Читать книгу Für immer und ein Vierteljahr - Sonja Roos - Страница 9

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Kapitel 5

So musste sich jemand fühlen, der zu einem Himmelfahrtskommando geschickt wird, dachte Marc, während er noch ein paar letzte Sachen in einem Rucksack verstaute. Lydia hatte nicht viel mit ihm gesprochen, seit er vor zwei Tagen von Johannes zurückgekehrt war. Er ging in ihr Badezimmer, wo seine Zahnbürste neben ihrer in einem Glas stand und sein Rasierer neben ihrem in einer Wandhalterung hing. So profan es war, aber diese Normalität machte ihm schmerzlich bewusst, was er nun zurücklassen würde. Denn man konnte vieles sagen, aber das Leben mit Jana von Gödlitz war in den vergangenen Jahren nicht im Entferntesten normal gewesen. Er steckte seine Toilettenartikel in einen braunen Lederkulturbeutel und zog mit einem Ruck den Zipper zu, als er sie im Spiegel sah.

Sie stand mit einer Mischung aus Zorn und Trauer hinter ihm und spielte dabei gedankenverloren mit dem Brilliantring. »Es fühlt sich so endgültig an«, flüsterte sie und er sah verräterische Tränen in ihren Augen schimmern.

»Quatsch, das habe ich dir doch gesagt. Es ist nur ein Vierteljahr. Irgendwie werde ich schon einen Weg finden, dass wir uns in dieser Zeit auch sehen und hören. Sie wird mich ja nicht rund um die Uhr bewachen können«, sagte er und Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, konterte sie bissig. In der Tat war er ebenfalls nicht davon überzeugt, aber das würde er Lydia in diesem Moment natürlich nicht eingestehen. Als er zu ihr trat, drehte sie sich weg.

»Kriege ich keinen Kuss zum Abschied?«, fragte er leise. Sie wandte sich kurz zu ihm, doch die Art, wie ihre Lippen ihn streiften, war mehr eine Bestrafung als ein liebevoller Abschiedsgruß. Er wusste, dass er das verdiente. Seine Hand strich kurz über ihre Wange, dann ging er, ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen.

Marc überlegte auf der Fahrt von Lydia bis zu seinem Haus mehrmals, einfach zu wenden und wieder zu ihr zurückzufahren. Aber das würde ihnen beiden nicht helfen. Er hatte viel zu lange auf der Stelle getreten, sich seinem Schicksal ergeben, weil es um so vieles einfacher war, als zu kämpfen. Marc spürte, wie sich alles in ihm verknotete, als das hochherrschaftliche Haus mit den vielen Erkern und Türmchen vor ihm auftauchte. Es ragte protzig aus dem parkähnlichen Grundstück heraus, mehr Schloss als Wohnhaus. Die ersten Jahre dort waren trotzdem glücklich gewesen, manchmal sogar überwältigend. Vor allem, wenn er an das alte, heruntergekommene Haus dachte, in dem er allein mit seinem Vater aufgewachsen war.

Jana und er hatten manchmal, albern, wie frisch Verliebte eben sind, Fangen gespielt durch die langen Gänge und die vielen Zimmer und sich dann an Ort und Stelle geliebt, wenn einer den anderen erwischte. Das schien ihm eine Ewigkeit her zu sein. Er hatte sich schon seit Jahren verboten, so an seine Frau zu denken, die sehr deutlich machte, dass er für sie nicht mehr existierte. Sie war so kalt, so distanziert geworden, so ganz anders als die junge, leidenschaftliche Frau, die er einst geheiratet hatte. Die Frau, die ihn nachts weckte, weil sie ihn unbedingt in sich spüren wollte. Die ihm mit leuchtenden Augen ihren gemeinsamen, wunderschönen Sohn in die Arme gelegt hatte. Teufel, was tat er hier? Kaum war er dabei, sich auf diesen Deal einzulassen, ergriff Jana von Gödlitz Besitz von ihm. Er schüttelte sich, als könne er sie so aus den geheimen Winkeln seines Bewusstseins vertreiben und brachte den Wagen vor dem Haus zum Stehen. Dann trug er seine Habseligkeiten, die er bei Lydia gehabt hatte, zum Haupthaus, um danach den Rest seiner Sachen aus dem Gartenhaus zu holen.

