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Damals ...

Der Sportunterricht war zu Ende. Sie hatten Volleyball gespielt. Nathalie war es schwergefallen, dem Ball hinterher zu rennen, da sie sich vor Schmerzen kaum bewegen konnte. Ihr Unterleib tat höllisch weh und das spürte sie bei jedem Schritt. Als ihre Sportlehrerin sie darauf ansprach, warum sie sich so merkwürdig bewegte, behauptete sie, vom Fahrrad gefallen zu sein. Es stimmte zwar nicht, aber sie konnte der Sportlehrerin unmöglich die Wahrheit sagen.

Kurz darauf verschwand sie zusammen mit den anderen in der Umkleidekabine. Sie ließ sich bewusst Zeit, damit die Klassenkameradinnen nichts von den Blessuren am Oberkörper mitbekamen.

„Nathalie, du lahme Schnecke, beeil dich mal!“ Lydia, die sich bereits vollständig umgezogen hatte, stand auffordernd an der Tür. „Du hast ja noch nicht mal dein Shirt gewechselt. Warum braucht das denn so lange?“

„Ich komme gleich. Geh ruhig schon mal vor.“

„Beeil dich“, drängelte ihre Freundin. „Der Bus fährt in fünf Minuten.“ Damit verschwand Lydia aus der Umkleide, die Sporttasche über ihre Schulter gehängt. Nathalie wartete noch einen Moment und zog dann erst das verschwitzte T-Shirt aus. Sie betrachtete prüfend ihren Oberkörper. Es waren mehrere blaue Flecken zu sehen, dort wo ihr Vater sie laut stöhnend aufs Bett gedrückt hatte. Außerdem mehrere Striemen an den Handgelenken, die durch die Fesseln kamen.

In diesem Moment klopfte es an der Tür und ihre Sportlehrerin betrat den Raum. Hastig zog Nathalie ein frisches T-Shirt aus ihrem Rucksack und streifte es sich über.

„Ach, Nathalie.“ Frau Leisten, die Sportlehrerin, kam auf sie zu. „Ich hatte gehofft, dass ich dich noch antreffe.“

Nathalie hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Was wollte die Leisten? „Ich muss mich beeilen. Der Bus kommt gleich!“ Eigentlich musste sie auch noch die Hose wechseln, aber dann würde Frau Leisten die Verletzungen an den Oberschenkeln sehen, die Nathalie heute Morgen im Spiegel aufgefallen waren. Daher beschloss sie, die Jogginghose einfach anzulassen. Sie stand auf und wollte nach ihrem Rucksack greifen, aber die Sportlehrerin hielt sie zurück. „Es dauert nicht lange.“

Nathalie warf einen Blick zur Tür. Sie wollte sich nicht unterhalten. Sie blickte zu Frau Leisten, die sie noch immer am Arm hielt. Sie gehörte mit ihren Anfang dreißig zu den jüngeren Lehrkräften und hatte dunkelbraune, leicht gewellte Haare. Nathalie mochte sie. Die Lehrerin besaß ein hübsches, vertrauenerweckendes Gesicht und schaute sie aufmerksam an.

„Na, gut“, lenkte Nathalie ein.

„Danke.“ Frau Leisten ließ ihren Arm los und setzte sich neben sie. „Wie ist das passiert?“ Sie deutete auf Nathalies Handgelenk.

„Das ist nichts.“ Nathalie bedeckte die Striemen mit ihrer anderen Hand, die allerdings ebenfalls Verletzungen aufwies. Schnell ließ sie die Hände in ihre Hosentasche gleiten.

„Nathalie, das ist doch nicht nichts!“ Die Sportlehrerin sah sie besorgt an. „Zeig mal her!“

Nathalie wollte ihr gar nichts zeigen, aber Frau Leisten ließ nicht locker. Schließlich holte sie die linke Hand aus ihrer Hosentasche und streckte sie der jungen Lehrerin entgegen. Diese nahm den Arm und begutachtete die roten Striemen, die sich deutlich abzeichneten.

„Nathalie, das sieht nicht gut aus. Das kommt doch nicht von einem Fahrradunfall. Was hast du denn da gemacht?“ Es klang nicht vorwurfsvoll. Sie bat Nathalie, ihr auch den anderen Arm zu zeigen, wo die gleichen Spuren zu erkennen waren.

„Wir haben nur gespielt“, erklärte Nathalie schulterzuckend.

„Und was für ein Spiel war das?“ Die Lehrerin sah Nathalie überrascht an.

„So mit Fesseln. Lydia und Christoph waren die Polizei, ich die Diebin und deshalb haben sie mir Fesseln angelegt, um mich zu verhaften.“ Nathalie dachte an das Spiel “Räuber und Gendarm“. Das Fangspiel lief natürlich ohne Fesseln ab. Wer erwischt wurde, schied nur bis zur nächsten Runde aus. Aber das brauchte Frau Leisten nicht zu wissen.

