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1.2.3 Varianten pädagogischen Zeigens

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»Ostendam tibi omnia«, ich will Dir alles zeigen, so heißt es in der Einleitung der wohl berühmtesten, 1658 erstmals in Nürnberg erschienenen Schrift des Johann Amos Comenius »Orbis sensualium pictus« (Die sichtbare Welt). Alles zeigen, alle Menschen alles lehren, das ist seitdem, modern formuliert, die Kontingenzformel der neuzeitlichen Pädagogik. Keine leichte Aufgabe. Wie soll das zu bewerkstelligen sein, zumal dann, wenn man bedenkt, dass sie sich, der geistesgeschichtlichen Tradition gemäß, auf drei Bereiche bezieht, auf »Wissen«, »Wollen« und »Können« (scire – velle – posse)? Für unseren Zusammenhang bedeutet das, dass das Zeigen als pädagogische Operation offensichtlich verschiedene Formen annehmen muss, damit Kinder nicht nur auf die Welt kommen, sondern auch lernend in sie hinein und sich darin dann später als handelnde Subjekte selbständig bewegen und bewähren können. Die Grundform des Zeigens bedarf also der Differenzierung und Modifikation, damit sie in den jeweiligen Zeiten und Räumen der Erziehung zur Geltung kommen kann.

In der Theorie-Werkstatt der Operativen Pädagogik ist dieses Problem in den letzten Jahren bereits eingehend bearbeitet worden (vgl. Prange/Strobel-Eisele 2006, S. 48 ff.). Für den hier verfolgten Gedankengang ist es daher ausreichend, an dieser Stelle die elementaren Formen pädagogischen Zeigens kurz darzustellen. Die Grundform von Zeigen und Lernen lässt sich zunächst in vier weitere Form-Varianten ausdifferenzieren: das ostensive, das repräsentative, das direktive und das reaktive Zeigen.

Die erste Form, das ostensive Zeigen, ist leiblich fundiert und handlungsbezogen. Sie steht, wie leicht zu sehen ist, auch am Anfang der Erziehung, denn Mutter und Säugling müssen sich ja zunächst einmal als Körper aufeinander einstellen: die Brust der Mutter wird dargeboten, und der Säugling muss sie finden, bevor der Saugreflex wirksam werden kann und sich diese Interaktion übend verfestigt und sich dann zur Gewohnheit auszubilden vermag. Die Stationen des ostensiven Zeigens laufen daher über »darbieten – wahrnehmen – aufnehmen – einüben – darbieten« und ergeben somit eine kreisförmige Bewegung eigener Art. Der Körper mit seinen vielfältigen Ausdrucksformen fungiert hierbei gleichsam als Medium des Zeigens. Ostensives Zeigen ist, so könnte man vielleicht auch sagen, seinem Wesen nach ein Zeigen mit dem Körper, das sozusagen auf die Bedürfnisse eines Lernens mit dem Körper antwortet, denkt man an die Beherrschung von einfachen Verhaltensweisen oder auch an die Ausbildung von komplexeren Handlungsvollzügen. Und es muss ja viel gelernt werden, bis man aufrecht stehen und gehen, sich anziehen, die Schuhe zubinden und mit Messer und Gabel essen kann. Dass diese Form die frühe Kindheit dominiert, ist unmittelbar evident, aber sie ist, nomen est omen, »beileibe« nicht auf das frühe Lernen beschränkt. Skateboardfahren, Hochsprung oder Tango-Tanzen lernt man nicht durch Lesen, ebenso wenig wie krankengymnastische Übungen, sondern stets mittels ostensiven Zeigens, eines gezielten, auf je besondere Weise artikulierten Vormachens, auf das ein Nachmachen antwortet, das allerdings nur durch fortgesetztes Üben und begleitende Korrekturen gesichert werden kann. Manche Dinge lernen wir anscheinend wie von selbst, bei anderen reicht ein kurzes Vormachen, häufig aber gibt es eben ohne fortwährende Übungen keinen Meister. Allerdings: so sehr in pädagogischer Einstellung auch die bewusste didaktische Intention einer oder eines Zeigenden im Vordergrund steht, so sollte nicht übersehen werden, dass ostensives Zeigen nicht nur intentional, sondern zuallererst funktional zur Geltung kommt, also sich mitgängig oder beiläufig ergibt. Denn wenn wir »etwas« zeigen, zeigen wir unvermeidlich immer auch uns selbst. Kinder »gucken sich etwas ab« oder »gewöhnen sich etwas an«, und die Erwachsenen wundern sich dann, woher sie das haben (und am meisten wundern sie sich, wenn es sich um eigene Verhaltensweisen handelt, die eigentlich gerade nicht »gezeigt« werden sollten). Anders gesagt: ostensives Zeigen gibt es funktional, und es gibt es intentional. In einer pädagogischen Operation tritt die intentionale Dimension in den Vordergrund und wird oft auch explizit gemacht, indem also etwas Bestimmtes auf eine bestimmte Weise gezeigt wird, wird das Lernen eng zu führen versucht. Damit ist keine Wirkungsgarantie verbunden, die Lernseite muss ihren Teil dazu beitragen, sonst läuft dieses Zeigen ins Leere.

