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2. Das Ziel einer Vollendung der Philosophie Kants

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Die Grundintention seiner Philosophie hat Johann Gottlieb Fichte in einem Brief an P. J. Appia vom 23.6.1804 so beschrieben:

„Alle Philosophie bis auf Kant hatte zu ihrem Gegenstande das Sein (objectum, ens) – (im Dualismus z.B. wurde das Bewusstsein selber als bewusstes (Geist, Seele usf.) zum Sein). Der Zweck dieser Philosophie war, den Zusammenhang der mannigfaltigen Bestimmungen dieses Seins zu begreifen. Alle übersahen, lediglich aus Mangel an Aufmerksamkeit, dass kein Sein, außer in einem Bewusstsein, und umgekehrt kein Bewusstsein, außer in einem Sein vorkomme; dass daher das eigentliche Ansich, als Objekt der Philosophie, weder Sein, wie in aller vorkantischen Philosophie, noch Bewusstsein, wie freilich nicht einmal versucht worden, sondern Sein + Bewusstsein, oder Bewusstsein + Sein = der absoluten Einheit beider, jenseits ihrer Geschiedenheit, sein müsse. Kant war es, der diese große Entdeckung machte und dadurch Urheber der Transzendental-Philosophie wurde. Es versteht sich, dass auch nach dieser totalen Umänderung des eigentlichen Objekts, die Philosophie noch immer ihre alte Aufgabe behalte, den Zusammenhang der mannigfaltigen Bestimmungen jenes Grundobjekts begreiflich zu machen. In diesem letzteren Geschäft der Ableitung kann man nun entweder also verfahren, dass man gewisse Grundunterschiede, welche nur in empirischer Selbstbeobachtung gefunden sein können, als nicht weiter zu vereinigend voraussetze, und auf jede dieser besonderen Grundeinheiten nun das aus jeder Abzuleitende zurückführe, welches teils eine unvollständige (…), teils eine zum Teil auf empirische Data gegründete, darum nicht streng wissenschaftliche Philosophie geben würde. Eine solche Philosophie ist die Kantische. Oder man kann also verfahren, dass man jene ursprüngliche Einheit des Seins und Bewusstseins in dem, was sie an sich und unabhängig von ihrer Spaltung in Sein und Bewusstsein ist, durchdringe und darstelle. Wird man sie, jene Einheit, recht dargestellt haben, so wird man zugleich den Grund, warum sie in Sein und Bewusstsein sich spalte, einsehen; ferner einsehen, warum es in dieser Gespaltenheit auf eine bestimmte Weise sich weiter spalte; alles schlechthin a priori, ohne alle Beihilfe empirischer Wahrnehmung, aus jener Einsicht der Einheit; und also wahrhaftig das All in dem Einen, und das Eine im Allen begreifen; welches von jeher die Aufgabe der Philosophie gewesen. Diese jetzt beschriebene Philosophie ist die Wissenschaftslehre“ (1962–2012, III, 5.246f.).

Eine endgültige Gestalt hat die Wissenschaftslehre freilich nie gewonnen. Die Schriften um 1794–1795 sind Entwürfe, die Fichte selbst als vorläufig bezeichnet hat. Erst die Version von 1804 hat er als „vollendete Darstellung“ angesehen, auch sie hat er aber schon bald wieder verändert, nicht nur in Details, sondern in ihren Grundgedanken. Er ist so nie zu einer festen Konzeption gekommen. Erschwerend kommt hinzu, dass er auch seine Terminologie immer wieder änderte. Er meinte, die Formulierung der Gedanken sei sekundär, wichtig sei allein ihr Verständnis. Das können aber natürlich nur klare Texte vermitteln. Zuweilen hat er das selbst gesehen: „Der Schriftsteller soll das Richtige sagen; sein Denken allein hilft uns nicht“ (1962–2012, III, 2.347). Fichtes Darlegungen sind oft so konfus, dass man sich fragt, warum man sich heute überhaupt noch mit ihm beschäftigen soll.

Als Bindeglied zwischen Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist er aber jedenfalls von historischem Interesse. Unter diesem Aspekt wird man die Wissenschaftslehre vor allem als Versuch betrachten, die Philosophie Kants zu vollenden. Fichte hat das selbst als ihr Ziel bezeichnet. Eine solche Darstellung gibt z.B. Peter Rohs (1991). Schon bald nach dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft nahm man Anstoß daran, dass er von mehreren Gegebenheiten ausging, wie z.B. den verschiedenen Vermögen des menschlichen Gemüts, deren Zusammenhang offen blieb und für die auch keine Erklärung geliefert wurde. Man meinte, eine Philosophie müsse von einem einzigen evidenten Prinzip ausgehen, und alles andere daraus ableiten. Der Meinung war auch Fichte, der unglücklicherweise viel Arbeit in dieses verfehlte Projekt investiert hat. Es kommt ja nicht auf die Zahl der Axiome einer Theorie an, sondern auf ihre Konsistenz und Evidenz. Zudem kann es keine „Theorie von allem“ geben, wie sich zeigen lässt (Kutschera 2009, 129f.).

