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1.2.5 Das Zeigen des Zeigens: ›Natural Pedagogy‹

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Zu Beginn der Ausführungen zur Zeigestruktur der Erziehung ( Kap. 1.2.1) ist dargestellt worden, wie der Wechsel von dyadischer zu triadischer Kommunikation, der für die Neunmonatsrevolution kennzeichnend ist, unmittelbar zur Grundform pädagogischen Zeigens führt. Dieser Sachverhalt soll nun noch einmal aufgenommen und auf andere Weise in den Mittelpunkt gerückt werden. Denn die Frage ist ja, wie dieser frühe Zeige-Mechanismus erklärt werden kann? Welche Umstände sind es genau, die dafür sorgen, dass die kleinen Kinder so viel mehr und so viel schneller lernen können als kleine Affen?

In der modernen experimentellen Entwicklungsforschung gibt es dazu unterschiedliche Erklärungen: Für Tomasello ist es, wie dargestellt, die Perspektivenübernahme im Kontext »geteilter Intentionalität«, die das frühe kulturelle Lernen in Gang setzt und es im Fortgang der Entwicklung so exponentiell zu beschleunigen vermag. Für andere Forscher (Meltzoff) beruht das frühe Imitationslernen auf einer angeborenen Prädisposition zur Identifikation, wodurch die kleinen Kinder sozusagen zu ›Generalisten der Nachahmung‹ (imitative generalists) werden, was zu den beeindruckenden Lernleistungen führt. Und aus neurowissenschaftlicher Sicht (Rizzolatti) ist es das System der Spiegelneuronen, das gewissermaßen »automatisch« für Resonanz des Gezeigten im Bewusstsein der kleinen Lerner sorgt.

Seit geraumer Zeit gibt es nun einen weiteren Erklärungsansatz, der etliche der mittlerweile klassisch gewordenen experimentellen Befunde besonders gut zu erklären vermag, dem also, anders gesagt, offensichtlich eine hohe prognostische Valenz zukommt. Dieser (andere Einsichten integrierende) Ansatz wird als »natural pedagogy« bezeichnet und ist maßgeblich von den ungarischen Entwicklungsforschern György Gergely und Gergely Csibra (2005; 2006; 2007a; 2007b; 2011a; 2011b; 2013) entwickelt und in zahlreichen Experimenten getestet worden. Das Konzept der Operativen Pädagogik erfährt hierdurch eine entwicklungspsychologische Fundierung und weitere Bestätigung (vgl. Kraft 2018). Daher soll diese Theorie als Abschluss hier zumindest im referierenden Überblick in ihren wesentlichen Grundannahmen vorgeführt und erläutert werden.9

Die Theorie der »natural pedagogy« beruht auf folgender »Entdeckung«: Viele Situationen, in denen es den Anschein hat, als würden die kleinen Kinder schlicht das Verhalten erwachsener Artgenossen imitieren, zeigen bei genauerem Hinsehen (z. B. unter experimentellen Bedingungen) eine eigentümliche, typische Struktur der Interaktion, die immer wieder zu beobachten ist, also mit hoher Konstanz auftritt. Große Menschen und kleine Lerner sind nämlich durch eine ganz besondere Weise miteinander verbunden, die bei Primaten nicht zu finden ist: Erwachsene stellen ihrem Nachwuchs ihr Wissen ausschließlich mit der Absicht zur Verfügung, dass die kleinen Kinder es übernehmen können und es auch übernehmen. Hierbei handelt es sich um eine frühe Lehr-Lern-Situation, in der ein Großer die Rolle des »teacher« und die oder der Kleine dementsprechend komplementär die Rolle des »learner« einnehmen. Man kann also mit guten Gründen von einem elementaren pädagogischen Mechanismus sprechen, »natural pedagogy« eben. Denn es gibt zwei deutlich voneinander unterschiedene und sich wechselseitig ergänzende Rollen (›teacher‹–›learner‹), und es gibt zugleich eine von beiden geteilte Situationsprämisse, eine gemeinsame Einstellung sozusagen, die als ›pedagogical stance‹ bezeichnet wird (vgl. Gergely/Csibra 2005, S. 465). Diese für beide Interaktionspartner leitende pädagogische Einstellung sorgt dafür, dass beide wissen, dass es sich um eine Situation eigener Art handelt, eine besondere Situation, in der es Besonderes auf besondere Weise zu lernen gibt. Nun wissen wenige Monate alte Kinder und lange vor der Sprache natürlich nichts von Situationsprämissen und pädagogischen Einstellungen. Sie müssen dies also irgendwie »merken«. Aber wie geschieht das? Wie kommt diese besondere pädagogische Einstellung auf der Ebene des beobachtbaren Verhaltens zum Vorschein, erlangt Geltung und bestimmt das Geschehen?