»Wem gehört denn der Koffer?« Juli stieß das fremde Gepäckstück mit der Fußspitze an, als sei es ein gefährliches Tier, das gleich zum Leben erwachen könnte.

»Der Koffer gehört deinem Vater«, sagte Jana und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen, als sie sah, wie sich ein Ausdruck entsetzter Überraschung auf den jugendlichen Zügen ihres Sohnes breitmachte.

»Und warum steht der hier?«, fragte er mit unverhohlenem Abscheu.

»Dein Vater wird wieder hier einziehen«, informierte Jana ihren Filius und versuchte dabei, ihre Stimme möglichst neutral zu halten.

»Warum?« Julius Stimme, die ohnehin im Bruch war, stolperte bei diesem entsetzten Ausruf ein paar Oktaven nach oben.

»Wir wollen es noch mal miteinander versuchen«, sagte Jana, der diese Lüge fast im Hals stecken blieb, weshalb sie sich mehrfach leise räusperte.

»Was willst du denn mit dem Typen? Er betrügt dich, Mama, er ist ein Schlappschwanz.« Janas Augen weiteten sich erschrocken.

»Julius, ich will nicht, dass du so redest, er ist immerhin dein Vater.«

Ihr Sohn schnaubte voller Verachtung. »Ach ja, wann ist ihm das denn eingefallen?«, blaffte er.

»Mmh, ein warmer Empfang, genauso hatte ich mir das vorgestellt«, sagte Marc, dessen Ankunft weder Jana noch Julius bemerkt hatten. Er stand nun in der großen Halle, einen weiteren Koffer und eine Tasche im Schlepptau. »Hallo, Juli, ich freue mich auch, dich zu sehen.« Juli schnaubte verächtlich und ließ seine Eltern einfach stehen. »Sonniges Gemüt, das muss er von dir haben«, bemerkte Marc zuckersüß an seine Gattin gewandt.

»Was hast du erwartet Marc, dass er dir nach all den Jahren einen roten Teppich ausrollt? Du warst nie für ihn da«, zischte sie wütend.

»Ich wollte für ihn da sein, aber er hat mich nicht gelassen, genauso wenig wie du, Jana.« Sie standen sich wie zwei Kämpfer im Ring gegenüber. Großartig, das hat ja nicht lange gedauert, schoss es Marc durch den Kopf. Keine fünf Minuten und sie waren wieder da, wo sie scheinbar bei jedem Zusammentreffen endeten, in einem erbitterten Streit.

Jana schien etwas erwidern zu wollen, besann sich dann aber anders. Sie drehte sich um und marschierte den langen Flur herunter. »Du kannst das Gästezimmer haben, Olga wird deine Sachen auspacken«, rief sie ihm über die Schulter zu.

»Ja, Liebling, ich freue mich auch, wieder hier zu sein«, sagte er mehr zu sich selbst, während er sein Gepäck die Treppe hinauf in das Gästezimmer brachte, das an sein und Janas altes, gemeinsames Schlafzimmer angrenzte. In diesem Zimmer hatte Julius geschlafen, bis er vier Jahre alt war, denn es hatte eine Verbindungstür zum Hauptschlafzimmer, sodass er und Jana immer gleich bei ihm sein konnten, wenn er nachts weinte. Als er größer wurde, war das Zimmer zu klein geworden und sie hatten ihm eines der anderen, üppig vorhandenen Schlafzimmer im Untergeschoss als Kinderzimmer herrichten lassen. Das alte Kinderzimmer war irgendwann zum Gästezimmer umfunktioniert worden, da es damals schon den Anschein hatte, dass es mit einem zweiten Kind nicht klappen würde. Ganz abgesehen davon, dass Jana sich irgendwann völlig von ihm abwandte und Marc ihr kaum näher als ein paar Schritte kommen konnte, bevor er an ihrer kalten Fassade abprallte. Eine weitere Schwangerschaft hätte unter solchen Bedingungen an ein Wunder gegrenzt.

