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1.2.4 Zeigestruktur und Emotion

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Wissen und Können stärken das Selbstgefühl, Nicht-Wissen und Nicht-Können schwächen es. Zeige-Interaktionen sind nie ein nur kognitiv bestimmtes Geschehen, sondern sie sind, wie alle pädagogischen Bemühungen, stets und dem Stand der Entwicklung gemäß situativ in einen emotional-affektiv fundierten Kontext eingebettet. An dieser Stelle geht es jedoch nicht um die emotionale Komplexität des »Pädagogischen Bezuges« generell, sondern ausschließlich um die Frage, auf welche Weise sich durch das Zeigen selbst eine ganz besondere emotionale Konstellation herstellt und mit ihm gleichsam genuin verbunden zu sein scheint? Diese Frage lässt sich aus meiner Sicht am besten mit Hilfe der psychoanalytischen Selbstpsychologie beantworten, was an anderer Stelle ausführlicher geschehen ist (vgl. Kraft 2004b), so dass hier darauf zurückgegriffen werden kann und eine kurze Darstellung genügen dürfte.8

Wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, sind wir nicht immer freudig erregt und begeistert, wenn uns jemand etwas zeigt, das wir nicht kennen, nicht wissen oder nicht können. Das geht gerade kleineren Kindern auch so, und das kann von jedem Leser leicht empirisch überprüft werden, zum Beispiel dann, wenn man sich mit einem »Überraschungsei« in eine kleine Zeige-Operation verwickeln lässt. Der Vollmilchschokoladen-Hohlkörper dieses in hoher Stückzahl gefertigten (und zum Leidwesen des pädagogischen Begleitpersonals in der Regel an den Kassen der Supermärkte platzierten) Produktes ist meist mit einigen kleinen Teilen, ähnlich einem Puzzle, gefüllt, die, werden sie richtig zusammengefügt, irgendeine Figur ergeben. Je nachdem, wie die Bedingungen eines solchen kleinen Zeige-Experimentes variiert werden, lassen sich zumindest drei Fälle beobachten: Im ersten Fall will ein Erwachsener, vielleicht im guten Glauben, dass das Kind es noch nicht alleine kann, die Figur zusammensetzen; dann schaut das kleine Kind zunächst neugierig und aufmerksam zu, kommentiert vielleicht die erwachsenen Zusammenbauversuche, kann dieses Zusehen jedoch kaum aushalten und versucht, einzugreifen, nimmt dieses Teil und dann jenes und will es offensichtlich selbst machen. In einem zweiten Fall, oft wohl der häufigste, reißen Kinder zunächst die Verpackung auf und wenden sich sogleich der »Lernaufgabe«, den Einzelteilen des Puzzles, zu; und wenn sie die Figur erfolgreich zusammengebaut haben, belohnen sie sich hinterher – stolz und zufrieden – mit dem Genuss der Schokolade. In einem dritten Fall kann es sein, dass die Aufgabe zu schwierig ist und sich die Lösung dem Kind hartnäckig verweigert; dann schieben sie – enttäuscht, ärgerlich und frustriert – meist anderen die Sache zu und versuchen, diese nachdrücklich zum Zusammenbau zu motivieren; die Schokolade bekommt dann eine andere Funktion, sie ist nicht mehr Belohnung, sondern soll die erlittene Kränkung versüßen und so erträglich machen.

Vom kleinen Alltags-Experiment nun zur Theorie: Wer einem anderen etwas zeigt, was dieser noch nicht kennt oder noch nicht kann, berührt damit zwangsläufig dessen Selbstwertgefühl. Daher sind Zeige-Handlungen geradezu zwangsläufig und unvermeidbar überaus selbstwert-sensible Interaktionen, und zwar, wie noch zu sehen sein wird, für alle Beteiligten. Wird uns z. B. etwas mit dem Gestus demonstrativer Überlegenheit gezeigt, sind wir in der Regel, ohne großes Nachdenken, unmittelbar verstimmt, da wir, ob wir nun wollen oder nicht, direkt auf die das Zeigen begleitende Emotion reagieren. Denn diese mitgängige emotionale Botschaft steht für den impliziten, unausgesprochenen Text: Das kannst Du noch nicht! Eine solche Botschaft kränkt. Denn am liebsten würden wir natürlich alles (von) »selbst« lernen und können. Dieser Wunsch ist ein später Abkömmling dessen, was in der Theorie der Selbstpsychologie als »Größenselbst« bezeichnet wird. Das ist eine zunächst archaische Struktur, die den einen Pol des frühen, etwa im zweiten Lebensjahr sich ausbildenden »Kern-Selbst« kennzeichnet. Der andere Pol ist die so genannte »Idealisierte Eltern-Imago«, und beide zusammen ergeben das, was als »bipolares Selbst« gefasst wird. Das »Größen-Selbst« bildet sich durch die Erfahrung des »Gespiegelt-Werdens« in einer responsiven empathischen Umgebung und beinhaltet das vitale Bedürfnis, als eigenes Wesen geachtet zu werden, groß und stark zu sein und hierin Bestätigung zu erfahren. Von hier aus erwerben wir unsere grundlegenden Ambitionen und die Gefühle von Selbstvertrauen, Erfolg und Selbst-Wirksamkeit. In der »Idealisierten Eltern-Imago« hingegen sind, sozusagen nach dem unausgesprochenen Motto: »Du bist groß, aber ich bin doch ein Teil von Dir«, die Bedürfnisse nach Geborgenheit, Ruhe und Schutz vor äußeren Reizen aufgehoben, Bedürfnisse, die im späteren Leben als existentieller Wunsch nach Werten und Idealen spürbar werden. Auf dem Spannungsbogen, der die beiden Pole miteinander verbindet, sind die Talente, Begabungen und Fähigkeiten aufgereiht, die sich in uns nach und nach zu Kompetenzen entwickeln und die wir als Erwachsene schließlich in den Dienst der Produktivität und Kreativität unseres reifen Selbst stellen werden.

