Читать книгу Das Spital zu Jerusalem - Sven R. Kantelhardt - Страница 29

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Auria

Konstantinopel, August 1096

Am nächsten Morgen erwachte Auria mit bohrenden Kopfschmerzen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich klar wurde, wo sie sich befand. Dann setzte die Erinnerung an den letzten Abend mit unbarmherziger Deutlichkeit wieder ein. Sie war davongelaufen mit diesem fiesen Venezianer. Und nun befand sie sich im Hause von Mutter Helena im Hafen von Konstantinopel. Ihr kamen die Tränen. Was machte sie hier? Ohne Laura? Ja, selbst die alte Zofe vermisste sie. Doch da ging die Tür auf und Mutter Helena trat herein.

»Nun weine doch nicht. Hier, ich habe dein Kleid geflickt.« Mit diesen Worten hielt sie Auria ihr dunkelblaues Lieblingskleid hin. Ihr war schon wieder zum Heulen, doch mit Mühe hielt sie diesmal ihre Tränen zurück. »Du musst auf andere Gedanken kommen. Natürlich bist du traurig, weil du nicht mehr nach Hause zurückkannst. Aber ich sage dir, nach einem ordentlichen Frühstück sieht die Welt schon viel besser aus. Komm mit. Und danach kannst du dich sogar nützlich machen und Daphne in den Kaiserpalast begleiten. Sie muss einige Besorgungen machen. Da warst du doch noch nicht?« Auria schüttelte den Kopf. Ihre Trauer und Angst rangen mit der Neugier. »In den Kaiserpalast?«, fragte sie schließlich leise.

Mutter Helena lachte. »Der wird dir gefallen. Da wirst du mal etwas Neues erleben.«

Das Frühstück bestand im Wesentlichen aus altem Brot, aber es gab auch Honig und etwas Obst. Es stellte sich heraus, dass Daphne eben jene junge Frau war, die am Vorabend Tristanos Bestellung aufgenommen hatte. Sie war hübsch, hatte aber einen für das noch junge Gesicht viel zu harten, abweisenden Blick. Auria fröstelte. Diese Augen machten ihr Angst. Seltsamerweise bestand Mutter Helena darauf, noch bevor sie aufbrachen, Aurias Haare zu kämmen und zu ordnen. »Am Kaiserhof musst du ordentlich aussehen, Kind«, erklärte sie und Auria ließ sie wieder gewähren.

Wenig später machten sie sich auf den Weg. Die Häusermenge war unüberschaubar, und etliche hatten nicht nur zwei, nein, sogar drei Stockwerke! Anders als in ihrer Heimatstadt, in der man durch jede längs verlaufende Gasse das Meer sehen konnte, hatte sie hier die Orientierung bald vollständig verloren. Doch Daphne schritt zielsicher voran. Schließlich nahm Auria all ihren Mut zusammen und zupfte die ältere Frau am Ärmel.

»Weißt du, Daphne, ich habe mir überlegt, ich gehe doch lieber zurück zu meiner Familie. Nun im Hellen wird es ja nicht gar so gefährlich sein.« Während sie sprach, wurde sie sich immer sicherer, dass das die richtige Entscheidung war.

Doch Daphne schien anderer Meinung zu sein. »Spinnst du?«, herrschte sie sie an. »Konstantinopel ist die Welt! Was denkst du über dein Scheißamalfi nach, oder Galata?« Sie spuckte aus. »Hier ist das Leben, hier kann eine Frau, die gut aussieht, ihr Glück machen! Du wirst Mutter Helena noch dankbar sein. Zu Hause schlagen sie dich am Ende noch tot.« Der Blick, den Daphne ihr dabei zuwarf, gefiel Auria ganz und gar nicht. Und Pantaleone würde sie doch nicht totschlagen? Aber ausstoßen? Das könnte schon sein, wenn er glaubte, sie habe ihre Unschuld verloren. Auria schluckte hart, während Daphne sie mit ihren Blicken durchbohrte. Schließlich wendete Auria den Blick ab.

»Also gehen wir endlich weiter«, entschied Daphne über ihren Kopf hinweg. Schließlich erreichten sie eine hohe Mauer, die sich quer durch die Häuserreihen zog.

»Das ist die Palastmauer«, stellte Daphne fest. »Dahinter dürfen nur noch ausgewählte Menschen. Soldaten, wichtige Männer, Eunuchen,« sie rümpfte die Nase. »Und schöne Frauen. Wie wir.« Sie strebte einer kleinen Pforte zu, die in die sonst glatte und scheinbar unüberwindbare Mauer eingepasst war. An der Pforte klopfte sie kräftig. Dreimal kurz und zweimal mit langer Pause. Nach einer Weile öffnete sich die Tür einen Spalt. Ein behelmter Kopf schaute heraus.

