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15. KAPITEL 18. JAHRHUNDERT Familie Lafrenz im Kirchenbuch. Johann Heinrich Voß drängt auf die erste Pockenimpfung im Hadelner Land.

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ENDLICH LIEGEN DIE KIRCHENBÜCHER von Steinau vor mir, unserem traditionellen Kirchdorf. Ich hatte lange nach ihnen gesucht, mich selbst in den komplizierten Zuständigkeiten verheddert, die auch komplizierte Archivierungen mit sich gebracht haben. Aufbewahrt wurden sie in einem verschlossenen Stahlschrank des Kirchenbüros, einem Bungalow aus den 1970er-Jahren gegenüber der Kirche.

Verschieden große, schwere Folianten, eingeschlagen in manchmal eingerissenes schwarzes Papier, sind zu durchforsten. Völlig unbeschädigt sind die Blätter aus dickem, handgeschöpftem Papier des 17. und 18. Jahrhunderts. Auf ihm machten die Pastoren ihre Eintragungen, in großzügiger Handschrift verzeichneten sie auf der ganzen Seite manchmal nur eine einzige Taufe.

Vor dem Fenster des Büros jagt ein Regenschauer den anderen. Wenn die schwarzen Wolkenballen einmal die Märzsonne durchlassen, bringt ihr Licht die Regentropfen zum Glitzern, die an den kahlen Zweigen der Büsche hängen. Nur einmal in der Woche ist das Büro für Gemeindemitglieder geöffnet. Die Frau, die hier ihren ehrenamtlichen Dienst versieht, hat mich freundlicherweise an einem Nachmittag eingelassen, an dem eigentlich geschlossen gewesen wäre. Die Heizung schafft nur langsam, den Raum zu wärmen.

Ich suche die ersten Taufen, Beerdigungen und Hochzeiten, die in unserem Dorf stattgefunden haben. Aber sie sind schwer zu finden, denn über sechs Jahrzehnte hatte das Dorf keinen eigenen Namen. Seine Bewohner wurden zuerst subsumiert unter dem Namen Bachenbruch, dann als »Anbauern im bachenbrucher Moor« bezeichnet, das Dorf selbst wechselweise »bachenbrucher Moor«, »Anbau in Bachenbruch« oder »neubachenbruch moor« genannt. Auf vielen Seiten finde ich immer wieder Kinder, die kurz nach, manchmal schon vor der Taufe starben, dennoch kirchlich vermerkt sind, N.N. heißt der Eintrag, auch sie blieben ohne Namen.

Mit zunehmend klammen Fingern blättere ich mich durch die Kirchenbücher, wälze – buchstäblich – die schweren Folianten hin und her.

Nach Stunden und Tagen im Archiv tauchen Geschichten auf.

Da ist vor allem die der Familie Barthold und Adelheit Lafrenz, oder auch mal Lafrens, nach der ich gesucht habe.

Einträge über die Bewohner der Hofstelle zu unserer Rechten beginnen 1794, also dem zehnten Jahr ihres Lebens in der Moorkolonie, und ziehen sich über weitere zwei Jahrzehnte. Als Erstes sind die Beerdigungen zweier Töchter angezeigt. Die erste Eintragung lautet: »Anna Margaretha Lafrenz, eine Tochter von Barthold u Adelheit Lafrenz im Bachenbrucher Moore, des Abends auf dorthigem Kirchhofe in aller Stille beygesetzt«, ihr Alter ist mit einem Monat angegeben – und in aller Stille hieß, dass es keinen Gottesdienst, keine Predigt oder Leichenfeier gegeben hat, nur eine kurze Einsegnung am offenen Grab. Als Nachschrift steht direkt darunter: »An den Blattern gestorben«. Die Blattern* waren, was man später Pocken nannte.

