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1. Die Universität Oxford

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Ockham kam auf Geheiß seines Provinzials1 an die älteste und bedeutendste Universität Englands: Oxford.2 Ein genaues Gründungsjahr für diese Universität lässt sich nicht festmachen, jedenfalls reicht sie im Alter an die ehrwürdige Pariser Universität heran oder übertrifft diese womöglich. Wie diese war sie im Laufe des 12. Jahrhunderts auf Grundlage vorhandener Bildungseinrichtungen entstanden. Dabei zeichnete Oxford allerdings gegenüber Paris eine Besonderheit aus, die der Universitätsleitung ein hohes Maß an Freiheit gab: Während der eigentliche Universitätsherr, der Bischof, in Paris in unmittelbarer Nähe der Universität residierte und – wie Eingriffe in Lehrstreitigkeiten zeigen – entsprechend wachsam das Geschehen an der Universität verfolgen konnte, war für Oxford der Bischof von Lincoln zuständig, der zu weit von seiner Universität entfernt war, um tatsächlich wirksam in deren Alltag intervenieren zu können. Faktischer Lenker der Universität war spätestens seit dem Jahre 1216 ein Kanzler, der, formal an Stelle des Bischofs agierend, eine gewisse Selbstständigkeit zu erringen vermochte.

Diese besondere Konstellation trug dazu bei, dass die Oxforder Gelehrten sich früher als ihre Pariser Kollegen einer sehr freien Aristoteleslektüre widmen konnten. Das galt für Dominikaner ebenso wie für die Franziskaner, die seit 1224 in die Universität einbezogen waren. War dieser Orden in Paris noch sehr verhalten in der Aufnahme des Aristoteles, wie sich etwa an dem vorsichtigen Umgang mit ihm bei Alexander von Hales (ca. 1185 – 1245)3 , dem ersten großen franziskanischen Lehrer in Paris zeigt, so hatte Oxford in Robert Grosseteste (ca. 1168 – 1253)4 , dem späteren Bischof von Lincoln (1235), schon früh einen franziskanischen Theologen, der sich der Aufnahme des Aristotelismus weit öffnete. Seit etwa 1200 lehrte er in Oxford die artes, ab 1229 die Theologie. Sosehr er in seiner Geistigkeit gerade auch als Lehrer der artes Augustin verhaftet blieb, so bemerkenswert ist es doch, dass von seiner Hand Kommentare zu den beiden Analytiken des Aristoteles erhalten sind, also zu den Büchern, die die Wissenschaftslehre des Stagiriten entfalten, und ebenso auch zur Physik, seinem naturphilosophischen Hauptwerk. Diese Beschäftigung mit Aristoteles fand gerade in der Zeit statt, als seine Hauptaufgabe die Lehre der Theologie war, wurde von ihm also keineswegs – wie es in dem mit Verboten überschütteten Paris der Fall war – als Spannung zur theologischen Aufgabe empfunden, sondern als deren Stütze. Jene Harmonie von Philosophie und Theologie – grundsätzlicher formuliert: von Vernunft und Offenbarung –, um die der Dominikaner Thomas von Aquin (ca. 1224 – 1274)5 in Paris mühsam kämpfen musste, war bei den Oxforder Franziskanern lange Zeit nahezu ungefährdet. Es waren erst die Rückwirkungen vom Kontinent, die dann auch in England die Frage nach einem angemessenen Verhältnis zwischen beiden akut werden ließ.


Abb. 1: Oxford im 14. Jahrhundert: Ockham lehrte im Konvent der Franziskaner (Franciscan Convent).

Aus: Die Gegenwart Ockhams, hrsg. von Wilhelm Vossenkuhl und Rolf Schönberger, Weinheim 1990, S. 332.

