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Dienstag, 13. April 2021


Sie tastete im Dunkeln nach der Quelle der Störung, schmiss fast ihre Wasserflasche vom Tisch und bekam das Smartphone schließlich zu fassen. „Mhm?“, murmelte sie verschlafen.

„Bitte, helfen Sie mir!“ Eine Männerstimme. Sie klang alarmierend.

„Wer ist da?“ Kathrin rieb sich die Augen und setzte sich aufrecht hin.

„Es geht um ihren Freund, Jeremy. Bitte!“ – die Stimme klang flehentlich - „Sie müssen uns helfen.“

Kathrin war sofort hellwach. „Ist Jeremy etwas zugestoßen?“

„Noch nicht, aber er sagt, das ändert sich bald, wenn Sie nicht sofort herkommen!“

„Wer ist er?“ Sie warf einen Blick auf das Display. Unterdrückte Rufnummer.

Für eine Sekunde wurde es totenstill. „Er sagt, wenn Sie nicht kommen, tötet er erst ihn und dann mich!“

Kathrin schnürte es die Kehle zu. War das ein Scherz? Wollte ihr jemand einen üblen Streich spielen? Die Stimme klang nicht danach. „Lassen Sie mich mit Jeremy sprechen!“

„Er ist bewusstlos. Beeilen Sie sich, sonst ist es zu spät für ihn.“

Kathrin schlug das Herz bis zum Hals. „Geben Sie mir die Adresse!“

Die Stimme presste einen Straßennamen mit Hausnummer hervor, dann war die Verbindung weg.

Scheiße, was war das denn? Kathrin schlug die Decke zurück und rannte zum Schrank. Jeremy war in Gefahr! Er und ein ihr unbekannter Mann. Nur wieso? Sie wählte Jeremys Nummer, erreichte aber nur die Mailbox. Sie schlug mit der Faust auf den Schrank. Sein Smartphone war nachts ausgeschaltet. Sie überlegte, den Notruf zu wählen. Er sagt, wenn Sie nicht kommen, tötet er erst ihn und dann mich! Sie konnte das Risiko nicht eingehen. Eilig zog sie Pullover und Jeans an, schmiss ihre Jacke über und sprintete aus dem Haus, während sie Kerns Nummer wählte.

„Kern?“, murmelte er ebenso verschlafen, wie zuvor sie.

„Ich bin‘s!“, rief sie alarmiert. Inzwischen war jede Müdigkeit verflogen. „Markus, wir haben einen Notfall, ich habe soeben einen Anruf von einem Mann erhalten, der bedroht wird und meine Hilfe braucht.“

„Was?“ Kern wirkte völlig überrumpelt.

„Ich kenne keine Details. Der Anrufer nannte keinen Namen, nur dass Jeremy in Gefahr ist. Es klang verdammt ernst und jemand will mich sofort sehen, sonst tötet er den Mann.“

„Ok.“ Kern schien noch etwas neben sich zu stehen. „Moment mal, WAS? Woher kennt der Anrufer dich?“

„Keine Ahnung, ich bin schon unterwegs!“

„Kathrin, warte. Du fährst bitte nicht alleine irgendwo hin, wer weiß was da los ist. Gib mir die Adresse!“

Kathrin gab sie ihm durch und verließ mit quietschenden Reifen den Parkplatz. Das Display ihres Handys zeigte kurz nach zwei. Es war mitten in der Nacht und die Straßen wie leergefegt. Der Anrufer hatte ihr eine Adresse nahe dem Berliner Platz genannt.

Keine zehn Minuten später hatte sie, mithilfe ihres Navis, die Breitscheidstraße gefunden und suchte die Hausnummern ab.

Kern verließ die Bundesstraße und fuhr kurz darauf am Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle vorbei bis zu der großen Kreuzung. Mehrere U-Bahnlinien kreuzten hier die Verkehrsstraßen, aber im Moment war der Platz leer. Er bog erst rechts, in die Silcherstraße, entlang der Grünanlage, und anschließend links, in die um die Uhrzeit wenig befahrene Breitscheidstraße, ab. Eine halbe Stunde war seit Kathrins Anruf vergangen. Kern hatte im Halbschlaf kaum verstanden, wovon seine Kollegin gesprochen hatte. Irgendwas von einem Anrufer, der bedroht wurde und ihre Hilfe brauchte? Kern rieb sich den Nacken. Es klang alles sehr seltsam und verwirrend. Wenn jemand nachts Hilfe brauchte, warum wählte er dann nicht den Notruf? Der Anrufer musste sie kennen, aber ein Name war nicht gefallen.