Das einmonatige Baby der Lafrenzens war nur eines der vielen Kleinkinder, die immer noch an den Pocken erkrankten und starben. Dabei lag die erste Schutzimpfung im Lande Hadeln zu diesem Zeitpunkt schon dreizehn Jahre zurück. Bis zu den ersten Impfungen Mitte des 18. Jahrhunderts starb ein Drittel aller erkrankten Kinder, und viele Erwachsene lebten mit entstellenden Narben am ganzen Körper und im Gesicht. Mit der ersten Schutzimpfung in Hadeln hatte übrigens Johann Heinrich Voß zu tun gehabt. Seine Frau Ernestine, Mutter von sechs Kindern, berichtete in einem Brief: »Voß hatte schon oft mit unserm alten Arzte über Einimpfung geredet, was damals in Hadeln noch für einen Eingriff in Gottes Vorsehung galt«, und also abgelehnt wurde. Erst als Voß den Otterndorfer Hausarzt um sein Besteck bat und drohte, die Impfung selbst vorzunehmen, willigte der ein. So konnte Ernestine berichten: »Viele Besuche erhielten wir in dieser Zeit besonders von Landbewohnern, die sich das Gute bei der Sache wollten erzählen lassen. Der Alte predigte nun die Impfung überall, als sei sie von ihm ausgegangen, und das Vertrauen der Eltern hatte den glücklichsten Erfolg, denn von 60 Kindern, die er bald darauf impfte, starb nur eins.« Dies hatte sich bereits 1781 zugetragen, aber zu vermuten ist, dass die hier geimpften Kinder aus den Familien der Marschbauern stammten, die Geld für Medikamente hatten. Erst 1821 wurde die Impfpflicht im Hannoverschen eingeführt. Aber hätten die Leute im Bachenbrucher Moor die Zeit für die Reise zum Arzt und das Geld für sein Honorar aufgebracht, selbst wenn sie von den Schutzimpfungen gewusst hätten?

1796 folgte zwei Jahre nach dem Tod des ersten Babys die nächste Eintragung eines Sterbefalles in der Familie, dieses Mal für »Anna Lafrenz, eine Tochter von Barthold u Adelheit im Bachenbrücher Moore«. Ihr Alter ist angegeben mit einem Jahr und drei Monaten – und wieder war das Kind abends und ohne Feier beigesetzt worden. Die Todesursache der kleinen Anna bleibt ungenannt, erst fünfzig Jahre später, wenn alle Eintragungen zunehmend rubriziert und geordnet sind, wird es eine Rubrik für die »Todesart« des Beigesetzten geben.

1800 stirbt ein weiteres Kind der Familie. Bevor aber Barthold und Adelheit noch ein viertes und fünftes Kind verlieren, wird 1801 der Bruder Claus Lafrenz zu Grabe getragen, Pächter jener Hofstelle, auf der in meiner Kindheit Onkel Edu lebte. Mit nur vierzig Jahren wurde Claus Lafrenz »auf dortigem Kirchhof, mit meiner Leichenrede« beigesetzt, schreibt der Pastor. Die Lafrenz-Witwe Rahel war eine geborene Wölbern, eine Schwester oder Cousine von Bendix Wölbern, der seine Hofstelle seit 1783 zwischen den Brüdern Barthold und Claus hatte, also auf ›unserem‹ Hof; auch die Namen von Claus und Rachels Kindern weisen auf das verwandtschaftliche Verhältnis hin – sie hießen Adelheid und Berthold.

Nach dem Tod des Bruders Lafrenz wird im Jahre 1803 die Beisetzung des elfmonatigen Sohnes Carsten und im selben Jahr noch die eines vierten Töchterchens, der kleinen Margareta, im Alter von knapp zwei Jahren gemeldet; beide haben im Verlauf nur eines Monats »im bachenbrücher Anbau, auf dortigem Friedhof des Abends« stattgefunden.

Fünf Kinder sind dem Paar auf dem Hof zu unserer Rechten im Verlauf von sieben Jahren gestorben. Drei der toten Kinder erscheinen nicht einmal in der heitmannschen Dorfchronik. Fast möchte man denken, dass dem Chronisten die Tode zweier Kinder schon genug der Qual gewesen seien für die Eltern, denen der Verlust ihres Ältesten da noch bevorstand. Und tatsächlich befinden wir uns ja in dem Jahrhundert, in dem die Hälfte aller Kinder vor dem dreizehnten Lebensjahr stirbt und das mittlere Sterbealter der Erwachsenen bei dreißig Jahren liegt.

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