Das Oxford des 14. Jahrhunderts hatte noch nicht jene gediegene College-Atmosphäre, wie sie die heutigen bedeutenden alten Universitäten Englands kennzeichnet. Zwar lässt sich die Geschichte einiger Colleges bis ins 13. Jahrhundert verfolgen6: 1249 wurde University gegründet, in den Sechzigerjahren Balliol und etwa zeitgleich auch das Merton College, das im 14. Jahrhundert eine bedeutende Rolle als Pflanzstätte moderner naturwissenschaftlicher Einsichten gewinnen sollte. Doch waren dies nicht wie heute Orte, an denen die meisten Studenten Unterkunft erhalten hätten, denn sie waren nur für Graduierte geöffnet. Der Großteil der Weltgeistlichen, die in Oxford studieren wollten, fand Unterkunft in einer aula oder auch in privaten Quartieren. Die allermeisten der 1000 bis 1500 Studenten7 aber lebten in einem der großen Ordenshäuser. Nicht alle lagen innerhalb der Stadtmauern. So befand sich der Konvent der Dominikaner ebenso wie der der Franziskaner südlich der Stadt.

Hier, in den Ordenshäusern, fanden dann auch die Vorlesungen statt. Nur ganz selten, zu besonders feierlichen Gelegenheiten, zog man in die Stadt, in die franziskanische Kirche St. Mary. Die Studenten in den Vorlesungen der Franziskaner kamen größtenteils ebenfalls aus dem Konvent, so dass der Lehrbetrieb bis zu einem gewissen Grade nach innen, auf den eigenen Orden orientiert war. Doch gerade die Vielzahl der Oxforder Studenten, die keinem festen College oder Konvent zugeordnet war, führte dazu, dass stets auch Neugierige von außen kamen. Denen ging es nicht immer darum, einen besonders interessanten Lehrer zu hören. Vielmehr stieß mancher auch schlicht deswegen zu den Bettelorden, weil hier akademische Lehre besonders günstig zu haben war. Anders als die Weltgeistlichen nahmen sie, der Armut verpflichtet, kein Hörergeld und waren somit relativ erschwinglich. Es muss sich also im Hörsaal eine bunt gemischte Gruppe eingefunden haben, die den Worten des Lehrers lauschte.

Die intellektuelle Atmosphäre scheint dabei äußerst lebendig gewesen zu sein. Die Studenten diskutierten untereinander und bezogen in dieses Gespräch auch ihre Lehrer ein. Neben anderen Beispielen8 zeigt dies auch eine Szene aus Ockhams späterem eigenen Lehrbetrieb, freilich wohl schon aus der Londoner Zeit und nicht mehr aus Oxford. Einer seiner Schüler, Adam von Wodeham (ca. 1295 – 1358)9 , der später selbst in London, Oxford und Norwich die Sentenzen las, setzte sich, selbst schon ein angesehener akademischer Lehrer, ausführlich mit Aussagen Walters von Chatton (1285 – 1344) auseinander, einem Franziskanertheologen, der gleichzeitig mit Ockham und in Wodehams Studientagen am Londoner Studium unterrichtete (s. u. S. 88). Es geht um eine Stelle, an der Chatton – seinerseits gegen Ockham gerichtet – einen Pariser Lehrartikel interpretiert hatte, der die in der Tat für christliche Ohren höchst anstößige Behauptung verbot, die Seele des Erlösers Jesus Christus sei nicht edler als die seines Verräters Judas. Für den vorliegenden Zusammenhang ist weniger der Inhalt dieser sehr speziellen, in gewisser Weise – durch die Behandlung eines grundsätzlichen Problems anhand eines scheinbar abgelegenen Falles – „typisch scholastischen“ Diskussion von Bedeutung als die Tatsache, wie Wodeham gewissermaßen die Diskussion seiner eigenen Studienzeit wieder aufleben ließ, indem er anmerkte: „Zum vierzehnten antwortet Ockham, dass jener [also Chatton] den Artikel [mit der genannten Verurteilung] schlecht verstanden hat.“10 Und hier nun hat Wodeham am Rande seines Manuskriptes notiert: „manu sua in margine reportationis mee“ („eigenhändig am Rand meiner Mitschrift“).11 Diese Bemerkung ist wohl so zu verstehen, dass der seinerzeitige Student Adam von Wodeham seine Mitschrift der Vorlesung von Walter von Chatton Ockham vorgelegt hat – und dieser, schriftlich, die Ausführungen des Kollegen kommentiert hat.

