Читать книгу Für immer und ein Vierteljahr - Sonja Roos - Страница 10

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Kapitel 6

Den Rest des Tages bekam Marc weder Jana noch Julius zu Gesicht. Marc hatte in der Garage nachgesehen, doch Julis Rad war nicht da, ein sicheres Indiz dafür, dass der Junge noch nicht zurückgekehrt war. Trotzdem blickte Marc sich nervös um, als er kurz darauf vor Julis Tür stand und an der Klinke zog, in der Hoffnung, in dessen Zimmer irgendeinen Hinweis auf seine Probleme zu finden. Doch sein Sohn hielt seine Privatsphäre hinter Schloss und Riegel. Ein Schild mit einem Totenkopf darauf forderte »Keep out! Danger!« Marc musste lächeln, doch sich im selben Augenblick eingestehen, dass er den Jungen kaum mehr kannte. Seit er mit Lydia zusammen war, war seine Beziehung zu Juli noch schlechter geworden. Doch statt um ihn zu kämpfen, hatte er es sich einfach gemacht und dessen Zorn und Ablehnung als gegeben akzeptiert. Marc musste sich eingestehen, dass er Juli sträflich vernachlässigt hatte. Wie sonst hätte sein kleiner Junge unbemerkt zu diesem fremden, zornigen Teenager mutieren können, der seinen Vater augenscheinlich hasste. Marc legte die Hand kurz an die Tür, als könnte er so einen kleinen Einblick in das Leben seines Sohnes bekommen. Doch natürlich erhellte ihn diese Geste auch nicht wirklich.

Weil Marc danach nicht mehr viel mit sich anzufangen wusste, kehrte er auf sein Zimmer zurück und legte sich auf das Bett. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und musste lächeln, weil Lydia ihm über 20 Nachrichten geschickt hatte. Sie fingen harmlos an, doch mit jeder neuen WhatsApp, die er öffnete, nahmen ihre Zeilen einen eindeutigeren Charakter an. Mehr noch als ihre plastischen Beschreibungen dessen, was sie mit ihm anstellen würde, sobald die drei Monate um waren, erregte ihn aber das Bild, das sie der letzten Nachricht angehängt hatte. Sie räkelte sich darauf im Eva-Kostüm auf dem Sofa, ihre katzenhaften Augen halb geschlossen und ihre Hände im Schoss vergraben. Marc musste sich räuspern. Er warf alle guten Vorsätze über Bord und antwortete ihr. Sofort, als er die Nachricht abschickte, erschienen die blauen Häkchen, die anzeigten, dass sie seine Worte gelesen hatte. »Ich wünschte, es wären deine Finger, die mich dort berühren«, hatte sie geschrieben. Marc stöhnte leise und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er die drei Monate überstehen sollte. »Bald«, schrieb er nur zurück. Dann stellte er das Handy aus und versuchte, etwas Schlaf zu finden, doch Bilder von Lydia fluteten seinen Kopf. Er brauchte etwas Abkühlung.

Nachdem er ein paar Runden durch den Pool gekrault war, wollte Marc nach drinnen gehen, um sich frische Sachen zu holen und eine lange Dusche zu nehmen. Auf dem Weg war er jedoch so in Gedanken versunken, dass er aus alter Gewohnheit Janas Schlafzimmer ansteuerte, statt zu seinem Domizil zu gehen. Erst als er in ihrem Reich stand, bemerkte er seinen Fauxpas, doch die Versuchung, sich etwas umzusehen, war größer als sein schlechtes Gewissen. Dieses ließ ihn vorsichthalber noch einen Blick auf den langen Korridor werfen, der aber leer und verlassen dalag. Marc schloss daraufhin leise die Tür und sah sich um. Alles wirkte fremd und doch irgendwie vertraut. Es roch nach ihrem Parfüm, nach frischer Wäsche und Lavendel. Er ging ein paar Schritte hinein und blieb vor ihrer Frisierkommode stehen. Cremetiegel, ihre silberne Bürste, eine Box Kosmetiktücher, nichts Besonderes. Er wusste selbst nicht, wonach er suchte, als er begann, ihre Schubladen aufzuziehen.

