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12. KAPITEL DAMALS Wie unsere Eltern Moornachbarschaft kennenlernen.

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WENN WIR MORGENS NACH DEM VIEHBESORGEN noch beim Frühstück saßen, kam oft einer der Nachbarn vorbei. Der Hund hatte ihn meistens schon angekündigt. Mal war es Onkel Edu, mal Egon, der junge Mann von nebenan, der in unserem zweiten Jahr in Neubachenbruch geheiratet hatte. Wer es auch war, er rief schon vom Eingang her »Moin« und klopfte an die Tür, auch wenn sie schon offen stand. Nur ganz selten war es eine Frau, denn die Bäuerinnen standen um diese Uhrzeit schon am Herd und bereiteten das Mittagessen vor. Im Dorf stand fast überall pünktlich um zwölf Uhr das Essen auf dem Tisch – immerhin war man gegen fünf oder sechs Uhr morgens zum Melken aufgestanden.

Wer es auch war, er wurde aufgefordert, einen Kaffee mitzutrinken, tat es jedoch nie, war immer in Eile und wollte entweder ein Gerät ausleihen oder um Mithilfe bei einer Unternehmung bitten, die traditionell gemeinsam gemacht wurde. Das ging von der Hilfe beim Kuhkalben über tagelange Bauarbeiten bis hin zu Fahrten über Land zu Versteigerungen oder Vieh- und Maschinenkäufen. Aber in der Regel setzte sich der Besucher wenigstens kurz hin.

»Sett di dal, süss räd ik nich mit di«, sagte mein Vater. Setz dich, sonst spreche ich nicht mit dir. Nur wenn es um das Kalben einer Kuh ging, durfte der Nachbar gleich weiterziehen zum nächsten Nachbarn. Sonst aber musste er sich erst einmal irgendwelche Fragen gefallen lassen: Ob der Maurer gestern am Ende doch noch gekommen ist, ob der Miststreuer repariert werden konnte, und wie geht es überhaupt der Tante, die neulich überraschend ins Krankenhaus gebracht werden musste? So ging es eine kurze Weile hin und her, und manchmal war die Sache, um die der Nachbar gekommen war, dann doch nicht so eilig. Oder einer erzählte ungefragt, wie Hinni oder August oder Johann gestern mit ihrem neuen Trecker einem Grabenrand zu nahe gekommen und abgerutscht waren und erst durch das Vorspannen von zwei Pferden wieder herausgezogen werden konnten. Das war für alle eine Erinnerung an den Ausspruch einer der Mütter, und man grinste gemeinsam ein bisschen spöttisch in sich rein. Die hatte nämlich, als unser Vater statt mit Pferden gleich mit einem Trecker zu wirtschaften begonnen hatten, gemeint: »Dat geiht bi uns nich« – Das geht bei uns nicht. Den begehrlichen Blick ihres Sohnes hatte sie betont übersehen.

Über das In-den-Graben-Rutschen amüsierten sich alle gerne – aber auch nicht zu sehr, denn es passierte natürlich jedem mal.

Erst wenn das Frühstück dann beendet war und alle aufstanden, stand auch der Nachbar auf. Während sich die beiden Männer zum Gang nach draußen im Windfang die Stiefel anzogen – auch der Besucher hatte seine Stiefel gleich ausgezogen und war auf Strümpfen eingetreten –, wurde endlich beredet, was zu bereden war.

»Du, wat ick säggn wull …« Was ich sagen wollte …

Mich beeindruckte immer wieder dieses ausführliche Drumherum-Reden. Anfangs machte es mich ganz ungeduldig – bis ich begriff, dass dieses Sprechen zur Nachbarschaft und zur Gegenseitigkeit dazugehörte, dass es die hiesige Höflichkeit war.

Oft ging es darum, dass sich einer ein Gerät ausleihen wollte, oder er wollte ein von uns entliehenes wieder abholen. Obwohl er es auf seinem Gang über den Hof schon hatte stehen sehen, würde er natürlich immer erst ins Haus kommen und Bescheid sagen, bevor er es mitnahm. Wichtig war, dass man es schon gesäubert hatte. Denn wer ein geliehenes Gerät verdreckt oder sogar beschädigt zurückgab, dem hing das ewig an. »So iss hei«, hieß das dann, so ist er eben.

Man nahm allerdings auch das irgendwie hin und es wurde in jedem Fall weiterhin Nachbarschaft gehalten, sogar dann, wenn es sich um weit Schlimmeres als ein schmutziges Gerät handelte. Betrug im Kartenspiel oder kleine Diebereien beim Kleinvieh – sogar Ehebruch. Es geschah wohl, dass einer ›kein guter Nachbar‹ genannt wurde. Manchmal wurden Fehden daraus, die sich über mehrere Generationen erstreckten, aber Nachbar war man trotzdem, lebenslang. Beim Säubern der Gräben und beim Kuhkalben – hiesige Haupt- und Staatsakte – half man einander ohne Diskussion.

Nicht selten musste einer unserer Nachbarn auch bei uns die Reinigung des gemeinsamen Grenzgrabens anmahnen. Wie genau man es hier damit nahm, daran gewöhnte sich unser Vater erst im Laufe der Jahre. »Da verstehen die hier im Moor keinen Spaß!«, hat er manchmal ärgerlich, aber doch auch respektvoll gebrummt, wenn er wieder einmal an seinen Anteil des Grabensäuberns erinnert werden musste. Damals wurden die Gräben noch in schwerer Handarbeit mit Spaten und Haken gesäubert – eine nasse und knochenbrechende Herbstarbeit. Später wurde dafür gemeinsam ein kleiner Bagger aus dem Nachbardorf bestellt.