Die Lehrerin musterte sie skeptisch. „Warst du mit dem Fesseln einverstanden?“

Nathalie nickte eifrig. „Das gehört zum Spiel. Ist ganz normal.“ Hoffentlich glaubte Frau Leisten ihr und kam nicht auf die Idee, die Direktorin oder gar ihre Eltern zu informieren. Das würde großen Ärger geben und am Ende dachte ihr Vater noch, sie hätte ihr Geheimnis ausgeplaudert. Sie wollte auf keinen Fall, dass er in Schwierigkeiten geriet oder gar von ihr enttäuscht war.

Die Lehrerin wirkte alles andere als überzeugt. „Nathalie, ich würde dir ja gerne glauben, aber es ist nicht das erste Mal, dass du mit Blessuren im Sportunterricht auftauchst.“ Sie hielt inne und beobachtete Nathalie besorgt. „Zieh mal bitte dein T-Shirt hoch.“

Was sollte das denn? Das ging Frau Leisten doch überhaupt nichts an. Als Nathalie nicht reagierte, rutschte die Lehrerin ein wenig näher an sie heran.

„Nathalie, bitte. Ich habe eine Fürsorgepflicht dir gegenüber und möchte nur sichergehen, dass du keine weiteren Verletzungen hast.“

Nathalie realisierte, dass es sinnlos war, zu widersprechen. Frau Leisten ließ sich nicht abwimmeln. Widerwillig zog sie ihr Shirt hoch, um es sofort wieder runterzuziehen. Aber es genügte. Die Lehrerin bemerkte die blauen Flecken. „Das hab ich mir schon fast gedacht“, flüsterte sie. „Stammen die auch von einem Spiel?“

„Mhhm.“ Nathalie nickte. Plötzlich spürte sie, wie Tränen in ihr hochstiegen. Sie durfte auf keinen Fall anfangen zu weinen. Sonst würde Frau Leisten alles merken und sie hatte es ihrem Vater geschworen. Sie durfte nichts sagen.

Die Lehrerin kniete sich vor ihr hin und nahm ihre Hände. „Nathalie, ich weiß, dass du daheim Probleme hast.“

Nathalie sah sie angsterfüllt an. Wie konnte sie davon wissen?

Frau Leisten entging ihr Blick nicht. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass deine Mutter manchmal zu viel trinkt.“ Sie wartete einen Augenblick, aber Nathalie hatte ihren Blick starr zu Boden gerichtet. „Stimmt das?“

Nathalie reagierte nicht. Seit ihre Mutter einmal besoffen auf einem Elternabend erschienen war, hatte sich das Problem herumgesprochen. Ihr Vater war stinksauer gewesen, und hatte seitdem der Mutter verboten, dass sie zu Elternabenden ging.

„Wird deine Mama manchmal wütend? Schlägt sie dich?“

Nathalie dachte an die Szene von gestern Abend. „Ja, sie ist schon manchmal sehr sauer. Aber sie tut mir nichts. Ich bin nur sehr ungeschickt. Lauf ständig irgendwo dagegen oder falle vom Fahrrad. Neulich bin ich gestolpert und die Treppe runtergefallen.“ Sie richtete ihren Blick wieder zu der Lehrerin. Hatte sie sie überzeugt?

Frau Leisten atmete tief aus. Offensichtlich nicht. „Nathalie, ich verstehe, dass du deine Mutter decken willst, aber es geht nicht, dass sie dir wehtut.“

„Sie tut mir nichts!“, rief Nathalie eindringlich. „Sie streitet sich nur manchmal mit Papa. Aber sie würde mir nie wehtun.“ Das stimmte tatsächlich. Mama würde ihr niemals ein Haar krümmen.

Frau Leisten schien ihr nicht zu glauben.

„Bitte“, bettelte Nathalie. „Ich werde in Zukunft bestimmt vorsichtiger sein.“

„Also gut.“ Die Lehrerin seufzte. „Ich werde erst einmal nichts unternehmen. Aber ich werde dich beobachten, und wenn ich weiterhin Verletzungen bei dir feststelle, dann muss ich das ans Jugendamt weitergeben.“

„Ich werde aufpassen.“ Sie beobachtete, wie Frau Leisten aufstand und zur Tür ging. „Bitte mach das! Und wenn irgendetwas sein sollte, egal was, du kannst dich jederzeit an mich wenden.“

„Danke.“ Erleichtert kramte Nathalie ihre Sachen zusammen und folgte der Lehrerin aus der Halle. Sie würde ganz bestimmt aufpassen. Am besten zog sie in Zukunft langärmlige Shirts an, das Risiko war einfach zu hoch.

Ohnmacht

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