Die Antwort lautet: zuerst durch ostensive Kommunikation, durch ostensives Zeigen. Damit eine Situation zu diesem frühen Zeitpunkt der Entwicklung als eine »pädagogische« verstanden werden kann, muss sie zuallererst als eine solche erkennbar sein, also eindeutig markiert werden, kurzum: das Zeigen muss gezeigt werden! Dies geschieht dadurch, dass Erwachsene als »teacher« besondere Verhaltensweisen an den Tag legen: sie nehmen direkten Blickkontakt auf, sie ziehen die Augenbrauen hoch, sie sagen pointiert den Namen des Kindes und verwickeln sich mit ihm in wechselseitige Aufmerksamkeit, und sie verändern ihre Sprechweise zum typischen »babytalk« (auch ›motherese‹ genannt), sie sprechen also besonders langsam und überdeutlich artikuliert, meist mit veränderter höherer Tonlage, eigentümlicher Betonung und mit mehrfachen Wiederholungen wichtiger Wörter. Zahlreiche Studien haben nun erwiesen, dass kleine Kinder gerade für diese ostensiven Reize besonders empfänglich sind und hierauf mit hoher Sensitivität reagieren, so, als merkten sie, »aha, jemand will mir etwas zeigen«. Der zweite Schritt, der notwendig folgen muss, ist die eindeutige Bestimmung dessen, was gezeigt und gelernt werden soll, die Referenz, so der Fachausdruck, muss gesichert werden und eindeutig sein, das also, worum es gehen soll. Daher lenken die erwachsenen ›teacher‹ die gewonnene Aufmerksamkeit auf den jeweiligen Gegenstand, um den es geht, z. B. durch Veränderung der Blickrichtung, durch Kopfbewegungen, durch direktes hinweisendes Zeigen (›pointing‹) oder weitere den Gegenstand explorierende Gesten. Der dritte Schritt schließlich bringt die Relevanz des Gezeigten ins Spiel, die Frage also, was an dem Gezeigten neu und brauchbar, universell gültig und generalisierbar ist und daher gelernt werden soll. Ostension depersonalisiert gleichsam das Gezeigte und lässt es als etwas Allgemeines erscheinen, das das kleine Kind dann in seine kognitive Struktur einbauen kann. Frühes Lernen ist, so könnte man sagen, hoch selektiv, weil es nur bestimmte Aspekte des Gegenstandes in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, nur diejenigen, die aus der Sicht des ›teacher‹ gerade jetzt für den Lernprozess des »learner« bedeutsam sind. Es wird also nicht alles gezeigt, sondern nur einzelne Elemente oder Facetten, die der »learner« gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung, benötigt, um sein eigenes Wissen zu erweitern. Eben diese Reduktion erlaubt es dem »learner«, besonders schnell zu lernen (›fast mapping‹), gerade weil nicht alles zugleich gelernt werden muss. Der operative Mechanismus der ›natural pedagogy‹ besteht demnach aus drei verschiedenen, voneinander deutlich unterscheidbaren, aber miteinander aufs Engste verflochtenen und sich kreisförmig verschränkenden Prozessen: Ostension, Referenz und Relevanz (vgl. Csibra/Gergely 2006, S. 258-261).

Erziehung beruht auf Kooperation und Gegenseitigkeit. Das wird bereits, oder besser gesagt: gerade in diesen frühen Stadien der Entwicklung offensichtlich, denn »natürlich« zeigen nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die kleinen Kinder, indem sie durch entsprechende Gesten die Aufmerksamkeit kulturell Kundiger zu gewinnen versuchen. Anders gesagt: Kleine Kinder sind fortwährend auf der Suche nach möglichen »teachers«. Gleichheit gibt es allerdings nur kommunikativ, im Hinblick auf Ostension und Referenz. Hinsichtlich der Relevanz eines Lerngegenstandes sind die erwachsenen Artgenossen gefordert, weil nur sie bereits über das Wissen verfügen, das Kinder sich erst aneignen und erwerben müssen. Denn nur was man bereits kennt und durchschaut hat, kann man auch in einer pädagogischen Situation »zeigen«.