Jana war Juli zu seinem Zimmer gefolgt, nachdem Marc leise fluchend mit seinem Gepäck die Stufen zum Gästezimmer hinaufgestapft war. Nun klopfte sie zögerlich an Julis Tür. »Juli? Darf ich reinkommen?« Er antwortete nicht und so trat sie einfach ein. »Ich weiß, dass das für dich im Moment sicher alles verwirrend ist.« Juli starrte finster vor sich hin. »Du wirst es vielleicht jetzt nicht verstehen, aber irgendwann einmal, davon bin ich überzeugt.« Juli schwieg weiter. »Versuch, ihm das Leben nicht ganz so schwer zu machen«, sagte sie leise, während sie die Tür wieder zuzog, um ihm Raum zu geben, die Informationen zu verdauen.

»Erwachsene spinnen doch alle«, hörte sie ihn hinter der Tür halblaut brummen und lächelte. Das hatte er richtig erkannt. Als sie zurück in die Eingangshalle kam, waren alle Koffer verschwunden. Sie würde ihm nun Zeit geben, wieder hier anzukommen. Während sie an die frische Luft strebte, gestand Jana sich ein, dass sie floh. Es war zu ungewohnt, wieder mit ihm unter einem Dach zu sein. Auch sie brauchte Zeit, sich an diese neuen Umstände zu gewöhnen.

Marc hatte seine Sachen lieblos in dem alten Kleiderschrank verstaut, der nach Mottenkugeln roch und den er schon vor Jahren hatte auf den Sperrmüll werfen wollen. Da das hölzerne Ungetüm jedoch ein Erbstück von Janas geliebter Großmutter war, stand eine Entsorgung natürlich außer Frage. Unschlüssig schlenderte Marc zu der Verbindungstür und rüttelte am Griff, doch sie war natürlich verschlossen. »Hast du etwas Anderes erwartet?«, fragte er sich leise und gab sich selbst die Antwort mit einem Kopfschütteln. Er war sich ziemlich sicher, dass dieses Arrangement nichts mit irgendwelchen romantischen Anwandlungen zu tun hatte. Stattdessen verfestigte sich sein Eindruck, dass es hierbei irgendwie um Juli ging. Nach dessen frostigem Empfang vorhin, hatte Marc zwar nicht viel Hoffnung, dass eine Annäherung ein leichtes Unterfangen werden würde, aber er wollte es auf jeden Fall versuchen. Da Samstag war, musste er nicht in die Kanzlei, vielleicht hatte sein Sohn ja Lust, mit ihm einen Burger essen zu gehen. Marc verließ seine provisorische Unterkunft, um im Haus nach Juli zu suchen, doch die Zimmer waren alle verwaist. Er kam gerade vom Garten und wollte durch die Verandatür zurück ins Wohnzimmer, als er Jana und Julius hörte.

»Juli, wir hatten gesagt, dass wir noch darüber reden wollten, wo du neulich nachts warst.« Zwar hatte Marc die beiden von seiner Position aus nicht im Blick, konnte sich aber lebhaft vorstellen, wie sich der Unterkiefer seines Sohnes in trotziger Rebellion nach vorne schob. Das Schweigen breitete sich aus. »Und?« Jana klang zu fordernd, so würde sie ihn lediglich in eine Ecke treiben. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut. »Juli, du wirst mich nicht bis in alle Ewigkeit anschweigen können.« In diesem Moment konnte Marc nicht länger an sich halten und platzte aus seinem Versteck hinter der Terrassentür in den kleinen Dialog hinein.

»Warum nicht, du hast ihm doch jahrelang vorgelebt, wie man sein Gegenüber mit Schweigen mundtot macht.« Die Gemeinheit war ihm rausgerutscht, noch ehe er hatte nachdenken können. Während Julius ihn finster anstarrte, schnappte Jana hörbar nach Luft. An Julis Reaktion konnte Marc sofort ablesen, dass der Junge sich auf Janas Seite schlug. Er drehte sich zu ihm, sodass seine magere Gestalt schützend vor seiner immer noch um Fassung ringenden Mutter stand.

»Halt du dich da raus, Alter. Ich weiß ja kaum noch, wie du aussiehst, also denk nicht, du könntest jetzt hier auftauchen und einen auf Vater des Jahres machen.«

Während Julius wütend davon stapfte, starrte Jana ihn herausfordernd an. Sie hatte sich wieder gefangen, die Empörung hatte jedoch hektische Flecken an ihrem sonst so makellosen Hals hinterlassen. »Und was bitteschön sollte das? Du führst dich wie ein trotziges Kind auf, Marc. Aber etwas anders war von dir ja auch nicht zu erwarten.«

Er seufzte. »Es tut mir leid, okay? Mir sind die Sicherungen durchgebrannt, als du ihm gerade so zugesetzt hast.« Er suchte in ihrem Gesicht nach einer Regung, doch ihre Miene blieb verschlossen.