»Was wollt ihr?«, fragte der Wachposten barsch. Doch dann erkannte er Daphne. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Ach, ihr seid es. Dann kommt rein, aber schnell, dass euch keiner sieht.« Er riss die Tür auf und Daphne schob die verdutzte Auria hinein. Innen stand noch ein Wachtposten, ebenfalls in silbern glänzender Rüstung. Auch er setzte ein süffisantes Grinsen auf. »Wen bringst du denn da?«, wollte er wissen.

Doch Daphne ging nicht darauf ein. »Nichts für dich. Holt mir Zenon, den Sekretär.« Sie verzog das Gesicht zu einem Lächeln, bei dem die Augen kühl blieben. »Es soll euer Schade nicht sein.«

Der erste Soldat grunzte. »Ist gut. Ich schicke nach ihm.«

»Daphne, mein Täubchen«, grüßte wenig später eine merkwürdig fistelige Stimme. Auria fuhr herum. Die Stimme gehörte einem dicklichen Mann in einer bunten Toga, der geschäftig heran­eilte. Der Soldat, der ihn geholt hatte, lehnte sich lässig hinter ihm an die Wand eines Gebäudes.

»Seht selbst«, entgegnete Daphne kühl. Der Fremde trat auf Auria zu und begutachtete sie wie ein Huhn auf dem Markt. Auria war das sehr unangenehm, sie traute sich aber nicht, etwas zu sagen.

»Und was meint ihr?«, fragte Daphne den Fremden schließlich. Der schürzte die Lippen.

»Nicht übel«, bestätigte er. »Vor allem die goldenen Haare. Auch ganz hübsch aufgemacht in diesem blauen Ding, wenn auch schon geflickt.« Er fasste nach der Naht in Aurias Kleid und sie fuhr zurück. Der widerliche Kerl lachte.

»Sie ist noch neu, was? Widerspenstig? Aber Daktylos mag das ja. Das ist mal etwas Besseres, als ich es von Mutter Helenas Hurenhaus gewohnt bin!«

»Vom Hurenhaus?«, heulte Auria auf. »Ich bin eine Kaufmannstochter!«

»Stell dich nicht so an«, schnauzte Daphne sie an. »Und tu vor allem nicht so, als ob du etwas Besseres wärst als wir!« Sie funkelte Auria an. »Du wirst gut bezahlt, was denkst du denn, wovon wir leben?« Sie wandte sich wieder dem Mann in der bunten Toga zu. »Du siehst, sie ist neu, sogar noch Jungfrau. Dreihundert, oder ich nehme sie wieder mit. Aber dann muss dein Herr auf diese herrlichen Locken verzichten!«

Auria stand vor Schreck ganz steif. Sie fühlte, wie der Boden unter ihr schwankte. Sie war in ein Hurenhaus geraten! Und nun wurde über sie geschachert, als sei sie ein Stück Vieh. Oder eine Hure! Auria schluchzte laut auf, fing sich dafür aber eine Ohrfeige von Daphne ein. »Still jetzt!«, fauchte sie und Auria war so erschrocken, dass sie tatsächlich verstummte.

Plötzlich stand der eben noch herumlungernde Soldat hinter dem bunt gekleideten Kuppler stramm.

»Was ist hier los?«, donnerte eine tiefe Stimme. Der Mann in der bunten Toga fuhr herum.

»Ein kleines Geschäft für den hoch geschätzten Daktylos, den Logotheten des Dromnos.«

»Ich weiß, wer Daktylos ist«, fuhr der große Mann den bunt gekleideten an. Der Neuankömmling hatte den schwarzen Bart nach militärischer Sitte kurz gestutzt, und auch seine ganze Haltung verriet den Soldaten. »Und ich kann es nicht leiden, wenn ihr Eunuchen meine Soldaten in eure Geschäfte hineinzieht. Verschwinde, und zwar sofort. Ihr zwei anderen meldet euch heute Abend zur Bestrafung bei eurem Centurio.« Die Haltung der beiden Gerüsteten wurde noch etwas strammer.