Schlaglichtartig macht diese Szene eines deutlich: Der akademische Lehrer, sei es nun in London oder in Oxford, war keine unhinterfragbare Autorität, sondern er musste schon deswegen, weil den Studenten die Diskrepanz zwischen verschiedenen Vorlesungen und ihren Thesen überdeutlich war, permanent mit entsprechenden Infragestellungen rechnen. Die Autoritätswissenschaft, die scholastische Philosophie und Theologie einmal gewesen war, war zwar nicht ganz aufgegeben. Selbstverständlich zitierte man immer wieder die großen Kirchenväter, ja Grundlage der Sentenzenvorlesung war eben, wie der Name schon sagt, eine Sammlung von Sentenzen der Großen der Vergangenheit. Aber diese Autoritäten waren offenkundig deutbar und an dem Deutungsgeschäft nahmen die Studenten, mindestens fragend, teil.

Sie wandten dabei nur an, was sie in den akademischen Veranstaltungen lernen konnten: Schon für die mittelalterliche Universität gilt, dass die Vorlesung nur die eine Form der akademischen Lehre war. Daneben hatte eine mindestens ebenso große Bedeutung die Disputation12 , in der eine Frage unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelt wurde. Man löste sich von dem vorgegebenen Stoff eines Buches, einer Autorität, um Probleme in freierem, stärker sachlichem Gespräch zu behandeln. Dabei wurde dann nicht nur, wie in der Vorlesung, die Abwägung der Argumente durch einen Professor allein durchgeführt, sondern man trat einander im realen Streitgespräch gegenüber: Ein opponens attackierte eine vorgegebene These, und ein respondens antwortete wiederum darauf, ehe ein Baccalaureus oder Magister, also ein schon Graduierter, die gestellte Frage abschließend beantwortete. Dieses Verfahren der Disputation hatte sich schon früh an den Universitäten etabliert und bedeutete eine beeindruckende Denkschulung. Eine Frage wurde stets so gestellt und behandelt, dass ihre Beantwortung auf zwei grundlegende Alternativen hinauslief. Zugleich bot die jeweilige Argumentation genügend Möglichkeiten, den internen Differenzierungen bei der Beantwortung Raum zu geben. Es ist kaum erstaunlich, dass dieses in der akademischen Lehre vorgeführte Verfahren die Studenten dazu anregte, beim wissenschaftlichen Diskurs mitzudenken, zumal sie selbst als opponens und später, in höheren Semestern als respondens auch ausdrücklich institutionell daran beteiligt waren und so schon früh ihre Fähigkeit zu selbstständigem Denken unter Beweis zu stellen hatten.

William J. Courtenay vergleicht den kritischen Umgang der Studenten mit Lernstoff und Lehrern mit dem ritterlichen Turnierwesen13 – das mag vielleicht allzu gewagt sein, gibt aber die Atmosphäre doch insofern richtig wieder, als die intellektuellen Debatten zweifellos nur selten den ganz grundsätzlichen Charakter hatten, den sie später noch im Leben Ockhams annehmen sollten: den Streit um christliche Wahrheit im Widerspruch zur Häresie. Meist ging es um diffizile Denkübungen, an denen man den eigenen Verstand schärfen konnte, um einen in der Debatte letztlich spielerischen Umgang mit der Wahrheit und den Möglichkeiten ihrer Bestimmung.