In diesem Zusammenhang führt Gergely (2013, S. 127) den Begriff des »opaken Wissens« (cognitive opacity) ein. Für ein kleines Kind sind viele, wenn nicht die meisten Elemente eines Gegenstandes zunächst verborgen und nicht durchschaubar. Es lernt aber nicht erst dann, wenn es alles darüber weiß. Vielmehr verhilft die »pädagogische Einstellung« dazu, den Direktiven des erwachsenen Zeigers unmittelbar, also auch ohne Einsicht, folgen zu können. Dadurch kann eben schneller und ohne Umwege effektiv gelernt werden.10 Das Kind verlässt sich »unausgesprochen« sozusagen darauf, dass der Erwachsene schon weiß, wie sich etwas am besten und einfachsten aneignen lässt, so dass sich die Lernwege verkürzen, es muss also, anders gesagt, nicht alles noch einmal ganz auf sich gestellt sich anzueignen versuchen. Möglich ist dies allerdings nur dann, wenn der kleine ›learner‹ dem erwachsenen ›teacher‹ bedingungslos vertrauen kann, also über etwas verfügt, was man »epistemisches Urvertrauen« (vgl. Gergely/Unoka 2011b, S. 885) nennen könnte. Nur dann kann sich das kleine Kind gleichsam vorbehaltlos dem Lernen des Gezeigten hingeben. Und nur unter dieser Annahme, das kommt hinzu, wird das zu erwerbende Wissen auch als universell und allgemein gültig erkannt (und nicht etwa nur als eine Episode verstanden, die der momentanen Laune oder Befindlichkeit eines Erwachsenen zuzuschreiben wäre).

Der Mechanismus der ›natural pedagogy‹ ist aber nicht nur für das kognitive, sondern gerade auch (und wohl zuallererst) für das emotionale Lernen und die damit unmittelbar verbundene Entwicklung der kindlichen Selbststruktur von buchstäblich grundlegender Bedeutung (vgl. dazu insbesondere Csibra/Gergely 2011a). Denn Säuglinge müssen ja nicht nur sorgsam in die gegenständliche Welt eingeführt und mit ihr vertraut gemacht werden, sondern vor allem auch in ihre eigene innere Welt, in ihre Affekte und Emotionen, in ihr Selbst. Wie aber lernen sie, was eine »Erregung« eigentlich bedeutet? Wie lernen sie, was »Wut« ist oder »Furcht«, was »Freude« von »Traurigkeit« unterscheidet, was »Ekel« bedeutet oder »Interesse«? Wie erfahren sie, was »das« ist, was sich in ihnen regt, wie erwerben sie also Einblick in ihre eigenen inneren Vorgänge, wie lernt man »Introspektion«? Denn die Fähigkeit zur Introspektion ist die Voraussetzung dafür, auch das Innere von anderen zu verstehen, das also auszubilden, was in der modernen Entwicklungsforschung als »theory of mind« oder »Mentalisierung« bezeichnet wird, nämlich die mentalen Zustände anderer zu verstehen, sich in sie einzufühlen, damit deren Handlungen zu deuten, vorherzusehen oder auch manipulieren zu können. Introspektives Wissen ist somit die grundlegende Voraussetzung dafür, das eigene Selbst überhaupt affektiv kontrollieren und steuern zu können. Mittlerweile gibt es hierzu eine kaum mehr überschaubare Vielzahl von eindrucksvollen Forschungen, differenzierten theoretischen Konzepten und faszinierenden experimentellen Befunden, die hier nicht behandelt werden können (vgl. dazu Fonagy et al. 2011). Aber zumindest ein Aspekt soll hier näher betrachtet werden, weil er die Bedeutung der ›natural pedagogy‹ gerade auch für das Lernen von Emotionen (und damit für die Selbstentwicklung) eindrücklich zum Vorschein bringt. Wie »lernt« man »Gefühle«?