Am Beginn der Entwicklung sind diese beiden Pole zunächst archaische, grobe Strukturen; nach und nach werden sie durch jenen Vorgang, den man als umwandelnde Verinnerlichung (transmuting internalization) bezeichnet, gezähmt und umgeformt. Dieser Prozess hat zur Voraussetzung, dass 1. auf die Spiegelungs- und Idealisierungsbedürfnisse des Kindes in ausreichendem Maße reagiert wurde; dass 2. geringfügige, nicht traumatisierende Mängel in den Reaktionen der spiegelnden und idealisierten Selbstobjekte auftreten (man spricht dann von optimaler Frustration); und dass 3. durch diese unvermeidlichen Unzulänglichkeiten allmählich die Funktionen der Selbstobjekte internalisiert werden, so dass an die Stelle der Selbstobjekte und ihrer Funktionen das Selbst und seine Funktionen treten kann (vgl. Milch 2001, S. 93 ff.). Anders gesagt: Das Selbst wird in einem entscheidenden Maße durch unsere frühen Interaktionserfahrungen bestimmt, die auf dem Wege umwandelnder Verinnerlichung gespeichert werden und sich so gleichsam zu einer (mehr oder weniger stabilen) Struktur verfestigen. In der Theorie Kohuts werden diese Interaktionserfahrungen als »Selbstobjekterfahrungen« bezeichnet. Selbstobjekte sind zuallererst andere Personen, die wir – buchstäblich wie selbstverständlich – als Teile unseres Selbst erleben, weil sie etwas leisten, was wir selbst noch nicht oder noch nicht richtig können, ermöglichen sie uns doch etwas, wozu wir alleine noch nicht imstande sind. Ein Beispiel: Ein Erwachsener steht, mit einem kleinen Kind an der Hand, vor einem Fenster und schaut dort hinein, kann also sehen, was sich drinnen ereignet. Das Kind, noch zu klein, kann es nicht, bleibt also gleichsam »außen vor«, ausgeschlossen sozusagen. Das ist keine angenehme Lage, eine Kränkung. Der Wunsch aber ist, auch in das Fenster hineinschauen zu können, so, wie der »große« Erwachsene. Was tun? Vielleicht sprechen und bitten (wenn man schon sprechen kann) oder ersatzweise auch quengeln, dann vielleicht, wenn quengeln nicht zum Erfolg führt, weinen, schreien oder sich auf den Boden werfen. Reagiert der Erwachsene empathisch und responsiv, nimmt er das kleine Kind hoch, so dass es auch mit in das Fenster schauen kann. Das wäre dann, theoretisch gesprochen, eine positive Selbstobjekterfahrung. Es kann allerdings sein, dass der Erwachsene den Wunsch des kleinen Kindes gar nicht bemerkt oder, auch das ist ja denkbar, absichtsvoll missachtet und das Kind maßregelt (»Hör auf zu heulen, nimm Dich zusammen«). Das Kind bleibt unten stehen, der Erwachsene schaut oben hinein. Das wäre dann, theoretisch gesprochen, eine negative Selbstobjekterfahrung. Aus solchen kleinen Szenen setzt sich das zusammen, was Kohut eine Selbstobjektmatrix nennt, gewissermaßen das Muster, das durch fortwährende Wiederholung zu einer Struktur gerinnt. Es dürfte nicht schwer sein, sich vorzustellen, dass sich das Selbstwertgefühl, über das wir später als Erwachsene verfügen, wesentlich der Struktur und Geschichte der gemachten Selbstobjekterfahrungen verdankt. Was lässt sich nun aus dieser ungewohnt erscheinenden Perspektive über die emotionale Dimension pädagogischen Zeigens erkennen?