Im Unterschied zu diesen eigenständiges Denken animierenden Veranstaltungsformen bedeutete Vorlesung allerdings im Großen und Ganzen tatsächlich das, was der Name sagt: ein Diktat. Gut dokumentierte mittelalterliche oder frühneuzeitliche Vorlesungen wie die Martin Luthers, von denen man die Mitschriften mehrerer Studenten hat, zeigen trotz aller Divergenzen im Einzelnen eine so bemerkenswerte Nähe14 , dass deutlich wird, dass in der Tat Wort für Wort langsam vorgetragen und mitgeschrieben wurde. Mitgeschrieben wurde allerdings in möglichst hohem Tempo: Mittelalterliche Vorlesungsmitschriften strotzen von einer Fülle von Abkürzungen, die auf den eiligen Betrieb im Hörsaal zurückgehen.

Auch wenn universitas im Mittellateinischen nicht mit den humboldtschen Assoziationen einer umfassenden Repräsentation des Wissenskanons aufgefüllt war, sondern zunächst nicht mehr bedeutete als die rechtlich verfasste Korporation von Magistern und Studenten, so gehörte doch zu einer mittelalterlichen Volluniversität der Aufbau in vier Fakultäten, die den Kosmos des Wissens bildeten. Grundlage war die artes-Fakultät. Hier musste – von Ausnahmeregelungen für Theologiestudenten aus den Bettelorden abgesehen – jeder Student seine ersten akademischen Kenntnisse sammeln, ehe er auf eine der höheren Fakultäten – Jurisprudenz, Medizin oder Theologie – wechseln konnte.

Der Fächerkanon der artes-Fakultät hatte sich mittlerweile längst von dem alten Rahmen der septem artes gelöst, wie er in der Spätantike entwickelt worden war. Das Trivium, die sprachlichen Disziplinen – Grammatik, Logik und Dialektik –, wurde in seinen Grundlagen ohnehin schon lange an den Lateinschulen gelehrt, und auch die einfache Einteilung der mathematischen Disziplinen im Quadrivium – Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik – entsprach längst nicht mehr dem ausdifferenzierten Stand des Wissens. Diese Facheinteilung war im Grunde schon mit der Kenntnis des vollen Aristoteles, die um 1200 über Spanien und Sizilien nach Europa gelangt war, zu eng geworden.

Das Curriculum an den artes orientierte sich daher in Oxford wie in Paris nicht mehr an den einzelnen Fächern, sondern an den Schriften des Aristoteles, die kommentierend vorgelesen wurden. Vor allem aber war der klassische Kanon der septem artes längst durch die „drei Philosophien“ ergänzt und nahezu in den Schatten gestellt worden: Naturphilosophie, Moralphilosophie und Metaphysik15 , und auch innerhalb der septem artes war jedenfalls in Oxford eine deutliche Gewichtung zugunsten der Logik erkennbar.16 Auch wenn Ockham seine artes-Ausbildung vermutlich nicht in Oxford genossen hat, sondern von dem traditionellen Privileg der Mendikanten (so der lateinische Begriff für Bettelorden) Gebrauch gemacht haben dürfte, die philosophische Grundlagenausbildung in einem der eigenen Ordenshäuser zu absolvieren17 , ist es für das intellektuelle Milieu, in dem er sich nun bewegte, bedeutsam, wie dieser Studiengang – er dauerte etwa neun Jahre – aufgebaut war.18