So oder so, die Gelegenheit für einen Klönschnack – am besten draußen und ohne das kritische Zuhören der Frungslüe, der Frauen – ergriff man gerne.

Die Unterbrechung der Arbeit gehörte zur Arbeit dazu. Denn die Arbeit selbst war einem sicher, sie lief nicht weg. Sie strukturierte nicht nur den Tag und das ganze Leben. Sie war Bedingung des Daseins. Sie steckte einem ein Leben lang in den Knochen. Umso kräftiger und ausführlicher wurde gefeiert, jedenfalls bei den Männern, selbst wenn es nur um eine etwas lang geratene Unterbrechung des Arbeitstags durch den Nachbarn ging. Und auch die Anekdoten, die auf solche Weise zustande kamen, lohnten wiederum ein längeres Stehen- oder Sitzenbleiben. Oft schlossen sie mit einem: »Wat sünd wi duhn wesst!« – Was sind wir blau gewesen! In jedem Fall war es gut, einmal nicht gleich wieder aufstehen, in die nassen Holzschuhe oder Stiefel schlüpfen und weiterlaufen zu müssen.

Es war die Zeit, als nicht schon jeder einen Trecker besaß, geschweige ein Auto. Man musste sich absprechen und einander helfen – nicht nur, wenn eine Kuh kalbte, Gräben gereinigt und Wege ausgebessert werden sollten. Und auch nicht nur bei großen Ereignissen wie Richtfesten, Hochzeiten und Beerdigungen. Auch im Kleinen galt das Miteinander. Der eine kannte sich mit Viehkrankheiten und ihren Behandlungen gut aus, der andere hatte bessere Ideen, wenn es um den Umgang mit Holz ging, der Nächste konnte Viehhändler zu hohen Preisen treiben und wurde gern hinzugebeten, wenn ein Handel anlag. Und wiederum der Nächste hatte zu einem der Vorstände in Genossenschaft, Landhandel, Molkerei oder Landgesellschaft einen besseren Draht als der Nachbar.

Bei den Frauen war es nicht anders. Die eine kannte alle Mittel gegen bestimmte Kinder- oder Kälberkrankheiten, die Nächste probierte gerne Rezepte beim Einkochen von Marmeladen oder süßsauren Bohnen aus, die sie dann an einige Auserwählte weitergab, und die Übernächste war schon im neu eröffneten Geschäft drei Dörfer weiter gewesen und gab Einkaufstipps. Eine andere häkelte die schönsten Kanten um Tischdecken oder glänzte durch Lochstickerei.

Wenn Schwein oder Rind geschlachtet wurde, halfen die Nachbarinnen beim Säubern der Därme und beim Wurstmachen, beim Schneiden und Durchdrehen des Fleischs, beim Kneten und Würzen des Teigs, dem Einfüllen in Därme oder Gläser, sie lösten einander ab beim Umrühren, beim Brühen der Würste im großen Kessel. Am Ende kriegten sie frische Würste mit zum Dank, hatten vielleicht ein Rezept abgestaubt und kannten außerdem den neuesten Klatsch und Tratsch.

Die Geschichten übereinander arteten selten aus, denn hier war schließlich jeder mit jedem verwandt. Und man traf sich ständig bei so vielen Gelegenheiten wieder, weshalb alle sowieso schon immer fast alles voneinander wussten.

Bis auf die wirklichen Geheimnisse.

In jedem Dorf gab es sicher diese Männer und Frauen, vor denen man sich besonders in Acht nehmen musste, die mit einer Mischung aus harmlos-freundlichem Gesicht und süßer Stimme, mit ganz nebenbei gesetzten Sticheln und galligem Spott jemanden so herauslockten oder provozierten, dass er sich dann selbst verriet. Selbst die Gescheiten, vielleicht sogar gerade sie, wurden von solchen Leuten, wie man hier sagte, ›in die Tasche gesteckt und wieder rausgeholt, ohne dass sie es merkten‹. So wurden Geheimnisse entlockt – die dann hinter vorgehaltenen Händen geflüstert weiterwanderten.

Am Ende blieb keiner ungeschoren.

Vielleicht ging auch deshalb die Nachbarschaftshilfe immer weiter, solange es Nachbarn gab, die Hilfe brauchten. So lange lieferte man gemeinsam das Vieh auf der Waage ab, trank dazu einen Köhm und grinste sich einen. Weil und obwohl man wusste, was man voneinander zu halten hatte. Oder man verabredete eine gemeinsame Fahrt ins Kreiskrankenhaus, in dem eine junge Nachbarin ein Kind geboren oder der Opa von nebenan eine Operation hinter sich gebracht hatte. Man gab fünf Mark Tankgeld dazu und jeder merkte sich, wer es vergaß.

Bald würde es mit all dem vorbei sein. Bald hatte fast jeder im Dorf einen eigenen Trecker und sogar ein eigenes Auto. Besser noch, es gab auch in jedem Haus einen Fernsehapparat. Da brauchte man einander gar nichts mehr zu erzählen.

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