Zeigesituationen sind Lernsituationen, und als solche sind sie zunächst einmal emotional ambivalent, unentschieden oder offen, denn es winkt einerseits Erfolg (ich könnte etwas können oder wissen, was ich bisher noch nicht konnte oder wusste), oder es droht Misserfolg. Diese verunsichernde Ausgangslage kommt kognitiv als Dissonanz zur Geltung und wird emotional als Gefühl diffuser Spannung spürbar. Entscheidend ist, wie es nun weiter geht: Manchmal verstehen wir etwas Gezeigtes unmittelbar und ohne größere Anstrengungen; rasch verfliegt dann das unangenehme Gefühl. Manchmal allerdings strengen wir uns an, und dennoch lässt sich das Gezeigte nicht wieder selbst zeigen, die Lösung einer Aufgabe scheint sich hartnäckig zu verweigern, und schon stellen sich andere – negative – Gefühle ein, man wird unwillig, ärgerlich, mutlos gar oder resigniert am Ende vielleicht. Man kann hieran sehen, dass Zeige-Situationen unser Größen-Selbst herausfordern, sie können die Kohäsion des lernenden Selbst bedrohen, sie können uns, einfach gesagt, kränken. Zur Zeigestruktur gehört also, theoretisch gesprochen, ein spezifischer emotionaler Subtext. Lerngefühle sind nie nur durch die Struktur einer bestimmten Aufgabe bestimmt, sondern werden zuallererst durch die Struktur des lernenden Selbst entscheidend mit beeinflusst.

In einer pädagogischen Situation gibt es einen Dritten, eine »Zeigerin« oder einen »Zeiger« sozusagen, andere Personen, die sich lehrend dem Lernprozess zur Verfügung stellen, sich ihm gleichsam dienstbar zu machen versuchen. In der Zeigehandlung werden demnach zwei Ebenen situativ verbunden: einerseits übernimmt der »Zeiger« die Funktion der Artikulation, versucht also, uns die Sache kognitiv leichter zu machen; andererseits aber, und das wird häufig übersehen und lässt sich jetzt aus selbstpsychologischer Perspektive genauer beschreiben, übernimmt der »Zeiger« zugleich eine andere, für den Lernprozess überaus wichtige Funktion, er fungiert nämlich als Selbstobjekt des Lernenden. Sofort dürfte klar werden, dass Lerngefühle und Lernerfahrungen nun maßgeblich davon abhängen dürften, wie diese »Dritten« sich zu unserem Lernprozess positionieren. Denn sie können uns zum Beispiel beruhigen und ermuntern, durch einen Witz entspannen oder ablenken, uns etwas vormachen oder auf besondere Probleme und Punkte aufmerksam machen, die für den Lernerfolg wichtig sind. Verhalten sie sich in dieser Weise, werden die »Zeiger« für uns zu positiven Selbstobjekten. Denn wir benutzen diese Dritten gleichsam als passagere emotionale oder kognitive Stützen unseres Lernprozesses, dessen Kränkungspotential sich aufgrund dieser stützenden Begleitung zu verringern vermag. Anders gesagt: Positive Selbstobjekterfahrungen mildern die harten und schmerzhaften Stöße einer möglicherweise drohenden Fragmentierung. Während das Lernen die Kohäsion des Selbst potentiell bedroht, wirken positive Selbstobjekterfahrungen diesem Prozess entgegen und helfen damit dem lernenden Selbst über die Klippe drohender Kränkung hinweg. Aber, wie jeder aus eigener Erfahrung vermutlich wissen dürfte, können sich diese »Dritten« auch anders verhalten. Denn sie verfügen offensichtlich über ein ganzes Arsenal von Möglichkeiten, um das lernbedingte Kränkungspotential zu verstärken, indem sie uns zum Beispiel die notwendige Unterstützung versagen, uns lächerlich machen, als dumm darstellen, etwas sehnlichst Erwünschtes verbieten oder gar mit Strafe drohen. Dann machen wir im Lernen eine negative Selbstobjekterfahrung und sind dieser Situation hilflos ausgeliefert mit der sehr wahrscheinlichen Folge, dass uns nichts mehr einfällt, wir ständig Fehler machen und selbst das, was vorher mühelos gelang, nun gar nicht mehr zur Verfügung steht. Wir fühlen uns blockiert, werden rot, schämen uns, weinen vielleicht oder geraten in andere Formen der Verzweiflung.