»Ich muss verrückt gewesen sein, dich wieder in sein Leben zu lassen«, sagte sie stattdessen bitter und sah an ihm vorbei in den weitläufigen Garten.

»Jana, fahr die Krallen wieder ein, ich weiß, dass ich manchmal ein Idiot sein kann, aber wenn ich nicht ganz falsch liege, dann geht es doch bei diesem merkwürdigen Arrangement nicht um uns, sondern um Juli. Er ist der Grund, oder?«, bohrte er nun sanfter nach und sie nickte zögerlich. »Vielleicht solltest du mir wenigstens sagen, was das Problem ist«, sagte er und versuchte, jegliche Feindseligkeit aus seiner Stimme zu halten. Jana stieß hörbar Luft aus. Sie bewegten sich auf ungewohntem Terrain, denn schon seit Jahren hatten sie kaum mehr ein freundliches Wort miteinander gewechselt. Jedoch konnte sie das ernste Interesse in seinem Gesicht sehen und schließlich machte all das keinen Sinn, wenn sie nicht endlich lernte, über ihren eigenen Schatten zu springen.

Wenn sie nicht wie sonst mit hohen Schuhen und durchgedrücktem Rücken vor ihm stand, waren sie in etwa gleich groß, ihre Nasenspitze knapp auf Höhe seiner Lippen. Sie wirkte müde und verloren, wie sie sich nun mit beiden Händen über die Augen rieb. Sie trug kein Make-up, sodass sie jünger aussah und er die paar Sommersprossen ausmachen konnte, die sich wie kleine Dreckspritzer über ihren ansonsten ebenmäßigen Teint zogen. Er mochte ihre Sommersprossen, sie hingegen versuchte stets, sie zu verdecken. Es waren 31. Er hatte sie einmal gezählt, in einer Nacht, in der sie atemlos und in­­einander verschlungen auf dem Teppich in der großen Bibliothek geendet waren nach einer weiteren Runde Fangen spielen. Mein Gott, es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein, vielleicht ein ganzes Leben.

»Ich weiß nicht, was los ist. Seit er auf der neuen Schule ist, hat er sich verändert. Er umgibt sich mit komischen Freunden, ich denke, die haben etwas damit zu tun, aber ich weiß es nicht genau.« Sie ließ sich in einen Sessel fallen und starrte weiterhin blicklos ins Grüne. »Ich glaube, dass er sich in irgendetwas Verbotenes hat verstricken lassen.« Sie seufzte schwer. »Immer schleppt er diesen blauen Rucksack mit sich herum und ich darf da nicht reinsehen. Ich darf diesen blöden Rucksack nicht mal anpacken, sonst verliert er schon die Nerven.« Marc ließ sich ihr gegenüber auf den anderen Stuhl sinken.

»Du vermutest doch keine Drogen, oder?«, fragte er ungläubig.

»Ich weiß es nicht. Aber dafür bist du hier. Hilf mir, das herauszufinden. Hilf mir, dass er wieder das Gefühl bekommt, zuhause einen Rückhalt zu haben. Zeig einmal im Leben Verantwortung und kümmere dich.« Sie biss sich auf die Lippen. Das hätte sie nicht sagen sollen, doch jetzt war es heraus. Er wollte etwas erwidern, doch Jana hob beschwichtigend die Hand. »Das war unnötig, verzeih.« Marc nickte kurz, um ihr zu signalisieren, dass er ihre Spitze ohne eine Erwiderung weg­stecken würde. Sie holte zittrig Luft. »Er wird dich niemals akzeptieren, wenn du mich vor seinen Augen so angehst, wie gerade eben. Ich glaube, wenn wir ihm das Gefühl vermitteln, dass du für mich da bist, wird er lernen, dir auch wieder dahingehend zu vertrauen, dass du als Vater auch für ihn da bist.«

Marc wollte nun etwas sagen, doch Jana kam ihm erneut zuvor. »Mir ist gleich, was du in Wirklichkeit mir gegenüber denkst oder fühlst.«

Marc sah sie durchdringend an. »So, ist es das?« Bei diesen Worten hatte er sich näher zu ihr gebeugt, sein Blick glitt dabei herausfordernd über ihr Gesicht.