Neben Aristoteles wurden Werke von Boethius und anderen gelesen. Im Zentrum standen dabei aber die Werke des Stagiriten und hier wiederum die logischen Schriften. Dabei unterschied man zwischen der logica vetus, der alten Logik, und der logica nova, der neuen Logik. Damit war präzise der Weg der zunehmenden Aristoteleskenntnis beschrieben. Die alte Logik umfasste jene Schriften, die bereits im 12. Jahrhundert bekannt gewesen waren. Bestimmend hierfür war die Isagoge des Porphyrios. Dabei handelt es sich um eine Einleitung in die Kategorienschrift des Aristoteles, die der spätantike Neuplatoniker Porphyrios (ca. 233–ca. 305) verfasst hatte und die in gewisser Weise das Universalienproblem präformierte, das später Generationen von Gelehrten beschäftigen sollte. Dazu kam die Kategorienschrift des Aristoteles selbst („Praedicamenta“) und sein Buch über die Interpretation („Perihermeneias“), von Boethius „De divisione“ und dessen Topik sowie der „Liber sex principiorum“, den man seit Albert dem Großen fälschlich Gilbert Porretanus (ca. 1080 – 1154) zuschrieb.19 Die neue Logik umfasste die Topik des Aristoteles, seine beiden Analytiken sowie die „Sophistici elenchi“. Die Bedeutung dieser neuen Logik lag neben der Verfeinerung der Argumentationsform vor allem in den beiden Analytiken, die die komplette Wissenschaftslehre des Aristoteles vor Augen stellten und damit zu einem Werk wurden, das die Grundlagen jeder universitären Disziplin überhaupt betreffen musste; da Ockham von den anderen höheren Fakultäten jedoch kaum etwas mitbekommen haben dürfte, können die medizinische und die beiden juristischen Fakultäten – man konnte in Oxford sowohl Römisches Recht als auch Kirchenrecht studieren – hier übergangen werden.

Wenn ein Student nach absolviertem artes-Studium die Theologische Fakultät besuchte, so dürfte er über die genannten logischen Schriften hinaus auch die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles – insbesondere die Physik und „De anima“ – gekannt haben, zudem die als moralische Schriften zusammengefassten Bücher über die Politik und die Ethik sowie die Metaphysik: Man wurde also mit dem vollen Programm aristotelischer Philosophie konfrontiert, ehe man das erste Mal als Jurist mit Gesetzestexten oder als Theologe mit dogmatischen Inhalten konfrontiert wurde. Das musste für das gesamte weitere Denken des Studenten prägend sein, und eben hierin lag dann auch eines der größten Probleme für die Stellung der Theologie an der Universität. Nolens volens hatte die Theologie sich zunächst einmal an einem Wissenschaftsbegriff messen zu lassen, der wenn nicht unchristlich, so doch zumindest eindeutig vorchristlich war. Die lange Denkschulung durch die aristotelischen Schriften musste Folgen für die Denkstrukturen haben, mit denen dann der biblische Text bearbeitet wurde, auch wenn die Voraussetzung für ein Studium an einer höheren Fakultät nicht zwingend ein volles artes-Studium war. Die acht Jahre, die die Theologische Fakultät voraussetzte20 , dürften für eine gründliche Prägung der Gedanken bei weitem ausreichend gewesen sein. Übrigens besagt diese Voraussetzung natürlich auch etwas über das Alter der Studenten, die ein Theologieprofessor beziehungsweise ein Baccalaureus, der die Sentenzen las, vor sich hatte. Rechnet man mit einem Beginn der Studien der artes im Alter von etwa vierzehn Jahren, so dürfte der Anfänger an der Theologischen Fakultät etwa zweiundzwanzig Jahre alt gewesen sein – wenig jünger als seine Lehrer: Ockham hat seine Sentenzenvorlesung mit etwas dreißig Jahren begonnen.