Interessanter ist die Kritik am „halben Idealismus“ Kants, der, wie Berkeley und David Hume, zwar einen erkenntnistheoretischen, aber keinen ontologischen Idealismus vertrat. Nach dem erkenntnistheoretischen Idealismus haben wir es in unseren Erfahrungen nicht mit Dingen einer Außenwelt zu tun, sondern nur mit unseren eigenen Sinneseindrücken; Erfahrung ist kein Zugang zu einer anderen Wirklichkeit, sondern ein innerseelischer Vorgang. Diese abwegige Vorstellung ergab sich aus der Ansicht, alle empirisch feststellbaren Qualitäten seien sekundär, und dem Fehlschluss, da sekundäre Eigenschaften nicht den Dingen selbst zukommen, müssten sie den subjektiven Sinnesempfindungen zukommen. Sekundäre Eigenschaften sind relative Eigenschaften, welche die Dinge nur bzgl. unserer Wahrnehmung haben. Ein Ball ist z.B. rot, weil er bei der Betrachtung normalerweise bestimmte Sinneseindrücke bewirkt und uns aufgrund der Organisation unseres optischen Sinns als rot erscheint. Aus der Tatsache, dass eine relative Eigenschaft wie das Rotsein dem Ball nicht selbst zukommt, also keine intrinsische Eigenschaft des Balls ist, folgt jedoch nicht, dass sie unseren Sinneseindrücken zukommt. Ist Max größer als Hans, so ist das Größersein als Hans eine relative Eigenschaft von Max. Aus der Tatsache, dass das keine intrinsische Eigenschaft von Max ist, folgt aber natürlich nicht, dass es eine Eigenschaft von Hans ist – Hans ist ja schließlich nicht größer als er selbst.

Nach dem erkenntnistheoretischen Idealismus können wir nicht erkennen, wie die Dinge an sich beschaffen sind, welche intrinsischen Eigenschaften sie haben. Dasselbe ergibt sich aber auch ohne Umweg über den erkenntnistheoretischen Idealismus direkt aus dem sekundären Charakter aller empirischen Eigenschaften. Ist nun die Welt an sich unerkennbar, so ist es nur konsequent, die Annahme einer Welt an sich überhaupt aufzugeben, wie Berkeley das getan hatte. Er vertrat damit einen ontologischen Idealismus, für den alles Wirkliche geistiger Natur ist. Eine solche Konsequenz erschien den Kant-Kritikern als notwendig, insbesondere auch Fichte. Das „Ding an sich“ hat bei Kant nur die Funktion einer Ursache unserer Sinnesempfindungen. Kant hatte aber auch betont, dass sich die Kategorie der Kausalität nur im Bereich der Erscheinungen anwenden lässt. Seit der Kritik an den psychophysischen Wechselwirkungen bei Descartes war man zudem überzeugt, Nichtgeistiges könne nicht auf Geistiges einwirken. Das Ding an sich müsste also, wie bei Berkeley, selbst geistiger Natur sein. Auch das sprach für einen ontologischen Idealismus.

Endlich meinte Fichte, wie das im obigen Zitat angedeutet ist, kein Faktum, keine gegebene Organisation unseres Gemüts, unserer Anschauung und unseres Verstandes, könne eine evidente Grundlage allen Wissens sein. Das – und damit kommen wir zu einer zentralen Idee Fichtes – könne nur eine fundamentale eigene Aktivität sein: Selbstverwirklichung. Das führte ihn zum Grundsatz der Wissenschaftslehre: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein“ (1962–2012, I, 1.98). Das Ich wird so zum ens a se und Grund aller Wirklichkeit. Ist es bei Kant der Grund aller Erscheinungen, so wird es bei Fichte zu Gott.

Fichtes Versuch einer Vollendung der Philosophie Kants scheint so auf den ersten Blick in Absurdität zu versinken. Ich möchte hier jedoch für einen zweiten Blick plädieren und Spuren verfolgen, die weit über Kant hinaus weisen. Es geht mir nicht um eine detaillierte Interpretation einer der Versionen der Wissenschaftstheorie, sondern um ein Verständnis von Fichtes Grundintentionen.

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