Während das ostensive Zeigen sich auf unmittelbar Gegebenes bezieht, richtet sich die zweite Form, das repräsentative Zeigen, auf die Vergegenwärtigung von Abwesendem. In dem Maße, wie die kognitive Entwicklung der Kinder voranschreitet und sie sich in den Gebrauch von Zeichen, Symbol und Sprache einüben, wird es eben dadurch möglich, auf etwas zu zeigen, das nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbar, sondern kognitiv repräsentiert ist, also vorgestellt und gedacht werden muss. Dadurch werden die Erzieher gleichsam zu »Lesepaten« der kindlichen Welterfahrung. Und über Zuhören und Lesen kann man Dinge über die Welt erfahren, die man selbst noch gar nicht gesehen, gehört und kennengelernt hat. Das repräsentative Zeigen richtet sich also auf Vorstellungen von der Welt und versucht, eben diese zu lenken. Und lenken bedeutet: empathisch entemotionalisieren, sukzessive rationalisieren und dadurch schließlich objektivieren. Das ist ein langer Weg, der erzählend-narrativ beginnt (wie im Märchen von dem Fuchs, der die Hühner raubt) und der erklärend-explanativ endet (wie im Biologieunterricht bei der Beantwortung der Frage, warum manche Hühnereier braun sind und andere weiß). Das Medium des repräsentativen Zeigens ist demnach die Sprache und die Welt der Zeichen; es verwirklicht sich über mehrere Stationen in einem Prozess, der vom Erzählen und Beschreiben über das Erklären und Begründen bis zum Beweisen reicht; und sein Ziel ist der Erwerb des Wissens, das man braucht, um in der Welt selbständig handeln zu können. Repräsentatives Zeigen ist somit auch eine notwendige Bedingung von Mündigkeit, denn wer weiß, kann fragen, nachfragen und kritisieren, nicht zuletzt das Repräsentierte selbst wie auch die Formen, in denen es präsentiert wird. Natürlich wird auch in familiären Konstellationen nicht nur ostensiv, sondern auch repräsentativ gezeigt, dort allerdings meist beiläufig und, durch vielfältige Anlässe stimuliert, in Alltagskontexte eingebettet wie z. B. in den ebenso witzigen wie instruktiven Dialogen nach dem Muster »Papa, Charly hat gesagt, sein Vater hat gesagt, dass…«, kleine Lehrgespräche eigener Art zu welchen Themen auch immer. Seine typische Gestalt aber gewinnt das repräsentative Zeigen vornehmlich in der Schule, dort wird es institutionalisiert, als Unterricht organisiert, durch Curricula und Lehrpläne inhaltlich bestimmt und durch Gesetze und rechtliche Vorgaben gerahmt.