Das Alltagsleben, dem sich ein solcher Student aussetzte und das mithin auch die Studienjahre Ockhams prägte, war durch die akademischen Zeiten rhythmisiert, und zwar im Blick auf das ganze Jahr wie auf den Tagesablauf. Das Studienjahr unterteilte sich in Trimester. Statuten aus dem Jahr 1333, also etwas nach Ockhams Oxforder Zeit, schrieben vor, dass das erste Trimester vom 10. Oktober bis 17. Dezember dauern solle, das zweite vom 14. Januar bis zum Palmsonntag und das dritte vom zweiten Mittwoch nach Ostern bis Ende Juni oder Anfang Juli.21 Neben den Ferien rund um die großen kirchlichen Feiertage Weihnachten und Ostern fällt die lange Zeit auf, die die Universität im Sommer pausierte. Ihre Einführung – in älteren Regelungen, die noch vier Jahreseinteilungen vorsahen22 , war sie nicht vorgesehen – ging auf die soziale Situation der Oxforder Studenten zurück. Da der Großteil von ihnen wie ja auch Ockham aus ländlichen Familien kam, hatte man hier diese lange Sommerpause eingeführt, die in der Regel von Anfang Juli bis Anfang Oktober dauerte.23 Das gab den Studenten die Gelegenheit, bei der sommerlichen Ernte zu Hause zu helfen – ein Faktum, das über die bloße Tatsache hinaus, dass man sich in diesen Monaten Oxford wohl wie heutige kleine Universitätsstädte in Mitteleuropa einigermaßen verwaist vorstellen muss, bedeutsam ist, zeigt es doch, dass für diese Studenten der Wechsel in die akademische Laufbahn bei weitem nicht in dem Maße wie für Ockham der Wechsel in den Orden die Lösung von den weltlichen Bindungen mit sich gebracht hatte. Mehr als ein Viertel des Jahres kehrten sie in ihre alten Bindungen, Abhängigkeiten und Arbeiten zurück. Das galt natürlich nicht für Ockham selbst, der ja auch außerhalb der akademischen Zeiten an seinen Orden gebunden war, aber es gibt wiederum einen Hinweis auf die Hörerschaft, mit der er es nun in Oxford zu tun hatte. Ihr Leben war von dem seinen stärker unterschieden, als es ein oberflächlicher Blick auf den klerikalen Charakter der mittelalterlichen Universität vermuten ließe. Während er als Franziskaner zu einer neuen quasi-familiären Gemeinschaft, eben dem Orden der minderen Brüder, gekommen war und alle Bindungen zu seiner alten Familie zwar nicht gekappt, aber doch stark reduziert gewesen sein dürften, blieben die jungen Leute, mit denen er es zu tun hatte, als Kinder vom Lande erkennbar und lebten als solche.

Dieser Fortfall der Sommermonate war auch deswegen besonders empfindlich, weil es sich hier um die Zeit handelte, in der die lange Helligkeit besonders viel Zeit für akademische Tätigkeit gegeben hätte. Dies ist ganz wörtlich zu nehmen, da sich die Universität des frühen 14. Jahrhunderts von unserer heutigen durch eine Besonderheit unterscheidet, die in der Betrachtung der mittelalterlichen Universität viel zu selten berücksichtigt wird24: Die Uhren, nach denen der Alltag eingeteilt wurde, waren Sonnenuhren – mechanische Uhren werden in den Oxforder Universitätsstatuten erst im frühen 15. Jahrhundert vorausgesetzt, vermutlich waren sie ab dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts für die Universität in faktischen Gebrauch gekommen25 , also zu einer Zeit, zu der Ockham schon nicht mehr in Oxford war. Man lebte also an den Universitäten ebenso wenig wie im gesamten gesellschaftlichen Umfeld nach einer mechanisch-mathematisch errechneten Zeit regelmäßig gleich langer Stunden, sondern nach einem Zeitrhythmus, der die helle Zeit des Tages in zwölf gleichmäßige Einheiten einteilte, die dann entsprechend im Winter bedeutend kürzer waren als im Sommer. Eine Vorlesungsstunde Anfang Juni dürfte in Oxford etwa doppelt so lang gewesen sein wie eine Anfang Dezember! Das hatte natürlich auch Folgen für die Disposition des Stoffes. Der Anfang einer Vorlesung fiel, wenn sie auf das ganze akademische Jahr konzipiert war, wie es bei den theologischen Sentenzenvorlesungen der Fall war, in den Spätherbst und Winter und damit eben in die Zeit von Oktober bis Dezember, in der besonders wenig Zeit zur Verfügung stand. Der Baccalaureus oder Magister hatte hier die Möglichkeit, den Stoff zu straffen oder eben die Vorlesung von vornherein in Abhängigkeit von den wechselnden Zeiten zu konzipieren. Der Vorlesungsbetrieb und die aus ihm hervorgegangene Literatur sind daher auch unter der Perspektive zu betrachten, dass nicht in jedem Teil der Vorlesung dieselbe Zeit zur Stoffbehandlung zur Verfügung stand. Manche gelehrte Interpretation der Disposition mittelalterlichen Texte wird sich daher wohl auch daraufhin befragen lassen müssen, ob sie nicht letztlich in rein äußerlich bedingte Zufälligkeiten allzu viele Geheimnisse hineinliest.