Wäsche, Schmuck, Gürtel, Taschen, alles ordentlich aufgereiht. In ihrem Nachttisch fand er diverse Bücher, einen E-Reader, ein paar Fotos von Julius und ganz unten, unter einem Stapel Frauenzeitschriften, ihr Hochzeitsbild. Er schluckte. Er hatte das Bild jahrelang nicht mehr gesehen. Wie jung sie beide damals gewesen waren. Jana sah auf dem Bild wunderschön aus; so glücklich, strahlend und unbeschwert, wie sie seit Jahren nicht mehr war. Sie blickte in dieser Momentaufnahme voller Liebe zu ihm auf, als wäre er ihr Held in schimmernder Rüstung. Und er selbst, voll jugendlichem Optimismus, hielt sie stolz und besitzergreifend im Arm. Er spürte, wie sich widersprüchliche Emotionen in ihm regten. Wehmut, vielleicht sogar Sehnsucht nach diesen längst vergangenen, sorgenfreien Tagen. Gleichsam vermischt mit Wut und Bitterkeit beim Gedanken daran, wo sie nun, 15 Jahre später, standen. Er ließ das Bild wieder in die Schublade fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Damit er keine Spuren hinterließ, ordnete er die Zeitungen wieder auf den Rahmen und schloss geräuschlos die Schublade. Gerade, als er ihr Zimmer wieder verlassen wollte, fiel sein Blick auf eine komische, eckige Kommode, die gleich neben ihrem Bett stand. Ein grauer Schrank mit nur einer Tür, der so gar nicht zu den ansonsten geschmackvoll aufeinander abgestimmten Holzmöbeln passen wollte. Er ging zurück und versuchte, die Schranktür aufzuziehen, doch anders als die Schubladen war diese verschlossen. Was seine Frau wohl darin verbarg, überlegte er, bevor er leise wieder aus dem Schlafzimmer schlich.

Jana parkte den Wagen im Hof neben seinem Porsche. Sie hatte Abstand gebraucht nach ihrem Zusammentreffen im Garten und war Einkaufen gefahren. Beim Anblick seines Wagens wurde ihr nun blitzartig wieder bewusst, dass Marc nun auch da sein würde, wenn sie heimkäme. Juli, du tust es für ihn, ermahnte sie sich wieder und stieg aus. Sie brachte die Tüten in die Küche und begann, die Sachen zu verstauen. Danach suchte sie sich die Zutaten zusammen, die sie fürs Abendessen brauchen würde. Jana hätte es früher nicht für möglich gehalten, dass ihr Kochen Spaß machte, denn sie war in einem Zuhause aufgewachsen, in dem ihre Mutter nicht einmal wusste, wo sich die Küche befand, geschweige denn, jemals eine so niedere Arbeit wie Kochen verrichtet hätte. Als Sandra sie aber vor ein paar Jahren, nach Marcs Auszug, zur Ablenkung zu einem Single-Kochkurs mitschleppte, hatte Jana entdeckt, wie beruhigend Kochen auf sie wirkte. Während Sandra den Kurs dafür nutzte, männertechnisch nichts anbrennen zu lassen, lernte Jana, wie man aus einfachen Zutaten ein Drei-Gänge-Menü zauberte. Als sie jetzt in den hellen, lichtdurchfluteten Raum trat, dessen Mitte von einer üppigen Kochinsel beherrscht wurde, spürte sie sogleich, wie sie innerlich ruhiger wurde. Und während sie Möhren schälte und unter Tränen Zwiebeln hackte, vergaß sie sogar für ein paar Augenblicke, wie verfahren ihr Leben gerade war.

Der Geruch von Essen lockte Marc schlussendlich aus seinem Zimmer, in das er zurückgekehrt war, nachdem er heimlich Janas Räume durchforstet hatte. Dort war er eingedämmert und hatte unsinniges Zeug geträumt. Von Lydia, die vor ihm kniete und ihren Kopf in seinem Schoß vergraben hatte. »Ich will dich verwöhnen«, hatte sie geflüstert und er hatte sich ihr erwartungsvoll entgegengereckt. Doch dann hatte er an sich herabgesehen und statt platinblonder Strähnen dort einen kastanienbraunen Schopf entdeckt. »Marc, ich hab’ dich so vermisst«, hatte Jana gemurmelt und er war mit einem Ruck erwacht. Jetzt fühlte er sich verwirrt und übellaunig, als er dem Duft von frisch gebratenem Gemüse folgte.

Anstelle der Haushälterin, die er am Herd erwartet hatte, stand Jana mit dem Rücken zu ihm und rührte geschäftig in einem großen Edelstahlwok. »Du kochst?«, entfuhr es ihm ungläubig.

