluckt wiederholt. Der Arzt legt Paul auf sein Untersuchungsbett und beginnt, den Verband zu lösen. Die Mutter hält Pauls Hand, die sie mit der anderen streichelt. Sie würde gern etwas Tröstliches sagen, lehnt aber leere Worte ab. So sagt sie nur: „Du bist unserer tapferer kleiner Sohn.“

Der Verband ist entfernt. Die Lider beider Augen sind gerötet. Das rechte, jüngst operierte, ist sichtbar geschwollen.

Paul stutzt und stößt einen kleinen Schrei aus. Er blinzelt und zieht die Stirn kraus. „Mama“, sagte er dann und hält sich die Hand vor die Augen. „Paul, was ist?“, fragt sie aufgeregt. „Es ist so hell, das tut weh.“ Der Arzt legt eine dunkle Brille über Pauls Augen. „Was siehst du?“, fragt der Arzt, der sich dicht über Paul gebeugt hat und hoch angespannt ist. „Es ist hell!“, ruft Paul und zittert vor Aufregung. Der Arzt schaut das Kind an, sieht seine Erregung und legt ihm eine Hand auf die Stirn, die andere auf seine Brust. „Ganz ruhig, mein Kleiner“, sagt er besänftigend. „Erzähl mal, was du jetzt siehst.“ Die Mutter beugt sich dicht über ihren Sohn und sagt: „Paul, siehst du mich? Fass mal dahin, wo du etwas siehst.“ Paul greift mit seiner rechten Hand in ihr Gesicht und hält ihre Nase fest. „Meine Nase“, sagt die Mutter und bricht vor Glück und Freude in Tränen aus. „Ich sehe eine Nase“, sagt Paul und tastet jetzt zum Vergleich in sein eigenes Gesicht. Dann fasst er wieder in das Gesicht seiner Mutter. „Eine große Nase.“

Gustav tritt hinzu und spricht mit Paul: „Schau mal, dein Vater, erkennst du was?“

„Alles ist sehr hell, und da drin sehe ich einen großen, dunklen Kopf.“ Auch Hermine schluchzt aus tiefster Seele. Gerade hat der siebenjährige Paul den Umriss seines Vaters zum ersten Mal gesehen.

„Es ist geschafft“, sagt der Arzt und gratuliert Hermine, Gustav, Arthur und der kleinen Ilse. „Euer Bruder kann sehen“, sagt er zu den Kindern, „und wird von Tag zu Tag besser sehen können.“ Die Kinder nehmen Pauls Hand und streicheln sie. Ein Augenblick von großem Glück und Segen liegt über der Familie. „Danke, lieber Gott“, sagt Paul ganz leise. „Amen“, sagt Gustav, flüsternd vor Ergriffenheit.

Der Arzt erläutert den Eltern, die Bilder, die Paul wahrnehmen könne, seien zunächst verschwommen, das Erlebnis der ungewohnt großen Helligkeit lasse im Augenblick noch alles unschärfer erscheinen als in einigen Wochen, wenn das Auge sich an das Licht gewöhnt habe.

Der Arzt machte einen ersten Test für eine Sehhilfe, die Pauls Augenbilder erheblich schärfer gestalten würde. Die Brille würde nach und nach, dem Ausheilen folgend, individuell angepasst. Paul würde eine normale Schule besuchen können.

Im selben Jahr wurde er an der Grundschule angemeldet. Er gewöhnte sich an die Brille. Er erfuhr, dass ein Junge mit Brille, war er dazu noch klein und zart, bei seinen Mitschülern nicht besonders angesehen ist. Insbesondere beim Sport war er derjenige, der bis zuletzt dastand, wenn zwei Mannschaften von zwei starken Schülern ausgewählt wurden. Er wollte alles ändern, was er mit seinem eisernen Willen ändern konnte. Von seinen Eltern wünschte er sich Hanteln und einen Expander. Sein Vater unterstützte seinen Eifer und schenkte ihm ‚Müllers Handbuch der Athletik‘, ein Buch, in dem zahlreiche muskelbildende und kräftigende Übungen abgebildet und beschrieben waren. Paul war fest entschlossen, kräftig und sportlich zu werden. Die Brille war unabänderlich, für ihn aber ein Himmelgeschenk, trug sie doch den entscheidenden Teil dazu bei, ein normales Leben führen zu können. Die Nachteile, was seine Mitschüler anbelangte, nahm er in Kauf. An Worte wie Brillenschlange hatte er sich bald gewöhnt und konnte darüber lachen. Er wusste, dass es Schlimmeres gab, eine Welt ohne Licht und Augenbilder beispielsweise.

Liebe und Tod im Grenzland

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