Jana spürte, wie sich ihre Wangen röteten. »Es geht hier nicht um mich oder dich, Marc, es geht hier nur um unseren Sohn.« Mit diesen Worten stand sie auf und drückte ihren Rücken durch.

»So weit war ich schon, deshalb bin ich ja überhaupt hier«, antwortete er eine Spur zu laut und sprang ebenfalls auf. Sie standen nun so nah beieinander, dass Jana die goldenen Sprenkel in seinen braun-grünen Augen ausmachen konnte. Sie spürte ein nervöses Flattern im Magen. Seit Jahren waren sie sich nicht mehr so nahegekommen. Vor allem aber hatten sie als Eltern lange nicht mehr auf der gleichen Seite gestanden. Es fühlte sich merkwürdig an, aber sie musste sich eingestehen, dass es auch eine Erleichterung war, nicht mehr die ganze Last der Sorge um Juli allein zu tragen. Vielleicht führte ihr verrückter Plan ja am Ende doch noch zu etwas.

Julius war zu seinem Fahrrad gestürmt und ließ damit seine streitenden Eltern hinter sich. Er fuhr ziellos durch die Straßen, ließ sein Mountainbike ungebremst die Berge herunterrasen, um Abstand zu seinem komplizierten Leben zu bekommen. Ihm schwirrte doch schon genug im Kopf herum und jetzt stand auf einmal sein Vater wieder vor der Tür. Juli schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Er hätte ja mit vielem gerechnet, aber damit nicht. Schon seit Jahren waren seine Eltern zerstritten, sein Vater lebte seit etwa zwei Jahren im Gartenhaus und kam nur rüber, um den Kühlschrank zu plündern oder wenn es galt, den schönen Schein zu wahren, an Weihnachten etwa oder anderen Feiertagen. Juli hatte irgendwann aufgehört zu hoffen, dass sich die beiden wieder versöhnen würden und stattdessen begonnen, seinen Vater zu hassen. Vor allem, nachdem diese Lydia auf der Bildfläche aufgetaucht war. Juli schnaubte wütend. Er lenkte sein Rad in einen Wald und knallte jetzt über laubbedeckte Wege, Wurzeln und Erde. Weil es ein teures Rad war und gut gefedert, spürte er die Schläge kaum, die Erschütterungen liefen eher wie Wellen durch seine Arme. Juli kehrte mit den Gedanken wieder zu seinem Vater zurück. Und der anderen. Vor etwa einem Jahr war diese Lydia aufgetaucht, die aussah wie eine Katze und sich auch so aufführte. Dauernd hing sie schnurrend am Arm seines Vaters, ihr viel zu helles, überdrehtes Lachen konnte er von seinem Zimmer aus hören, wenn sie drüben im Gartenhaus zu Besuch war. Juli war mal zu einem total verkrampften, öden Abendessen bei ihnen gewesen, wo sich diese Frau aufspielte, als wolle sie ihn vom Fleck weg adoptieren. Juli hier, Juli da; mit ihren eklig langen, rot lackierten Nägeln wuschelte sie ihm dauernd durchs Haar, was seine Abneigung noch befeuerte. Ganz zu schweigen davon, dass es seine Mutter jedes Mal verletzte, wenn die andere drüben war. Er konnte es daran sehen, wie sie am Fenster stand und rüber sah und ihre Augenbrauen sich zusammenzogen und ihr Rücken sich durchdrückte.

»Warum sagst du denn nichts? Es ist dein Haus und er dein Mann«, hatte Juli sie vor ein paar Monaten angefahren, als sie wieder so verloren am Fenster stand.

»Das verstehst du nicht«, flüsterte sie nur und ließ ihn frustriert und verzweifelt stehen. Er hatte gegen die Wand unter dem Fenster getreten, einfach, weil er ein Ventil für seine ganze, aufgestaute Wut brauchte, doch geholfen hatte das nicht. Im Gegenteil, danach konnte er tagelang kaum auftreten, da sein dicker Zeh verstaucht war. Manchmal wünschte Juli sich, nicht erwachsen werden zu müssen, denn so, wie er das sah, war diese ganze Angelegenheit ziemlich ätzend.

Für immer und ein Vierteljahr

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