Die dritte Form ist das direktive Zeigen. Es ist als eine eigene Form erkennbar, wiewohl es nicht unabhängig von den beiden anderen zu denken ist, sondern auf sie angewiesen bleibt und mit ihnen einhergeht. Das entscheidende Merkmal besteht darin, dass das direktive Zeigen den Selbstbezug des Lernenden in den Mittelpunkt rückt, die Selbstreferenz in moderner Diktion. Denn es zielt darauf ab, wie der Lernende das Gezeigte in seiner Person strukturell verankert, es zielt also auf seine Motive und Absichten. Während das ostensive und repräsentative Zeigen den jeweils für sie bestimmenden Sachbezug in den Mittelpunkt rückten, steht beim direktiven Zeigen der personale Bezug im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Man könnte auch sagen, im direktiven Zeigen zeigen sich die Erwartungen der Erzieher an die Zu-Erziehenden besonders deutlich, unverhüllt, als Forderungen wie als Aufforderungen. »Ich möchte, dass Du Dich bedankst, wenn Du etwas geschenkt bekommst«, dieser Satz (dem altersgemäße Spielarten sicherlich vorangegangen sein dürften) mag einmal als Beispiel dienen. Denn hier wird deutlich, dass es sich nicht um ein kognitives Defizit handelt (Dank? Was ist das?) und auch nicht um ein Könnens-Problem (Wie bedankt man sich?), sondern gewissermaßen um ein Willensproblem. Und hierin kommt zugleich ein weiteres Merkmal dieser Zeige-Form ins Spiel, der Zukunftsbezug. Denn in dieser Aufforderung kommt die pädagogische Sorge zum Ausdruck, was später wohl aus einem wird, der sich nicht bedanken kann, womöglich als »unhöflich« gilt, keine Manieren hat, dadurch unbeliebt wird und es dann schwer haben wird im Leben. Diese Besorgniskaskaden mögen oft übertrieben sein, aber sie machen deutlich, worum es hierbei eigentlich geht. Das direktive Zeigen hat aber nicht nur diese eine gleichsam moralisch gefärbte Seite, wie sie in sprachlichen Ausdrücken wie dem Ermahnen und Erinnern, dem Bitten und Appellieren erkennbar wird. Es hat noch eine zweite Seite, die sich auf andere Weise an den Lernenden richtet, in dem es seine Potentiale und Möglichkeiten in den Blick rückt, das, was er aus Sicht der Erzieher eigentlich schon kann oder können könnte, aber, aus welchen Gründen auch immer, sich noch nicht zutraut oder ängstlich davor zurückschreckt. Dann bedarf es des Zutrauens, der Anregung, des Ermunterns und Ermutigens, also Aufforderungen, die als positive Herausforderungen wirken, wie z. B. »Du wirst das schon schaffen« oder »Das kannst Du schon« oder auch »Vielleicht möchtest Du lieber Klavier spielen anstatt Geige?«. In beiden Varianten ist der Fokus des direktiven Zeigens strikt darauf ausgerichtet, »wie die Lernenden sich auf sich beziehen« (Prange/Strobel-Eisele, 2006, S. 75). Hierin symbolisiert sich der hohe, auf die ganze Person gerichtete Anspruch der Erziehung ebenso wie ihre Grenze und Beschränktheit, denn ob die Lernenden den (vermutlich meist gut gemeinten) »Direktiven« folgen oder auch nicht – das liegt allein in ihrem Ermessen und ist Ausdruck ihrer Freiheit.