In etwas nüchternerer Sprache lässt sich das Gesagte so zusammenfassen: In jedem Lernprozess ist ein Kränkungspotential enthalten. Ob und in welcher Form dieses wirksam wird, hängt primär von der Struktur des lernenden Selbst, sekundär aber maßgeblich auch von den Selbstobjekterfahrungen ab, in die das Lernen kontextuell eingebunden ist. Positive Selbstobjekterfahrungen reduzieren das Kränkungspotential, ihr Fehlen oder Versagen hingegen vergrößert es und führt dazu, dass die Kränkung ihre selbstwertmindernden Wirkungen ungehindert entfalten kann (vgl. Kraft 2004b).

Was für die Lernseite gilt, gilt andererseits auch für die Zeige-Seite, denn in einer Situation pädagogischen Zeigens sitzen beide Interaktionspartner in emotionaler Hinsicht gleichsam in einem Boot. Denn auch das Zeigen selbst kann von Kränkung bedroht sein, etwa dann, wenn, denkt man an den Schulunterricht, Schüler nicht hinreichend gut lernen, also das Gezeigte nicht verstehen oder sich ihm verweigern. Damit schwächen sie potentiell das Größen-Selbst des Lehrers, weil sie ihm z. B. ein Gefühl beruflicher Unzulänglichkeit vermitteln. Denn Schüler können als Selbstobjekte des Lehrers verstanden werden, und sie können, wie jeder aus der Erfahrung der eigenen Schulzeit weiß, für nachhaltig wirksame negative Selbstobjekterfahrungen des pädagogischen Personals sorgen.

Diese wenigen Hinweise dürften ausreichen, um zu zeigen, dass der Zeigestruktur, gewissermaßen einem Bindegewebe ähnlich, ein Geflecht wechselseitiger Selbstobjektbeziehungen eingelegt ist. Auf beiden Seiten ist die Kohäsion des Selbst, des Lernenden wie das des Lehrenden, potentiell bedroht. Subjekt und Objekt des Zeigens teilen also, selbstpsychologisch gesehen, in emotionaler Hinsicht eine ähnliche Lage. Gerade pädagogische Situationen können demnach von beiden Seiten mit narzisstischer Dynamik aufgeladen sein oder in ihrem Verlauf aufgeladen werden. Deshalb ist die pädagogische Atmosphäre vielfach so spannungsvoll verdichtet, ein leicht entzündbares Gemisch, das sowohl zu eindrucksvollen Explosionen führen kann als auch Implosionen zu erzeugen vermag.

Die folgende kleine Skizze soll das Gesagte noch einmal auf andere Weise veranschaulichen.


Abb. 6: Die psychodynamische Schichtung des Didaktischen Dreiecks

Mit Hilfe der eingeführten selbstpsychologischen Begriffe lässt sich das, was üblicherweise als Beziehungsaspekt pädagogischer Kommunikation bezeichnet wird, erheblich differenzierter erfassen. Das manifeste Geschehen einer jeden pädagogischen Zeige-Situation ruht, emotional gesehen, auf drei unterscheidbaren, in der Regel nicht erkennbaren, also latenten Schichten: Die unterste, erste Schicht verweist auf die Selbststrukturen der Akteure, also die der Adressaten und die der Zeigenden. Und Selbststrukturen sind, vereinfacht gesagt, Produkte biographischer Erfahrungen. Hierüber legt sich als zweite Schicht die der Selbstobjekterfahrungen, die die Beteiligten wechselseitig füreinander im Rahmen der Zeigeinteraktion zu realisieren vermögen. In Abhängigkeit davon, ob diese Selbstobjekterfahrungen eher eine positive oder eher eine negative Gestalt annehmen, ergibt sich dann als dritte Schicht diejenige der aktuell zum Ausdruck kommenden Affekte, Emotionen, Gefühle und Stimmungen, die Lehr-Lern-Situationen kontextuell begleiten. In Zeige-Situationen, so ist an anderer Stelle gesagt worden, zeigt ein Zeiger unvermeidbar immer auch sich selbst, sein Selbst sozusagen. Und damit kommen, nolens volens, Emotionen und Affekte mit ins Spiel und bestimmen maßgeblich den Akt des Zeigens mit. Das ist beileibe keine neue Einsicht, denn in der Geschichte der Erziehung weiß man das seit altersher. Und man weiß auch, wie dieser Unvermeidbarkeit am besten zu begegnen ist, mit Zurückhaltung und Takt nämlich. Dass dies allerdings nicht immer leicht zu realisieren ist, steht auf einem anderen Blatt und berührt ein anderes Thema.

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