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6. Die Rückkehr von Realismus und Materialismus

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Hegel hat gesehen, dass für die Erschließung ungegenständlichen Bewusstseins eine ganz neue Begrifflichkeit nötig ist – schon die Bezeichnung „Begrifflichkeit“ ist dabei allerdings schief. Seine Bedeutung liegt aber nicht in einer besseren Darstellung oder gar Entwicklung von Fichtes Ideen. Er hat zwar den Gedanken einer Evolution des menschlichen Bewusstseins übernommen, ihn jedoch aus der Metaphysik in die Geschichte übertragen und sich vor allem mit der Entwicklung intentionalen Denkens befasst. Damit hat er die Geistesgeschichte begründet und zu ihr mit seinen Entwürfen zur Geschichte von Philosophie und Religion, von Kunst und Recht beigetragen.

Vom Deutschen Idealismus ist nur die Geistesgeschichte geblieben, nicht der absolute Idealismus. Der ist an der Diskrepanz von Anspruch und Leistung gescheitert. Für Fichte war Philosophie „Wissenschaft der Wissenschaften“, und das nicht etwa im Sinn moderner Wissenschaftstheorie, sondern einer apriorischen Begründung der fundamentalen Theorien sämtlicher Einzelwissenschaften. Hegel sah sie als ein allumfassendes, wiederum a priori begründetes, wissenschaftliches System, sodass sie, wie er sagte, nunmehr „den Namen der Liebe zum Wissen ablegen kann und zum wirklichen Wissen wird“ – eine Aussage, mit der er sich von der großen Tradition europäischer Philosophie verabschiedet, deren Erbe das sokratische Bewusstsein des Nichtwissens war, die selbstkritische Haltung. Für Friedrich Schelling endlich war Philosophie schlicht „Wissenschaft vom Absoluten“. Es konnte nicht lange verborgen bleiben, dass der Idealismus diese übersteigerten Ansprüche nicht einzulösen vermochte.

Maßgeblicher noch für das Ende des Idealismus und die Rückkehr von Realismus und Materialismus waren die großen Fortschritte der Naturwissenschaften, deren Erfolge sich in ihren technischen Anwendungen für alle sichtbar manifestierten. Was Francis Bacon am Beginn der Neuzeit programmatisch verkündet hatte: eine Wissenschaft, die das Leben der Menschen erleichtern und endlich einen sicheren Fortschritt von Wissen und Naturbeherrschung garantieren sollte, schien nun Wirklichkeit zu werden. Die Wissenschaften hatten gegenüber der Philosophie von nun an den Erfolg auf ihrer Seite. In ihnen gibt es nicht den endlosen Meinungsstreit und die immer neue Diskussion alter Probleme über Jahrhunderte hinweg, sondern definitive Entscheidungen von Fragen und einen rapiden Fortschritt gesicherten Wissens. Der Grund dieses Erfolges schien klar: Sie hatten den Ballast philosophischer Spekulationen abgeworfen und orientierten sich strikt an der Erfahrung, wie das schon Bacon gefordert hatte. Über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, so war man sich nun einig, kann nicht bloßes Denken Auskunft geben, sondern allein Erfahrung.

Die Kritik am Deutschen Idealismus bezog sich auch darauf, dass er – trotz gegenteiliger Beteuerungen von Hegel – die beiden Grundforderungen wissenschaftlichen Behauptens ignoriert hat, nur hinreichend klare und hinreichend begründete Aussagen zu machen. Die Texte von René Descartes, Thomas Hobbes, Gottfried Wilhelm Leibniz, David Hume und Immanuel Kant bewegten sich diesbezüglich auf einem wesentlich höheren Niveau. Mit dem Deutschen Idealismus hat sich ein Gerede in der Philosophie breit gemacht, das diese beiden Grundforderungen ignoriert. Ein Indiz dafür ist die Vielzahl heterogener Interpretationen seiner Texte. All das hat dazu geführt, dass viele Menschen, die wissenschaftlich denken gelernt haben, ihn nicht mehr ernst nehmen.

Nachdem der absolute Idealismus gescheitert war, blieb vom neuzeitlichen Idealismus nur mehr die These von der Unerkennbarkeit der Natur, wie sie an sich ist. Die stützte sich vor allem auf Kants Argument für die Idealität von Raum und Zeit: Über die Natur an sich können wir nur durch Erfahrungen etwas wissen, Erfahrungen liefern uns nur Fakten, keine Notwendigkeiten. Der Raum hat jedoch notwendigerweise euklidische Struktur. Diese Argumentation wurde obsolet, als Carl Friedrich Gauss erkannte, dass es nicht nur euklidische Räume gibt. Damit stellte sich die Frage, welche Struktur der physikalische Raum hat, und das konnten nur Beobachtungen zeigen. Mit der Kritik an den Grenzen der Erkennbarkeit der Welt an sich, die der Idealismus behauptet hatte, und mit ihrer Rehabilitation intentionaler Erkenntnis verlor man das Interesse an einer Erkenntnisform, die über sie hinaus führen sollte.

Mit dem Zusammenbruch des Idealismus ist neben dem Realismus auch der Materialismus auferstanden, heute die offizielle Doktrin zum Leib-Seele-Problem. Für ihn ist die Physik die fundamentale und zugleich umfassende Wirklichkeitswissenschaft – in den Worten von David Lewis: „The world is as physics says it is, and there’s no more to say“ (1983, 361). Der erste Materialist war zwar schon Demokrit aus Abdera, bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb der Materialismus aber eine unbegründbare These, denn erst danach entstand eine Physik, die so leistungsfähig war, dass man überhaupt daran denken konnte, das materialistische Programm der Reduktion aller Erscheinungen auf physikalische mit Aussicht auf Erfolg in Angriff zu nehmen. Erst damit hat sich der Materialismus zu einer ernsthaft diskutierbaren Position entwickelt. Seine beiden Hauptprobleme waren die Reduktion biologischer Phänomene und jene seelisch-geistiger Phänomene auf Physisches. Das erste kann heute grundsätzlich als gelöst angesehen werden, sodass der Materialismus mit der Reduzierbarkeit mentaler Phänomene auf physikalische steht und fällt.

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