Doch nicht nur für den akademischen Vorlesungsbetrieb hatten die wechselnden Tageslängen Folgen. Sie beeinflussten zwar die offizielle Zeit des Tages, aber nur begrenzt die faktischen Schlafenszeiten. Das bedeutete für die Studenten auch, dass sich die Anteile von fremdbestimmtem und eigenständigem Studium oder Freizeit zwischen Sommer und Winter ganz erheblich verschoben. Im Winter dürfte zwischen Sonnenuntergang und Schlafenszeit noch einige Gelegenheit zum Eigenstudium – oder eben zum Gespräch in den in Oxford ja durchaus auch vorhandenen Gasthäusern – gewesen sein, während im Sommer der größte Teil der Wachenszeit von Vorlesungen und Disputationen eingenommen wurde.

Das beschriebene artes-Curriculum hat Ockham in Oxford wohl nicht besucht. Wie alle Franziskaner und Dominikaner war er von der Pflicht befreit, vor dem Besuch der Theologischen Fakultät die artes in Oxford zu studieren. So konnte der Orden selbst die Hand über die philosophische Ausbildung seiner Zöglinge halten. Das Niveau der Ausbildung dürfte dabei kaum schlechter als an der Universität gewesen sein. Allein die Tatsache, dass Ockham selbst wahrscheinlich in den frühen Zwanzigerjahren Lehrer der Philosophie am Ordensstudium in London war, zeigt das Niveau, das diese Lehranstalten mittlerweile erreicht hatten. Und seine dortige Tätigkeit zeigt unter anderem, dass der Stundenplan zumindest auch die großen Aristoteles-Vorlesungen vorsah.

Eben hier in London dürfte er selbst als Studienanfänger die acht erforderlichen Jahre des artes-Studiums verbracht haben, ehe er zum Studium der Theologie nach Oxford kam. Ockham kam damit an einen Konvent von ansehnlicher Größe – für das Jahr 1317 sind 84 Mitglieder bezeugt.26 Diese wohnten in einem Klostergebäude außerhalb der Stadt mit den üblichen Elementen: Kreuzgang, Dormitorium, Kapelle und Refektorium. Dieses Gebäude war offenbar als notwendige Erweiterung für das Leben der Brüder entstanden, während das alte Gebäude innerhalb der Stadtmauern, aber in unmittelbarer Nähe zu dem neuen Konvent nun ganz dem Studienbetrieb überlassen worden war. Hier fand man die Hörsäle, vermutlich ein scriptorium und auch die Bibliothek.27 Diese dürfte reichhaltig gewesen sein, da man vermuten kann, dass Robert Grosseteste einen großen Teil seiner Bibliothek dem Konvent von Oxford vermacht hatte.28

Dass Ockham von London nach Oxford, also an eine englische Universität, ging, war durchaus nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Anblick scheinen mag. Es entsprach vielmehr einem sich gerade erst etablierenden Trend. Bislang hatten die Franziskaner ihren Nachwuchs zum Theologiestudium üblicherweise nach Paris geschickt29; dieser Austausch spiegelte die alten kulturellen Verbindungen zwischen der normannischen Oberschicht und dem Festland, aber auch die enge Verbindung, die England mit großen Teilen Frankreichs im Angevinischen Reich Heinrichs II. (1154 – 1189) eingegangen war, wider. Freilich war diese Sitte offenbar um einiges hartnäckiger als die politischen Verbindungen, auf die sie zurückging.