Nun wandte sich der Neuankömmling Auria und Daphne zu, ohne den wild gestikulierenden Hofeunuchen in der bunten Toga noch eines weiteren Blickes zu würdigen. »Und wer seid ihr?«

»Ich bin eine Kaufmannstochter aus Amalfi …«, begann Auria. Doch eine weitere Ohrfeige verschlug ihr die Sprache. »Das ist nur eine Hure von Mutter Helena. Wollt ihr sie vielleicht …«

»Schafft mir dieses Weibsbild aus den Augen«, grollte der große Mann und die Soldaten ergriffen Daphne und Auria sofort mit festen Händen. »Halt«, gebot der Fremde. »Die Amalfitanerin kommt mit mir.«

Zitternd vor Scham und Angst folgte Auria dem Mann, während die laut zeternde Daphne zum Tor hinausgestoßen wurde. Der Grieche schien sich seiner Sache so sicher, dass er sich nicht einmal umblickte, um zu sehen, ob Auria ihm folgte. Sie schritten durch eine Parklandschaft, die Auria unter anderen Umständen in Entzücken versetzt hätte. Schließlich wandte sich der unbekannte Fremde einem Gebäude zu, vor dem noch mehr Wachen in blitzenden Rüstungen postiert waren. Als sie sich näherten, standen auch sie stramm. Ohne ein Wort betrat Auria im Gefolge des Fremden das Gebäude.

»General Boutoumites«, ein Mann in einfacher weißer Kleidung eilte auf den großgewachsenen Griechen zu und verbeugte sich tief.

»Bring mir den Brief des Franken«, rief der General. »Den der Kaiser geschickt hat.« Unvermittelt wandte er sich an Auria. »In Amalfi spricht man doch Latein? Und als Kaufmannstochter kannst du bestimmt auch lesen?«, fragte er finster.

»Ja, Herr«, bestätigte sie schüchtern.

»Dann übersetze mir das hier ins Griechische.« Er reichte ihr das Pergament weiter, welches der diensteifrige Sekretär eilig geholt hatte. Es war mit einem schweren Siegel versehen. Das Wappen zeigte gleichmäßig über ein Wappenschild verteilte Lilien. Auria überflog die Zeilen stumm und atmete insgeheim auf. Die Schrift war keine italienische Kaufmannsschrift, aber klar und deutlich zu lesen.

»Wisse, Imperator, dass ich der König der Könige, der Größte von allen unter dem Himmeln bin«, begann Auria zu lesen. Sie blickte Boutoumites fragend an. Doch der nickte. »Nur weiter«, ermunterte er sie.

»Es gehört sich daher, dass ich bei meiner Ankunft mit allen mir zustehenden Ehren und Zeremonien entsprechend meiner noblen Geburt empfangen werde.«

»Gut«, bestätigte der General. »Ich spreche nicht gut Latein. Griechisch ist meine Muttersprache. Daher sage du mir, ist es bei euch Lateinern üblich, so zu einem Kaiser zu sprechen?«

Sie schüttelte verzagt den Kopf. »Wer ist es, der da schreibt?«, fragte sie schüchtern.

»Was meinst du?« fragte Boutoumites mit hoch gezogenen Brauen zurück. Auria hustete verängstigt, doch der große Mann nickte nochmals. »Na?«, wollte er wissen.

»Der König der Könige ist doch nur einer – unser Herr Jesus?« hauchte Auria.

Der General lachte. »Ja, so hatte ich das auch gedacht. Dies Schreiben kommt von Hugo von Vermandois, dem Bruder des Königs der Westfranken. Er möchte sich dem Kreuzzug anschließen und kündigt mit diesem Schreiben Kaiser Alexios seine baldige Ankunft an.« Er nahm das Pergament wieder an sich und schüttelte nochmals den Kopf. Dann wandte er sich wieder seiner jungen Besucherin zu. »Und du wirst nun zurück zu deiner Familie gehen. Dass du wirklich eine italienische Kaufmannstochter bist, hast du ja bewiesen.« Aurias Herz schwankte zwischen Freude, all dem Erlebten zu entkommen, und der Angst vor ihrer Aufnahme im Hause des Pantaleone.

Der General rief derweil einen Soldaten herbei, der zackig salutierte. »Du bringst dieses Mädchen sofort nach Galata zum Hypatos der Amalfitaner. Und danach kommst du direkt zurück zu mir. Aber nicht ohne ein vom Hypatos gesiegeltes Schriftstück, welches bestätigt, dass sie heil angekommen ist. Los jetzt, ausführen.« Der Soldat salutierte nochmals, dann machte er eine Geste in Richtung Tür und Auria folgte ihm rasch. Als sie sich in der Tür noch einmal umwandte, um ihrem Retter zu danken, war der bereits an das Schreibpult getreten und in ein weiteres Schriftstück vertieft.

Das Spital zu Jerusalem

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