Sie drehte sich zu ihm um, ihr Gesicht leicht gerötet durch den heißen Dunst, der aus der Pfanne stieg. Ein kleines Lächeln zog an ihren Mundwinkeln, doch sie presste die Lippen aufeinander und besann sich eines Besseren. »Es gibt vieles, das du nicht von mir weißt«, sagte sie betont kühl. »Bist du hungrig?«, fragte sie, während sie sich wieder zum Wok umdrehte.

»Ich könnte etwas vertragen«, gestand er, während sein Magen verräterisch knurrte.

»Okay, ich hab’s verstanden«, sagte sie und begann tatsächlich leise zu lachen. Er konnte nicht anders und musste grinsen, während er Teller und Besteck aus dem Küchenschrank holte, um den Tisch zu decken.

»Es war wirklich gut«, lobte Marc, nachdem er mit der zweiten Portion fertig war und sich träge im Stuhl zurücklehnte.

»Und wenn du es jetzt mit etwas weniger Überraschung gesagt hättest, hätte ich es fast als Kompliment aufgefasst«, sagte Jana und begann, den Tisch abzuräumen.

»Ernsthaft, seit wann hast du denn ein Faible fürs Häusliche?«, fragte er, während er ihr mit dem restlichen Geschirr in die Küche folgte. Sie schwieg einen Moment, sodass er schon dachte, sie wollte ihm keine Antwort geben. Doch dann drehte sie sich von der Spülmaschine weg und lehnte sich leicht gegen die Arbeitsplatte, während sie ihn prüfend ansah.

»Es entspannt mich. Ich habe damit angefangen, nachdem du ins Gartenhaus gezogen bist. Erschien mir sinnvoller, als Häkeln oder Mandalas malen.«

Die Worte hingen wie eine Wolke über ihm. Er fühlte sich in Janas Gegenwart unsicher, wie bei einem Spaziergang über ein Minenfeld. Trotzdem konnte er nicht anders als nachzubohren. »Es hat dir also doch etwas ausgemacht, als ich gegangen bin.«

Jana sah ihn wieder lange Zeit nur an. Es schien, als hätte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Doch statt zu antworten, drehte sie sich weg. »Das habe ich nicht gesagt. Es war mehr so, dass ich danach viel mehr Zeit hatte, weil ich nicht dauernd mit jemandem streiten musste.« Marc verdrehte die Augen. Während des Essens hatte er fast vergessen, wie groß die Kluft zwischen ihnen war, doch jetzt machten ihre harschen Worte einmal mehr deutlich, dass die Vergangenheit tiefe Risse bei ihnen beiden hinterlassen hatte.

»Darf ich dich daran erinnern, dass es deine bescheuerte Idee war, dass ich wieder hier einziehe? Ich bin nicht scharf darauf gewesen, erneut mit dir in den Ring zu steigen für diese unnützen, ermüdenden Streitereien.« Er hörte, wie Jana ein empörtes »pah« ausstieß, wie sich ihr Rücken wieder durchdrückte.

»Ermüdend und unnütz, das sind die richtigen Worte, genauso hatte ich das Zusammenleben mit dir in Erinnerung«, konterte sie bissig. Sie fuhr zu ihm herum, eine weitere Spitze auf den Lippen, doch das Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels ließ sie beide am Rande ihrer gerade eskalierenden Diskussion innehalten. Marc sah auf die Uhr.

»Es ist nach neun, durfte er so lange weg?« Sie zuckte die Schultern, eine Geste, die vielleicht Gleichgültigkeit hatte ausdrücken sollen, die aber eher ihre Resignation zeigte.

»Er lässt sich nichts mehr sagen«, flüsterte Jana so leise, dass er sie kaum verstand.

Marc ging in den Flur, wo Julius sich gerade aus einem Paar matschverklumpter Stiefel zwängte. »Wo warst du? Hast du mal auf die Uhr geschaut? Deine Mutter hat sich Sorgen gemacht.«

Julius sah ihn an, eins zu eins den frostigen Blick seiner Mutter imitierend. »Wer bist du noch mal? Ach ja, du bist doch der Typ, der im Gartenhaus haust und im letzten Jahr lieber seine Auszubildende geknallt hat, statt sich um die Gefühle meiner Mutter zu sorgen, also brauchst du jetzt auch nicht damit anzufangen.«

Jana war einen Schritt vorgetreten, fast so, als wolle sie Marc vor Julis Zorn abschirmen. »Julius, es reicht«, zischte sie leise, aber mit Nachdruck.