Die langjährige Pariser Dominanz im universitären Milieu, insbesondere im Bereich der artes und der Theologie, hatte manifeste Folgen gezeitigt. In Oxford hatte man im Grunde an von Paris bestimmten Debatten, etwa um das Erbe des Thomas von Aquin oder an dem im folgenden Kapitel noch ausführlicher zu behandelnden Streit um den konsequenten Aristotelismus, teilgenommen und allenfalls einen eigenen Ton in die Debatte gebracht, diesen aber nicht deutlich und wirkungsvoll artikuliert.30 Ab dem zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts aber – Ockham gehört selbst zu den Denkern, mit denen dieser Wechsel verbunden wird – änderten sich Qualität und vor allem Originalität der theologischen Lehre in Oxford. Und dies hängt mit der zwar beschreibbaren, im Einzelnen aber schwer erklärlichen Entscheidung der Franziskaner zusammen, ihren besten Nachwuchs nicht mehr auf den Kontinent zu schicken, sondern hauptsächlich nach Oxford. Hier findet sich nun mit einem Mal eine ganze Reihe von Nachwuchstheologen, die mit bemerkenswerten Aussagen auf sich aufmerksam machen und gewissermaßen eine neue theologische Generation bilden.31 Neben Ockham sind Johannes von Reading (ca. 1285 – 1346), Walter von Chatton und Johannes von Rodington († 1348) zu nennen, in der nachfolgenden Generation Robert Holcot (ca. 1290 – 1349), Adam von Wodeham und Thomas Bradwardine (ca. 1290 – 1349), der sich mit einer Schärfe gegen den Pelagianismus – d. h. die Lehre, nach der es keine Erbsünde gebe und der zufolge der Mensch aus eigener Kraft imstande sei, das Heil zu erlangen – seiner zeitgenössischen Theologen wandte, die dem späteren Reformator Martin Luther in mancher Hinsicht präludierte.

Zu dieser Lösung von Paris mag beigetragen haben, dass man sich im Vorfeld des Hundertjährigen Krieges zwischen Frankreich und England befand. Da mag schon in der Mentalität der Menschen manches vorweggenommen worden sein – jedenfalls ist das intellektuelle Milieu nicht der einzige Bereich, in dem sich solche Befreiung aus der kulturellen Pariser Hegemonie beobachten lässt. William J. Courtenay hat jedenfalls auf ähnliche Entwicklungen in der Architektur hingewiesen.32 Gleichwohl steht eine befriedigende Erklärung für das Gesamtphänomen noch aus. Für die Theologie wird man aber vielleicht auch in Anschlag bringen dürfen, dass die intellektuellen Diskurse in Oxford, bis hin zu Wilhelm von Ockham, von einem Mann bestimmt wurden, der zwar Magister der Pariser Universität war, der aber seinerseits von der Insel stammte und immerhin dreizehn Jahre – von 1288 bis 1301 – in Oxford studiert33 und hier auch seine Sentenzenvorlesung gehalten hatte: Johannes Duns Scotus (1265 / 6 – 1308), dessen Beiname auf seine schottische Herkunft verweist. Die Nähe Ockhams zu Duns Scotus und die Intensität der Auseinandersetzung haben früher zu der Vermutung geführt, Ockham habe bei Duns Scotus studiert, sei also als dessen direkter Schüler anzusehen. Das ist zweifellos nicht der Fall, aber das Denken des Duns Scotus hat – gerade durch den Austausch zwischen Paris und Oxford – so viele Franziskanertheologen in Oxford geprägt, dass auch Ockhams eigenes Denken sich – in Anknüpfung wie Korrektur – über weite Strecken als eine Auseinandersetzung mit diesem „Doctor Subtilis“ gestalten musste.

Wilhelm von Ockham

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