Kern hatte beschlossen, sich sofort in seinen BMW zu setzen und zu der genannten Adresse zu fahren. Er konnte Kathrin nochmal von unterwegs aus kontaktieren. Leider wurde daraus nichts. Auf seinen Anruf antwortete nur die Mailbox. Irgendwas war da oberfaul. Er hätte mit seinem Verbot deutlicher werden müssen, aber wenn sich Kathrin erst mal was in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht mehr zu bremsen. Vielleicht war alles halb so wild und jemand wollte sich mit dem Anruf nur wichtig machen. Seine innere Stimme sagte ihm jedoch etwas anderes. Und aufgrund seiner dreißigjährigen Erfahrung bei der Polizei, täuschte ihn sein Gefühl nur selten.

Er erreichte die genannte Adresse und entdeckte sofort Kathrins weißen Peugeot, der davor geparkt war.

Von ihr selbst keine Spur.

Er betrachtete den Wohnblock, ein eckiges Backsteingebäude, das nur schwach von einigen Straßenlaternen beleuchtet wurde. Daneben befand sich eine geschlossene Kneipe. Alles wirkte friedlich. Aber der Schein war trügerisch. Am liebsten wäre er sofort losgestürmt, aber seine Vernunft hielt ihn zurück. Er nahm das Funkgerät zur Hand. „Kern an Zentrale, bitte kommen.“

Es rauschte. „Zentrale, wir hören Sie.“

„Schicken Sie zwei Streifenwagen in die Breitscheidstraße in Stuttgart-West. Wie es aussieht, haben wir hier einen Notfall. Möglicherweise Verletzte, genaueres ist nicht bekannt. Informieren Sie bitte auch gleich mein Team!“

„Verstanden. Kollegen sind unterwegs.“

„Danke.“ Damit beendete Kern die Verbindung und stieg aus. Das Etagenhaus lag still da, nirgends brannte Licht. Auch auf der Straße war kein Mensch unterwegs, was angesichts der Uhrzeit nicht weiter verwunderlich war. Er ging zum Hauseingang und suchte die Klingelschilder ab. Super, dachte Kern genervt. Zwölf Parteien und er hatte keinen Namen. Er rief Kathrin erneut auf dem Handy an, aber es ging wieder nur die Mailbox ran. Sicherheitshalber probierte er die Türklinke, und stellte überrascht fest, dass die Tür unverschlossen war. Ein muffiger Geruch schlug ihm im Treppenhaus entgegen. Kern drückte den leuchtenden Knopf an der Wand und das Licht ging an. Er blinzelte aufgrund der plötzlichen Helligkeit.

„Kathrin?“ Er erhielt keine Antwort. Das ungute Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte, wuchs. Kern suchte das Erdgeschoss ab, aber alle Türen waren verschlossen. Kaum ein Laut war zu hören. Er stieg über die Treppe in den ersten Stock und sah sich um. Hier wohnten zwei weitere Parteien, aber beide Türen waren geschlossen. Er nahm sein Handy zur Hand und wählte erneut Kathrins Nummer. Es erklang ein Freizeichen. Komm schon Kathrin, geh ran! Er stieg eine weitere Etage nach oben, das Handy fest ans Ohr gepresst. Dann schaltete sich die Mailbox ein. Kern fluchte und suchte die nächste Etage ab. Die Tür zu seiner Linken war einen Spaltbreit geöffnet. Kern gab über Funk durch, dass er eine Wohnung in der zweiten Etage betrat; das ersparte den Kollegen die Suche. Er steckte das Handy ein und holte seine Waffe hervor. Die Klingel wies keinen Namen aus. Hinter dem Türspalt war nichts zu erkennen. Kern betrat langsam die Wohnung.