Säuglinge brauchen auf sie eingestimmte, einfühlsame Pflegepersonen, die auf ihre affektiven Äußerungen spiegelnd reagieren. Das weiß man. Man weiß auch, dass sie anfangs in erster Linie nach außen orientiert sind und auf dementsprechende Reize äußerst sensibel reagieren, während ihre introspektive Aufmerksamkeit zunächst kaum ausgeprägt ist. Sie müssen also lernen, was »das« ist, was sich in ihnen regt. Dabei kommt nun auch hier das operative Inventar der ›natural pedagogy« zur Geltung, und zwar auf ganz ähnliche Weise wie beim gegenständlichen Lernen: Zunächst bedarf es der besonderen ostensiven »Markierung«, damit das, worum es jetzt geht, also ein Affekt oder ein Gefühl, sich deutlich von dem normalen Interaktionsgeschehen abheben und als »Lernaufgabe« erkennbar werden kann. Daher spiegeln Pflegepersonen in der Regel Affekte auf eine ganz typische Weise: sie zeigen ein übertriebenes oder extrem verlangsamtes Verhalten, schematisieren oder verkürzen die Emotionsäußerung oder führen sie nur teilweise aus oder mischen die Darbietung mit Äußerungen anderer Emotionen, wobei fortwährend ostensive Signale gegeben werden, also ein besonders intensiver Blickkontakt, ein Hochziehen der Augenbrauen, ein leichtes Neigen des Kopfes oder ein Weiten der Augen. Dadurch wird etwas Entscheidendes möglich: der gezeigte Affekt wird von der Pflegeperson gleichsam »entkoppelt«, erscheint also als nicht zu ihr gehörig und steht damit, so könnte man sagen, als »Lerngegenstand« im Raum. Wo aber gehört das Gezeigte hin, wie lässt sich diese neue Information zuordnen? Das Baby muss also nach dem »Referenten« suchen. Während dieser »Suche« richten sich die referenziellen Orientierungssignale der großen »Zeiger«, von typischem »baby-talk« begleitet, weiter fortwährend auf das kleine Kind, auf sein Gesicht und seinen Körper, wobei die »lernende Einstellung« über innere Prozesse dafür sorgt, dass die entkoppelte Emotionsäußerung wohl offensichtlich eben am Ende auch genau dort hin gelangt, also in das Selbst des Kindes. Eine solche Interaktion ist ja keine einmalige Erfahrung, sondern wird wieder und wieder in unterschiedlichen Situationen wiederholt. Dieser »Emotionsunterricht« gibt sukzessive dem Aufmerksamkeitssystem des kleinen Kindes eine zunehmend introspektive Ausrichtung und sorgt, wenn alles gut geht, am Ende dafür, dass sich ein introspektiv wahrnehmbares subjektives Selbst herauszubilden vermag. Man kann sich leicht vorstellen, welche dramatischen Folgen es haben kann, wenn ein kleines Kind über lange Zeiträume hinweg Pflegepersonen ausgeliefert ist, die, aus welchen Gründen auch immer, dazu nicht in der Lage sind.

Man kann also sagen: ostensive Kommunikation öffnet die Tür zur Pädagogik, sie markiert Referenz und Relevanz eines Sachverhaltes oder Gegenstandes, sie begleitet diese besondere Form einer sozialen Interaktion und sorgt so für schnelles und effektives Lernen kulturell notwendigen Wissens. Kleine Kinder sind offensichtlich von Natur aus auf »teaching« vorbereitet und dazu disponiert, hierauf mit »learning« zu reagieren. Und Pädagogik gibt es bei Affen nicht, denn »natural pedagogy«, um Gergely einmal wörtlich zu zitieren, »is a specialized human-specific cognitive adaptation, a relevance-guided social communicative learning device of mutual design that has evolved to ensure the fast and efficient intergenerational transfer of relevant cultural knowledge from knowledgeable to ignorant conspecifics« (2007b, S. 173). Der pädagogische Mechanismus ist aber nicht nur Ergebnis der Evolution, sondern zugleich auch deren Motor, wird doch auf diese Weise fortwährend immer auch die Bedingung für neues Wissen geschaffen. Damit wird allerdings nicht behauptet, dass Kinder »nur« auf diese Weise, also »nur« pädagogisch lernten. ›Natural Pedagogy‹ aber ist ein besonderer und besonders wirksamer Teil kindlichen Lernens, der die angeborene Fähigkeit zur Nachahmung auf besondere Weise hervorruft und zu lenken vermag und damit Dinge zu lernen erlaubt, die ohne diesen pädagogischen ›support‹ äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu lernen wären. Insofern erscheint auch die Annahme begründet, dass die Fähigkeit, zu belehren und vom Belehrt-Werden lernen zu können, eine ursprüngliche Anpassungsleistung ist, die sogar unabhängig von und noch vor der Sprachentwicklung wirksam wird. Dass später Sprache und wachsende Kompetenzen die Wirksamkeit weiter steigern, versteht sich von selbst. Zuerst jedoch muss die pädagogische Form der Interaktion gelernt werden, dann ist sie später offen für Inhalte aller Art. ›Natural Pedagogy‹ ist, so könnte man mit einem modernen Bild zusammenfassen, gewissermaßen das kognitive Betriebssystem kulturellen Lernens, und wenn es einmal erworben ist und funktioniert, dann lassen sich verschiedene Programme damit zum Laufen bringen, dann folgt auf die »natürliche« die »künstliche Pädagogik«, ›artificial (professionalized) pedagogy‹ sozusagen, kein neues Betriebssystem allerdings, sondern nur ein »update«, angepasst an den jeweils neuesten Stand der kulturellen Entwicklung.

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