Er blickte sie kurz verunsichert an, doch dann wanderten seine Augen wieder voller Abscheu zu Marc. »Hast du nichts Besseres zu tun, als jetzt hier den besorgten Daddy zu mimen? Hat deine Schnalle dich vor die Tür gesetzt, oder warum bist du jetzt wieder aus deinem Loch gekrochen, um bei Mama schön Wetter zu machen? Nein, warte, jetzt weiß ich es, dir ist dein Spielgeld ausgegangen.« Die Ohrfeige hallte nach in der sich anschließenden Stille. Entsetzt starrte Julius auf seine Mutter, die gleichsam schockiert ihre Hand betrachtete. Die Wucht des Schlages hatte einen feuerroten Abdruck auf der Wange ihres Sohnes hinterlassen.

»Fickt euch!«

Die Obszönität wurde abgemildert durch das Zittern in seiner jungen Stimme und die Tränen, die verräterisch in seinen Augenwinkeln schimmerten. Er stürmte aus dem Flur in sein Zimmer, wo die Tür hinter ihm so hart ins Schloss fiel, dass die Gläser in der Vitrine klirrten. Marc sah seine Frau mit offenem Mund an. »Ich habe ihn noch nie geschlagen.« Sie sah flehentlich zu ihm, als erwartete sie von seiner Seite Absolution.

»Hättest du es nicht getan, ich hätte – und zwar noch um einiges fester. Und das wäre für einen Neuanfang sicher keine besonders gute Grundlage gewesen.« Ihre Augen hingen an ihm, tiefbraun und traurig.

»Nein, das wäre kein guter Neuanfang«, flüsterte sie. Einen Moment lang hatte er fast das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten. Doch dann straffte sie ihre Schultern und ließ die Emotionen wieder aus ihrem Blick verschwinden. »Und denk dran, morgen früh wirst du mich die Treppe hinuntertragen.«

Das Gefühl war fort. An seine Stelle war der Drang getreten, sie zu verletzen. »Na, davon träume ich doch schon seit Tagen. Ich muss nur meine Handschuhe finden, sonst bekomme ich noch Frostbeulen, wenn ich dich anfassen muss.«

Sie zog ihre eine Augenbraue wieder auf diese unnachahmliche Art fast bis zum Haaransatz. »Tja, du solltest dir extra gefütterte zulegen, denn niemand vermag es so gekonnt, mich auf Minustemperatur zu kühlen wie du, mein lieber Gatte.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ließ ihn stehen. Marc schüttelte den Kopf und musste trotz allem leise lachen. Er hatte fast vergessen, dass es manchmal auch durchaus gute Streitereien zwischen ihnen gegeben hatte, zumindest zu Beginn ihrer Ehe. Jana war leidenschaftlich und vertrat ihre Meinung vehement, jedoch mit Charme und Schlagfertigkeit. Sie parierte seine verbalen Attacken so gekonnt, wie es nie zuvor jemand ihm gegenüber vermocht hatte – und auch niemals wieder jemand nach ihr. Im Anschluss waren sie dann meist zusammen im Bett gelandet, wo es schon immer gut mit ihnen funktioniert hatte. Der Versöhnungssex jedoch war stets besonders intensiv gewesen … An dieser Stelle brach er seinen Gedankengang ab. Himmel, auf was hatte er sich da eingelassen?

»Wollen wir gleich noch telefonieren? L.« Marc starrte auf sein Handy, wo Lydias Nachricht verlockend leuchtete. Dann hörte er jedoch Jana. Wie sie mit leisen, tapsenden Schritten zum Bett ging, das knarzte, als sie sich darauf niederließ. Das Klicken des Lichtschalters und das Rascheln von Buchseiten. Er hatte ganz vergessen, wie hellhörig das Haus war. Jetzt mit Lydia zu telefonieren wäre, als würde man vor einem Stier mit einem roten Tuch wedeln. »Es geht leider gerade nicht. Ich melde mich.« Er schickte den Text ab und löschte das Licht, emotional so ausgelaugt, wie seit langem nicht mehr. Gerade, als er sich in seine Kissen drehen wollte, hörte er die erstickten Laute ihres Schluchzens. Die Eiskönigin weinte und es brach durch seine über Jahre errichteten Mauern und kratzte an einem Punkt, der tief unter den alten, unschönen Gefühlen verborgen lag. Er vergrub sich unter dem Kissen, um sie nicht mehr hören zu müssen.

Für immer und ein Vierteljahr

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