„Hallo?“ Er erhielt keine Antwort. „Kathrin?“

Das Licht im Treppenhaus beleuchtete eine hüfthohe Kommode auf der rechten Seite, und links hinter der Tür konnte Kern einen großen Schrank ausmachen. Seine Hände tasteten in der Dunkelheit nach einem Lichtschalter. Er entdeckte einen an der Wand und drückte ihn. Nichts geschah. Kern hatte ein flaues Gefühl im Bauch. Er durchquerte langsam den schmalen Raum, der in weitere Zimmer abzweigte, allerdings ohne Tür dazwischen. In diesem Augenblick erlosch das Licht im Treppenhaus und Kern stand in völliger Dunkelheit. Er fluchte, als er feststellte, dass er seine Taschenlampe im Auto vergessen hatte. Stattdessen kramte er sein Handy heraus und aktivierte die Taschenlampe. Er entschied sich für den Raum zu seiner Rechten und ließ den Schein des Handys durch das Zimmer schweifen. Er konnte einen Esstisch mit mehreren gepolsterten Stühlen, sowie eine Kochnische ausmachen. An der Wand hingen einige gerahmte Fotos. Auch dieser Raum war nicht besonders groß. Der Schein glitt nach links, wo ein weiterer Raum angrenzte. Kerns Herz machte einen Satz. In der geöffneten Tür lag jemand. Kern eilte hin und fand seine Kollegin zusammengekrümmt auf dem Fußboden, die Waffe lag neben ihr.

„Kathrin!“, rüttelte er sie. „Kathrin, hörst du mich?“ Seine Kollegin rührte sich nicht. Panik ergriff Kern. Er legte zwei Finger auf ihren Hals und ertastete ihren Puls. Erleichtert atmete Kern aus, als er die regelmäßigen Schläge wahrnahm. In diesem Moment gab Kathrin ein ächzendes Geräusch von sich.

„Kathrin, was ist passiert?“

Sie murmelte irgendetwas Unverständliches.

„Ganz ruhig, der Krankenwagen wird gleich da sein.“

Ein Schaben ließ ihn hochfahren. Was war das? Er bewegte den Schein der Taschenlampe nach oben und hielt in der Bewegung inne. Der Lichtkegel hatte einen Mann erfasst. Er lag rücklings auf dem Bett, die Arme mit Handschellen an den Bettpfosten gefesselt. Sein Oberkörper war nackt und übersät mit blutigen Schrammen. Das helle Bettlaken, das ihn nur teilweise bedeckte, war in Blut getränkt. Sein Kopf war eigenartig zur Seite gekrümmt und sah aus, als hätte man ihn mit einem Baseballschläger zertrümmert. Großer Himmel, flüsterte Kern und erhob sich. Was war hier passiert? Langsam umrundete er das Bett, nicht ohne die Taschenlampe von der Leiche abzuwenden. Er bewegte sich vorsichtig vorwärts, um keine Spuren zu verwischen. Ein knarzendes Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Es klang, als habe jemand eine Schranktür geöffnet.

„Hallo?“

War der Täter etwa noch hier? Kerns Puls beschleunigte sich. Er warf einen erneuten Blick zu Kathrin, die nach wie vor auf dem Boden lag. Er musste ihr helfen, aber nicht ohne sicher zu sein, dass hier niemand war. Er betätigte abermals einen Lichtschalter an der Wand, aber das Ergebnis war dasselbe. Offenbar hatte sich jemand an der Sicherung zu schaffen gemacht. Der angrenzende Raum war durch eine Tür getrennt, die halb geöffnet war. Kern drückte sachte dagegen. Die Tür öffnete sich geräuschvoll und er ging hindurch. Es war ein schmaler, langgestreckter Raum, der links wieder im offenen Eingangsbereich mündete. Auf der rechten Seite befanden sich zwei weitere Räume und ein Balkon am Ende des Flurs. Er warf einen kurzen Blick in den ersten Raum. Ein kleines Wohnzimmer. Kern konnte eine gelbes, abgenutztes Sofa, sowie einen Holztisch, Fernseher und Kinderspielzeug ausmachen. Der Tote auf dem Bett hatte offensichtlich Familie. Das Zimmer daneben war das Bad.

Kern lauschte. In der Ferne konnte er nahendes Sirenengeheul ausmachen. Aber da war noch etwas. Ein weiteres knarzendes Geräusch. Schritte. Kern hielt den Atem an. Sie kamen aus dem Eingangsbereich. Er schlich auf Zehenspitzen an der Kommode vorbei. Wieder ein Knarzen. Er spähte hinter dem Bücherregal hervor. Licht aus dem Treppenhaus flutete die Wohnung. Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Eine dunkle, große Gestalt stand direkt an der Eingangstür. In der Hand hielt sie eine Pistole.

Er trat aus der Deckung. „Hände hoch und Waffe weg!“, brüllte Kern.



Ohnmacht

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