Die vierte und letzte Form schließlich ist das reaktive Zeigen. Es teilt mit dem direktiven die Abhängigkeit von den beiden anderen Formen, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: es richtet sich nicht auf das zukünftige, sondern auf das vergangene Lernen. Wie das direktive ist auch das reaktive Zeigen strikt auf die Person der Lernenden ausgerichtet, nicht im Sinne der Vorsorge, sondern im Sinne der Rückmeldung, denn es wird das zum Gegenstand, was schon gelernt worden ist. Die Erzieher zeigen also darauf, wie das Gezeigte sich in den Lernenden wieder zeigt und daher wird hierbei vor allem evaluiert, geprüft, beurteilt und bewertet, also zurückgemeldet. Es geht, anders gesagt, um pädagogische Resonanz. Die Rückmeldung ist zunächst ein elementarer Bestandteil jeder Lehr-Lern-Interaktion, schließlich müssen wir erfahren und wissen, ob das, was wir zeigen, dem Gezeigten entspricht oder nicht oder noch nicht oder nicht in dieser oder jener Hinsicht. Das gilt sowohl für leib- und handlungsgebundene Sachverhalte (wie etwa beim Tennis, wenn wir unseren Aufschlag zu verbessern versuchen) als auch für alle kognitiven Tatbestände (etwa bei einem Referat, in dem uns wichtige Sachverhalte entgangen sind). Anders gesagt: Jede Übung braucht Korrektur, und das gilt für alltägliche Lernsituationen ebenso wie für formalisierte, in denen es, ganz offiziell, eine »Note« oder eine »Prüfung« gibt. So sachlich geboten und vernünftig die Notwendigkeit von Rückmeldungen auch sein mag, so ist mit jedem reaktiven Zeigen immer auch ein eigentümliches Risiko verbunden. Wenn wir uns nämlich etwas lernend angeeignet haben, ist es zu einem Teil von uns geworden, ein Teil unseres Selbst sozusagen. Aus eben diesem Grund berührt jede Rückmeldung immer auch die Person selbst, es kann also heikel werden. Nimmt das reaktive Zeigen sachlich-thematisches Lernen in den Blick, geht es also um Lob und Kritik. Schon das ist, und zwar für beide Seiten, meist schwer genug. Aber, darin dem direktiven Zeigen gleich, zielt das reaktive Zeigen darüber hinaus auch auf die ganze Person, nicht nur auf ein bestimmtes Können oder Wissen. Wenn zum Beispiel gesagt wird »Wenn Du so weiter machst wie bisher, wirst Du die Prüfung nicht schaffen« oder, ein anderes Beispiel, »Wenn Du keinen Entzug machst und mit den Drogen aufhörst, riskierst Du Dein ganzes Leben«, dann eben steht die Person selbst auf dem Spiel. Dann geht es nicht mehr um Lob und Kritik, sondern um Anerkennung oder eben um Nicht-Anerkennung, dann wird es wirklich ernst, kurzum: existentiell. Reaktives Zeigen hat aber nicht nur bei drohendem Misslingen, sondern gerade auch bei gelingenden Lernprozessen eine wichtige Funktion, denn es bestärkt die Lernenden in ihren Motiven, sei es als professionell mildes Wohlwollen ausgedrückt oder auch als elterliche Freude und Begeisterung angesichts dessen, was Lernende aus sich zu machen vermögen.

Es ist bereits an mehreren Stellen deutlich geworden, dass diese vier pädagogischen Zeigeformen zwar in theoretischer Einstellung auseinandergezogen und isoliert voneinander betrachtet werden können, in der Praxis des Erziehens jedoch erscheinen sie meist als miteinander verbunden. Das gilt nicht nur für das direktive und reaktive Zeigen, die auf die beiden anderen notwendig angewiesen sind, wären sie doch anderenfalls ohne Gegenstand. Es gilt aber auch für das ostensive und repräsentative Zeigen in dem Sinne, dass natürlich auch dann in den allermeisten Fällen gesprochen wird und Wissensbestände ins Spiel kommen, wenn es primär um leib- und handlungsgebundenes Lernen geht. Die Formen hängen also miteinander zusammen, sind aber nicht identisch, denn jede einzelne der Zeigeformen richtet sich auf etwas anderes im Lernprozess und setzt jeweils eigene Akzente. Zum besseren Verständnis dieses Sachverhalts mag ein Beispiel aus der Musik hilfreich sein: Man könnte die Zeigestruktur der Erziehung vielleicht am besten mit einer mehrstimmigen Fuge vergleichen. Jeweils an bestimmten Stellen oder Passagen tritt eine der Stimmen (also eine der Zeigeformen) für eine gewisse Zeit in den Vordergrund und bestimmt das Geschehen, während die anderen in den Hintergrund treten, aber doch nicht aufhören, sondern weiter mitspielen und vernehmbar bleiben. Hörte man hingegen nur einzelne Stimmen, dann ergäbe sich der Klang einer Fuge nicht. Auch in der Erziehung braucht es offensichtlich für einen guten Klang das möglichst kunstvoll arrangierte und flexibel gehandhabte Wechselspiel der unterschiedlichen Zeigeformen. Würde die eine oder andere über Gebühr dominant und träte in den Vordergrund, dürften Missklang und Disharmonie die Folge sein.

In der bisherigen Darstellung wurde das pädagogische Zeigen weitgehend ohne Berücksichtigung von Affekten und Emotionen behandelt. Gleichwohl spielen gerade sie, wie jeder weiß, eine große Rolle. Das ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.

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